Hobbes in Seoul

Gigi Roggero

Es ist kein Zufall, dass Südkorea der Schauplatz von Squid Game ist, einer Fernsehserie, die keiner Einführung bedarf. Als Vorposten des Westens, der technologischen Beschleunigung und des Turbokapitalismus steht das Land in Sachen Verschuldung und Selbstmord ganz oben. Und gerade die Verschuldeten sind die Protagonisten, die wie in einem unverhüllten Naturzustand kindische Spiele spielen müssen, um zu überleben und ihren Gläubigern zu entkommen. Gigi Roggero bietet uns weniger eine Rezension als vielmehr eine Reflexion darüber, warum Squid Game über uns, mit uns und durch uns spricht.

Machina

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Wer weiß, ob sich der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol am späten Abend des 3. Dezember bei der Verhängung des Kriegsrechts von Squid Game, einer der beliebtesten Fernsehserien der Welt, beeinflussen ließ. Für Netflix ist dies ein weiterer Publicity-Gag, der beweist, dass in der heutigen Gesellschaft nicht klar ist, ob die Fiktion die Realität imitiert oder umgekehrt. Nicht, dass Squid Game Werbung gebraucht hätte, und sicherlich ist der groteske Yoon Suk-yeol ein blasses Double für die weitaus ernsthafteren Charaktere von Squid Game.

Denn ob Kriegsrecht oder nicht, es ist kein Zufall, dass Südkorea Schauplatz der Fernsehserie ist. Als Vorposten des Westens, der technologischen Beschleunigung und des Turbokapitalismus belegt das Land die allerersten Plätze in der Rangliste der Verschuldung und der Selbstmorde. Eine wenig beneidenswerte Bilanz, könnte man sagen. Und doch sind Verschuldung und Selbstmorde im Beschleunigungskapitalismus keine Begleiterscheinungen, sondern wesentliche Elemente. Hyperverschuldung und Hyperdepression: Im Spiel des Kapitals bleibt keine Zeit, auf die Besiegten, die Verlierer zu warten. “Abfall“, wie sie im Squid Game genannt werden. Deshalb haben wir es hier mit einer schrecklichen und deshalb äußerst realistischen Fernsehserie zu tun. Es geht nicht um Dystopien oder Utopien, um Pessimismus oder Optimismus. Squid Game ist Phantarealismus, in bester Tradition von Dick bis Ballard über Cyberpunk.

Die Protagonisten des Spiels sind die Verschuldeten. Einige haben sich für unternehmerische Projekte verschuldet und andere, um über die Runden zu kommen, einige, um in Kryptowährungen zu investieren und andere, um medizinische Behandlungen zu bezahlen, einige, die von der Finanzwelt ruiniert wurden und andere, weil sie auf Pferde gewettet haben. Es spielt kaum eine Rolle, warum, sie alle sind einsame Individuen, die in den Naturzustand zurückgeworfen wurden. Zurück in die Kindheit der Moderne, folgen körperliche Eliminierungen im Rhythmus von Kinderspielen und Musik aufeinander. Mors tua vita mea, jeder ausgeschiedene Kandidat erhöht das Preisgeld.

Was gibt es da zu staunen? Funktionieren so nicht der Markt und die Finanzen? Das Blut ist hier eindeutig, der Tod sichtbar, unmittelbar. Die Gewalttätigkeit der Gesellschaft, in der wir leben, wird uns vor Augen geführt, und allein deshalb erschreckt sie uns. Es ist besser, sie zu verbergen, sie in der privaten Dunkelheit von Selbstmorden und psychiatrischen Behandlungen zu belassen.

OK, aber da werden die Spieler ihrer Freiheit beraubt! – wird sich der aufmerksame Betrachter an dieser Stelle ärgern. Auch hier sind wir anderer Meinung. Die Spieler üben ständig die wichtigste Freiheit aus, die von der westlichen Zivilisation gepriesen wird, nämlich die Freiheit der Wahl. Sie entscheiden sich frei, am Spiel teilzunehmen, und sie entscheiden sich frei, es fortzusetzen. Die Insel des Tintenfischspiels ist formell und inhaltlich ein demokratisches System. Die Abstimmungen sind fair, die Mehrheit gewinnt und die Minderheit kann ihr Recht auf Kritik wahrnehmen. In der zweiten Staffel sehen wir hitzige Debatten über Abstimmungen, die sicherlich nicht hitziger sind als die Wahlkämpfe, die wir gewohnt sind. Kurzum, die Meinungsfreiheit ist unantastbar, was soll’s! Um dies zu beweisen, stimmen der Erfinder und der Frontmann wiederholt dafür, aus dem Spiel auszusteigen und die Entscheidung der Mehrheit zu überlassen. Sie tun dies, weil sie, nachdem sie Hobbes studiert haben, wissen, dass die Mehrheit, d. h. die massenhaften und verschuldeten Individuen, den Pakt mit dem Leviathan wählen werden. Um den Preis, dass sie ihr eigenes Leben riskieren, und noch eher bereit sind, ihre Schulden mit dem Leben Anderer zu tilgen. Selbst wenn diese Anderen Freunde oder Familienmitglieder sind. Nein, der Mensch war noch nie gut.

Eine Freiheit, die auf Erpressung beruht, versteht sich. Außerhalb der Insel ist das Leben für die Verschuldeten genauso beschissen. Aber ist diese ursprüngliche Erpressung nicht die Grundlage des freien kapitalistischen Vertrags, des Pakts zwischen Herren und Arbeitern? Warum sollte man sich dafür entscheiden, ausgebeutet zu werden, wenn die Alternative nicht darin besteht, vor Entbehrung zu sterben? Die Freiheit im Kapitalismus ist immer relativ, d.h. mystifiziert. Der Kapitalismus hat die Freiheit und mit ihr den Menschen neu definiert. Bedeutete Freiheit für die Alten radikale Offenheit für jede Möglichkeit, ob schrecklich oder wünschenswert, so ist sie im Kapital ein Spiel, das die Möglichkeit ausschließt, dass das Spiel selbst endet. Hier ist das Feld der freien Phantasie des homo oeconomicus. Aus dieser Perspektive ist der Frontmann der erfolgreiche Manager, der Selbst-Unternehmer, der es geschafft hat, die andere Seite des Psychiaters.

Wenn dann der freie demokratische Wettbewerb gefährdet ist, wenn jemand die Spielregeln unterlaufen will, erscheinen bewaffnete Wächter mit Masken in Form eines Kreuzes, eines Kreises und eines Quadrats. Hinter diesen Masken verbergen sich jedoch die gleichen Lebensformen wie bei den Trägern der nummerierten grünen Overalls. Geschichten von Scheitern und Schulden, die Hoffnung auf individuelle Erlösung. Doch solange man eine individuelle Masse bleibt, eine unbedeutende Nummer auf einer Uniform, die für alle gleich ist, wird niemand gerettet. Der Spieler der Nummer 456, Seong Gi-hun, scheint dies erkannt zu haben, denn er versucht, den Krieg zwischen den Armen zu unterbrechen, um dem Naturzustand gemeinsam zu entkommen. Traumatisiert von seinem Sieg in der ersten Staffel, tritt er in der zweiten Staffel erneut in das Spiel ein, um es zu beenden: zunächst versucht er es mit demokratischen Mitteln, wobei er mit der harten anthropologischen Prophezeiung des Malmesbury-Monsters kollidiert; dann organisiert er eine bewaffnete Vorhut, wobei er sich selbst vor der Unmöglichkeit eines symmetrischen Zusammenstoßes mit den Meistern des Spiels stoppt.

Und nun, was ist zu tun? Wie kann man das Tintenfischspiel stoppen? Die zweite Staffel endet ohne Ende. Cliffhanger, sagt man in der globalen Neo-Sprache. Und doch ist die Geschichte nicht zu Ende. Was, Fukuyamas Verdienst, keine Kleinigkeit ist. Eines ist sicher: Beim Squid Game kann man nicht einfach wegschauen, sondern muss mitmachen. Denjenigen, die sagen, der Film sei in seiner Gewalttätigkeit unerträglich, raten wir, sich umzusehen. Die Gewalt findet in der Realität statt, nicht in einer Fernsehserie, die sie darstellt. Das ist die grausame Gesellschaft, in der wir leben, wunderbar. So sehr, dass sich in dieser Fernsehserie wie in einem Spiegel jeder einzelne von uns, die Masse, widerspiegelt. Sie spiegelt sich selbst, ohne zu spiegeln, daher ihr Erfolg in der Fähigkeit, die Realität zu beschreiben, und das Fehlen der Fähigkeit, sie aufzuheben.

Und so, lieber abgelenkter Zuschauer, müssen Sie dieses Mal dem Monster ins Gesicht sehen. Denn das Monster ist in Ihnen. Denn das Monster sind Sie.


Erschienen im italienischen Original am 2. Juli 2025 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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