Jüdischer Anarchismus

Shane Burley führte ein Interview mit Anna Elena Torres und Kenyon Zimmer, das hier als gekürzte Fassung eines längeren Interviews aus der Episode Juli 2023 des Podcasts (hier im Original anhören) ‘Strangers in a Tangled Wilderness’ präsentiert wird. Die Diskussion bezieht sich stark auf das Buch ‘With Freedom in Our Ears: Histories of Jewish Anarchism’, herausgegeben von Anna Elena Torres und Kenyon Zimmer.

Shane: Seit etwa 2019 höre ich immer mehr von Leuten, die sich nicht nur als jüdisch bezeichnen, sondern sich selbst als spezifisch jüdische Anarchisten bezeichnen. Das scheint Teil einer Welle des Interesses an der historischen Beziehung zwischen Anarchisten und Juden zu sein, insbesondere in den USA unter den Immigrantengemeinschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese jüdischen Radikalen waren unglaublich einflussreich beim Aufbau der Arbeiterbewegung und der Linken im Allgemeinen, aber es sind dieselben Anarchisten, die in der Geschichtsschreibung oft völlig ausgeblendet werden. Während also die jüdische Beteiligung an Organisationen wie der Kommunistischen Partei gut dokumentiert ist, so waren sie auch ein wichtiger Schwerpunkt rechter Verschwörungstheorien. Der starke Einfluss jüdischer Anarchisten auf diese Historie wird oft ausgeblendet. Kürzlich hat ‘Verso’ ein inzwischen klassisches Buch mit dem Titel ‘Yiddishland’ über die Rolle jiddischsprachiger Juden in der Linken neu aufgelegt. Der anarchistische Zusammenhang ‘CrimethInc’ veröffentlichte daraufhin eine Rezension, in der er feststellte, dass sein Exemplar fehlerhaft war – das Buch erwähnte keine Anarchisten. In den letzten Jahren sind also eine Reihe von Organisationen entstanden, die diese Idee des jüdischen Anarchismus in einem wirklich organisierten Sinne wiederbelebt haben. Es gibt jüdisch-anarchistische Diskussionsgruppen auf Plattformen wie Discord und Signal. Es gibt radikale jüdische Kollektive wie „Rebellious Anarchist Young Jews“ und das „Fayer Collective“, das die Leute wahrscheinlich kennen, weil sie kürzlich einen Artikel über direkte Aktionen und die Bewegung „Stop Cop City“ vor den Toren Atlantas geschrieben haben, der in „Jewish Currents“ veröffentlicht wurde. Das Jiddische selbst erlebt unter Anarchisten und Radikalen ein Revival, und das gibt vielen Leuten die Möglichkeit, alte Dokumente der jüdischen Geschichte zu lesen, die lange Zeit übersehen oder nicht übersetzt wurden. 

Die aktuelle Welle des jüdischen Anarchismus hat auch einige Wegmarken auf dem Weg dorthin gesetzt. In letzter Zeit haben einige große Veranstaltungen und Bücher das Interesse der Menschen geweckt, wie die Jiddische Anarchisten-Konferenz, die 2019 vom YIVO-Institut ausgerichtet wurde, und auch neuere Bücher wie Cindy Milsteins ‘There’s Nothing So Whole as a Broken Heart’ oder Hayyim Rothmans ‘No Masters but God’ stießen auf großes Interesse. Und es gab auch gerade eine Diskussion darüber, dass dies in Zusammenhang mit dem Wachstum der jüdischen Linken in den USA mit Projekten wie Jewish Currents und jüdischen antizionistischen Gruppen geschieht. All das zeigt, dass ein kultureller Wandel im Gange ist und dass die Menschen versuchen, etwas wieder aufzubauen, das sie als spezifisch jüdischen Anarchismus betrachten. Dafür scheint es eine Reihe von Gründen zu geben. Junge Juden wollen aktiv am jüdischen Leben teilnehmen, fühlen sich aber von der vorherrschenden Welt der NGOs und modernen Synagogen nicht vertreten. Sie wollen oft, dass das Judentum ihre Politik außerhalb der Welt des Zionismus beeinflusst, und sie entdecken auch die Tiefe der jüdischen Tradition wieder, um die Welt neu zu gestalten. Es gibt also durchaus Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie wir über den historischen jüdischen Anarchismus sprechen, und der Art und Weise, wie viele Leute ihn heute wiederbeleben. Es gibt zum Beispiel einen sehr starken Fokus auf jüdisches religiöses Leben und jüdische Rituale und eine Art Hinwendung zu chassidischen und spirituellen oder philosophischen Quellen, um sie für radikale Politik zu nutzen. Damit stehen wir aber immer noch am Anfang der langen Geschichte des jüdischen Anarchismus in den USA und der ganzen Welt. Und so tauchen einige radikale HistorikerInnen in weitgehend unübersetzte Archive ein, um zu versuchen, diese Geschichte für eine ganz neue Generation von Menschen zugänglich zu machen. Das bringt uns zurück zu dem Buch, über das wir hier sprechen: ‘With Freedom in Our Ears: Histories of Jewish Anarchism’, eine Anthologie von Schriften und wissenschaftlichen Arbeiten über die Geschichte des jüdischen Anarchismus, die sich speziell darauf konzentriert, wie anarchistische Veröffentlichungen, Übersetzungen und transkulturelle Organisierung zum Aufbau einer einzigartigen revolutionären Bewegung beigetragen haben. Das Buch wird von zwei der wichtigsten Historiker herausgegeben, die sich mit dieser Arbeit befassen: Anna Elena Torres und Kenyon Zimmer.

Ich habe mich sehr gefreut, die beiden Herausgeber des Buches über diese Geschichte zu befragen und darüber, welche Lehren sich daraus für die Zukunft des Anarchismus und des jüdischen Gemeindelebens ergeben. Ich bin neugierig darauf, wie Sie beide dazu gekommen sind, über jüdisches Leben zu sprechen oder sich für jüdisches Leben zu engagieren, und auch auf Ihre Geschichte mit dem Anarchismus.

Anna: Ich bin in der Bronx aufgewachsen, in den ‘Amalgamated Cooperatives’, die als Gewerkschaftswohnungen von der ‘Amalgamated Clothing Workers of America‘ gebaut wurden. Amalgamated, wo ich aufwuchs, war eine von drei sogenannten ‘Bronx Utopias’. Dabei handelte es sich um Wohnexperimente, die von sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Ideen geprägt waren und hauptsächlich von russischen Juden errichtet wurden, die in den 1920er Jahren nach New York City kamen. Im Rahmen von Amalgamated gab es eine Reihe von Projekten der gegenseitigen Hilfe, die während der Großen Depression alle Zwangsräumungen verhinderten. Es gab ein Bussystem, mit dem die Arbeiter von der Bronx zu den Bekleidungsfabriken in der Lower East Side fahren konnten. Es gab ein kostenloses Milchprogramm für Kinder. Es gab eine Bibliothek. Es gab ein Theater. Diese Einrichtungen waren quasi in die Infrastruktur der Gewerkschaftshäuser integriert. Dort bin ich also aufgewachsen, und die Menschen um mich herum waren größtenteils im Alter meiner Großeltern. Und viele von ihnen waren sowjetische Dissidenten. Die Art und Weise, wie sie sozialistische und anarchistische Ideale tagtäglich praktizierten, war sehr selbstverständlich, und es gab auch ein Gespür für eine tiefere Geschichte in dieser Gemeinschaft in der Bronx.

Ich bin außerdem in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde aufgewachsen, so dass ich diese sehr umfassende Vorstellung von jüdischer Gemeinschaft hatte, bei der man auf dem Papier denken könnte: „Okay, wie kann es sein, dass du Schabbat hältst und koscher lebst und gleichzeitig in einem sozialistischen Raum lebst? Es mag widersprüchlich erscheinen, wenn man diese Formationen nur auf dem Papier betrachtet, aber in der Praxis fühlte es sich einfach wie eine sehr expansive Art an, sich zum Judentum zu verhalten, Teil mehrerer Gemeinschaften zu sein. Einige der Praktiken, mit denen ich aufgewachsen bin, wie z. B. koscher zu leben (und jetzt vegan zu sein), haben zusätzliche Bedeutungen bekommen. Oder das Einhalten des Schabbats, mit dem ich aufgewachsen bin: Das habe ich beibehalten, aber auch neu definiert, als Widerstand gegen die totalisierende Wirkung des Arbeitslebens! Es gibt Kontinuitäten, obwohl man diese Aspekte auch als widersprüchlich ansehen könnte. Ich denke, es sind tatsächlich diese Resonanzen und Kontinuitäten und die Art und Weise, in der diese Formen des Jüdischseins ineinander übergehen können, und beide haben für mich eine anarchistische Dimension.

Shane: Kenyon, ich glaube, Du kommst aus einem etwas anderen Umfeld. Wie bist Du dazu gekommen, den Anarchismus zu studieren und wie bist Du dazu gekommen, ein Historiker des jüdischen Lebens zu werden?

Kenyon: Ich bin im ländlichen Nordkalifornien aufgewachsen. Ich habe keine jüdischen Vorfahren, von denen ich wüsste. Ich wuchs in einer nicht-religiösen Familie auf. Während meines Studiums Anfang der 2000er Jahre geriet ich in den Bannkreis der so genannten Antiglobalisierungsbewegung und lernte dadurch anarchistische Politik und Aktivismus kennen. Gleichzeitig bewegte ich mich als Student mehr und mehr in Richtung eines akademischen Historikers, und die beiden Interessen schienen sich auf natürliche Weise zu überschneiden, als ich mich für den Anarchismus in der damaligen Gegenwart und seine historischen Wurzeln interessierte. Bei der Erforschung der Geschichte des Anarchismus in den Vereinigten Staaten wurde mir sehr schnell klar, dass es einige große Lücken in den historischen Aufzeichnungen gab. Eine davon war die gesamte Geschichte der jiddischsprachigen Anarchisten in den Vereinigten Staaten, über die zu diesem Zeitpunkt praktisch nichts veröffentlicht worden war. So kam es, dass ich mich mit dieser Geschichte beschäftigte. Während meines Studiums lernte ich dann Jiddisch zu lesen, um einen Teil dieser Forschung betreiben zu können, denn niemand sonst hatte das getan. Ich hatte das Gefühl, dass ich für alles, was mich sonst noch interessierte, zuerst einige dieser Grundlagen haben musste. Schließlich schrieb ich meine Doktorarbeit und mein erstes Buch über jiddisch- und italienischsprachige Anarchisten in den USA, und von da an hat sich alles mehr oder weniger verselbständigt.

Anna: Ich denke, es ist erwähnenswert, dass Kenyon und ich in unterschiedlichen Bereichen arbeiten, in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der vergleichenden Literaturwissenschaft. Aber wir haben uns beide mit der tiefgreifenden Auslöschung des jüdischen Anarchismus in unseren jeweiligen Bereichen befasst. Eine der Hoffnungen für das Buch war es, gemeinsam eine interdisziplinäre Antwort auf die mehrfache Abwesenheit und die mehrfache Auslöschung in verschiedenen Bereichen zu schaffen.

Shane: In dem Buch geht es wirklich darum, wie viele dieser Politiken mit dem Alltagsleben der Menschen interagierten, und zwar nicht losgelöst, nicht einmal notwendigerweise subkulturell, sondern etwas, das an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Gemeinschaften tatsächlich wirksam war. Welche Rolle spielte der Anarchismus deiner Meinung nach im jüdischen Alltagsleben? Ist er etwas, das vielen Gemeinden fremd war, oder glaubst du, dass viele jüdische Gemeinden, Juden aus der Arbeiterklasse und Einwanderer eine Beziehung dazu hatten, etwas darüber wussten oder dass er ihre Lebenswelt beeinflusst hat?

Kenyon: Ja, ich denke, ein Teil dessen, was an der von Anna erwähnten historischen Ausradierung so verblüffend ist, ist, dass man im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert praktisch überall Jiddisch sprechende Juden fand, und dass der Anarchismus ein institutionalisierter Teil des täglichen Lebens war. Anarchisten waren Führer, Organisatoren und Mitglieder der überwiegend jüdischen Gewerkschaften. Sie gaben Zeitungen wie die ‘New Yorker Fraye Arbeter Shtime’, die Freie Stimme der Arbeit, heraus, die nicht nur eine wichtige anarchistische Zeitung war, sondern auch ein wichtiges Tribunal für jiddische Poesie, Literatur und Kulturkritik, das von jiddischen Lesern vieler verschiedener politischer Überzeugungen gelesen und ernst genommen wurde. Und jiddische, anarchistische Intellektuelle waren in allen möglichen Bereichen einflussreich und geachtet, von Ärzten bis hin zu Übersetzern, Dramatikern, Soziologen, Kulturkritikern und Dichtern. Also ja, für die meisten – in diesem Fall vor allem für die jiddischsprachige jüdische Welt – war der Anarchismus eine ziemlich allgegenwärtige Präsenz.

Shane: Ich bin auch neugierig auf die Kehrseite der Medaille, nämlich die Rolle des Judentums im Leben der Radikalen. In dem Buch wird eine gewisse Ambivalenz zwischen jüdischen Radikalen und dem religiösen Leben deutlich. Vielleicht kamen sie aus religiösen Gemeinschaften, die sie als einschränkend empfanden, aber sie waren auch Teil einer radikalen Politik, die den religiösen Gemeinschaften gegenüber kritisch eingestellt war. Ich glaube, das ist etwas ganz anderes, wenn man heute über jüdischen Anarchismus spricht, wo es viel mehr eine Wiederentdeckung der jüdischen Tradition gibt. Welches Verhältnis hatten Euer Meinung nach die jüdischen Anarchisten zum Judentum? Unterscheidet es sich von dem, was wir heute unter jüdischer Praxis verstehen?

Anna: Ich denke, man kann durchaus sagen, dass man manche historischen Texte sehr detailliert lesen sollte, um herauszufinden, wie eine bestimmte Figur ein Vokabular aus dem jüdischen religiösen Kontext verwendet. Und sie signifizieren es neu, oder sie erfinden es neu, oder sie benutzen es für ein neues, radikales Ziel. Gleichzeitig geht dies einher mit einer Ablehnung des religiösen Patriarchats, des Rabbinats und der religiösen Macht. Es gibt diese vielfältigen Aspekte. Ein sehr bekanntes Phänomen sind die Jom-Kippur-Bälle, die in vielen Gegenden stattfanden. Dabei handelte es sich um spektakuläre Proteste vor den Synagogen an Jom Kippur. Die Menschen verkleideten sich und tanzten, spielten Musik und aßen demonstrativ Schinkenbrote. Dazu wurden auch Texte verfasst, die hebräische religiöse Texte parodieren sollten. Aber um eine Parodie auf religiöse Texte zu schreiben, muss man den Text natürlich sehr gut kennen.

Auch aus sprachlicher oder literarischer Sicht kann man sehen, wie die jüdische Tradition mit einer Art radikalem Blick neu erfunden wurde. Anna Margolin zum Beispiel, eine jiddische Schriftstellerin der Moderne, beschrieb sich selbst in einem Brief, in dem sie sagte: „Ich war immer eine Anarchistin. Ich war nie in der Lage, Atheistin zu sein. In Zeiten der Not habe ich sogar mit Gott gesprochen und ihm die Hölle heiß gemacht.“ Und das ist eine Möglichkeit, den psychologischen Spagat zu modellieren, mit einem religiösen Hintergrund aufzuwachsen und ihn dann in gewisser Weise in Richtung Anarchismus neu zu erfinden.

Kenyon kann auch mehr über die breitere Art und Weise berichten, in der die Anti-Religiosität mobilisiert wurde, insbesondere die Kritik am religiösen Patriarchat und die Vorstellungen von Jüdischsein als Auserwähltsein oder Separatismus. Das ist eine der Spannungen des jüdischen Anarchismus, würde ich sagen.

Kenyon: Ja. Ich denke, im Großen und Ganzen hätte sich zumindest die große Mehrheit dieser jüdischen Anarchisten als militante Atheisten betrachtet, auch wenn sie sich auf Vokabular, Symbole und sogar Konzepte aus der jüdischen religiösen Tradition stützten. Das war die Sprache und die Konstellation von Konzepten und Symbolen, die ihnen zur Verfügung standen und die sie für ein jüdisches Publikum verständlich machen würden. Und natürlich gab es immer Ausnahmen. Es gab Leute wie den russisch-jüdischen Anarchisten Abba Gordin, die ganz explizit versuchten, das Judentum mit ihrem Anarchismus zu verbinden – in einigen Fällen behaupteten sie sogar, das Judentum sei in seinem Kern eine anarchistische Religion. Diese Überzeugungen fanden eher am Rande der Bewegung statt. Ich denke, wie Du schon sagtest, Shane, das ist ein ganz anderer Kontext und eine ganz andere Auffassung von Religion, als wir sie heute in vielen Fällen sehen, wo es viel mehr Offenheit für religiöse und spirituelle Rituale gibt, wenn nicht sogar den Glauben an die Schaffung und Aufrechterhaltung einer eigenen, aber radikalen jüdischen Identität.

Shane: Ich bin neugierig auf die Rolle, die das Jiddische gespielt hat. Jiddisch scheint auch eine Art identitätsstiftende Eigenschaft gehabt zu haben. Wenn wir uns von den strengen religiösen Traditionen lösen, dann könnte der säkulare Weg für Ausdruck und Gemeinschaftsbildung in einigen Gemeinschaften auf dem Jiddischen aufgebaut werden. Welche Rolle spielten jiddische Publikationen beim Aufbau dieses Gemeinschaftsgefühls unter Juden und Nicht-Juden?

Kenyon: Das ist eine vielschichtige Frage, und zum Teil hängt es davon ab, über wen, wo und wann wir sprechen. Für jiddischsprachige jüdische Anarchisten waren jiddische Publikationen natürlich unglaublich wichtig. Obwohl man in vielerlei Hinsicht Parallelen zu anderen Sprachgruppen finden kann, wo die anarchistische Presse zu jener Zeit die Funktionen von Zeitungen, von dem, was wir heute als soziale Medien bezeichnen würden, und von anderen kulturpolitischen Medien kombinierte. Es handelte sich um länderübergreifend verbreitete Zeitschriften, die nicht nur über Ereignisse aus anarchistischer Sicht berichteten, sondern auch als Orte der Kommunikation zwischen Einzelpersonen und Organisationen dienten. Sie waren die Hauptzentren, über die die Finanzierung lief, sei es die Finanzierung der Zeitung, die Finanzierung der Verteidigung bei Gerichtsprozessen oder die Finanzierung des Spanischen Bürgerkriegs, die in erster Linie über Publikationen organisiert wurde. Debatten zwischen verschiedenen Fraktionen, verschiedenen Personen, wurden vor allem auf der schriftlichen Ebene ausgetragen. Es gab eine kulturelle Verbreitung von Literatur, Theaterstücken und Kulturkritik, aber auch, und das ist wichtig, Übersetzungen von nicht-jiddischen Texten ins Jiddische. All das war von großer Bedeutung. Aber es gibt auch andere Bereiche dieser historischen jüdisch-anarchistischen Bevölkerung, die entweder kein Jiddisch sprachen oder es vorzogen, andere Sprachen zu verwenden. Emma Goldman veröffentlichte ‘Mother Earth’ auf Englisch.  Obwohl sie die ‘Fraye Arbeter Shtime’ las, schrieb sie fast nie auf Jiddisch. Das Gleiche gilt für Alexander Berkman, der die englischsprachige Zeitung ‘The Blast’ herausgab. Das waren Publikationen, die sich an ein ganz anderes Publikum richteten – nicht an ein spezifisch jüdisches Publikum, sondern an ein allgemeineres amerikanisches Publikum.

Shane: Eine Sache, die irgendwie interessant war, und das trifft auf eine Reihe von Beiträgen der verschiedenen Wissenschaftler zu, ist das diskussionsartige Element der Veröffentlichung, das den fehlenden Konsens in vielen sehr ernsten Fragen unter ihnen hervorhebt. Welches sind einige der wichtigsten Themen, die in den anarchistischen Publikationen derzeit diskutiert werden? Es gibt die Rolle der großen Gewerkschaften und der revolutionären Gewerkschaften, es gibt die Enteignung, es gibt ein ganzes Kapitel in dem Buch, das die Debatten um die Enteignung und den Diebstahl von Ressourcen von Rebellen für revolutionäre Bewegungen diskutiert, und auch die Sexualpolitik. Was waren für Euch einige der wichtigsten Debatten, die geführt wurden?

Kenyon: Viele von ihnen hatten, wenn man sie zusammenfasst, mit der Frage zu tun: „Was bedeutet es, gleichzeitig Jude und Internationalist zu sein?“ Dies war verbunden mit der Frage: „Wie reagierst du auf den Zionismus?“ Oder: „Wie reagierst du auf diese andere jüdische territoriale Bewegung, die ihren eigenen sozialistischen oder sogar anarchistischen Flügel hat?“ „Was bedeutet das für die Sprache?“ Bedeutet es, dass es, wenn man ein Internationalist ist – und besonders, wenn man in den Vereinigten Staaten lebt – und Klassensolidarität unter der gesamten Arbeiterklasse zeigen und fördern will, sinnvoller ist, zum Englischen überzugehen, oder sowohl Englisch als auch Jiddisch zu benutzen, oder sich auf Jiddisch zu konzentrieren und der Organisierung unter der jüdischen Arbeiterklasse Vorrang zu geben, zumindest auf kurze Sicht? Und doch sind dies Fragen, die explizit und implizit über ein paar Generationen von Anarchisten diskutiert werden. Das ist sozusagen eine Kategorie.

Eine andere ist die taktische. Du hast das Kapitel über Enteignungen erwähnt, und es gab Debatten über die Rolle der revolutionären Gewalt, wie auch immer man das definieren mag. Weisst du, es gibt eine frühe Phase der Bewunderung für die Propaganda der Tat. Dann, zumindest in jüdischen Kreisen, wird das weitgehend – aber nicht vollständig – unter der Vorliebe für Dinge wie Syndikalismus oder Bildung subsumiert.

Ich denke, es gibt noch eine dritte Kategorie von Argumenten, die sich um die Frage drehen: „Wie politisch ist das Persönliche genau?“ Sind Geschlechterrollen, Patriarchat, Sexualität, ethnische Identität usw. für das Judentum und die jüdische Identität eher sekundäre oder periphere Themen, oder sind sie zentral? Es ist eine moderne Debatte über Intersektionalität im Gegensatz zum Primat von Klasse, Ethnizität oder ‘race’ bei der Konzeptualisierung des anarchistischen Kampfes und anarchistischer Ziele.

Shane: Das scheinen auch immerwährende Debatten zu sein. Ich meine, die kommen mir so bekannt vor aus politischen Debatten. Es sind immer wieder dieselben Diskussionen um die eigene Identität und den Internationalismus, die Rolle der persönlichen und zwischenmenschlichen Politik, insbesondere die Rolle von Gewalt oder Enteignung im Gegensatz zu, wie du sagtest, dem eher syndikalistischen Ansatz zur Organisierung der Arbeitsplätze.

Kenyon: Ja, und diese Debatten können auch je nach Ort radikal anders aussehen, oder es sind sogar dieselben Leute, die über Kämpfe an verschiedenen Orten sprechen. Wenn man sich zum Beispiel die ‘Fraye Arbeter Shtime’ anschaut – deren redaktionelle Linie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Propaganda der Tat weit entfernt hat und eher einem  progressivistischen Ansatz folgt -, dann steht sie, als 1905 in Russland eine Revolution ausbricht, zu 100 % hinter den bewaffneten Revolutionen und den Enteignern der russischen Revolution von 1905, weil es ein ganz anderer Kontext ist. Es geht also weniger um ein ethisches Urteil als vielmehr darum, was in diesen unterschiedlichen Kontexten taktisch sinnvoll ist.

Anna: Wir haben über den Inhalt der Zeitungen gesprochen, aber ich möchte auch etwas über das Aussehen der Zeitungen sagen. Ihr Layout entsprach der Ästhetik der jeweiligen Zeit. Wenn Du Dir unter dem Begriff „anarchistische Zeitung“ ein Zine vorstellst, das bei Kinkos veröffentlicht wird, möchte ich, dass Du Dir die Titelseiten vorstellst, zum Beispiel mit Frauen in Togas, die Banner mit den Namen der Zeitungen hochhalten, oder mit Motiven des Märtyrertums, wie rund um Haymarket, oder mit kosmischen Bestrebungen des Anarchismus. Optisch waren sie für die damalige Zeit sehr, sehr aufregend. Und wir haben auch Anzeigen auf der Rückseite, die einen Einblick in die ethnographische Welt der Leser der anarchistischen Presse geben: Es gab Anzeigen für Cafés und Anzeigen für andere Bücher, die man abonnieren konnte; oft warben die Zeitungen füreinander. „Wenn Sie Fraye arbeter shtime abonnieren, werden Sie sich über ein gebundenes Exemplar von Kropotkin freuen, das wir Ihnen schicken können.“ Um also auf die materielle Geschichte hinzuweisen, die man durch das Lesen von Zeitungen erfahren kann: Eine Zeitung ist nicht nur ein Ausdruck von Meinungen an sich, sondern auch ein Objekt, das im ästhetischen und materiellen Leben der Menschen, die sie lesen, zirkuliert.

Shane: Wie hat sich das Jiddische verändert? Oder wie verändert es sich derzeit?

Anna: Nun, Sprache ist plastisch, sie ist immer plastisch. Wenn man sich die Wellen von Sprachreformen in der Sowjetunion anschaut, dann gab es sehr sorgfältig geplante Sprachreformprojekte als Teil eines sowjetischen imperialen Projekts, bei dem die Sprache neu buchstabiert wurde, um sie phonetisch lesbar zu machen. Es gibt also diese Art von politischer Plastizität des Jiddischen. Und in vielen linken Kreisen gab es zu dieser Zeit zum Beispiel sowjetische Schriftsteller, die den religiösen Korpus als eine Art Widerstand gegen die Verfolgung der sowjetischen Juden und als eine Art Wiederbehauptung einer bestimmten Identität, sogar innerhalb der Sprache, weiter verwendeten. An einem Ort kann diese Art von Sprache also Widerstand gegen Assimilation sein, und an anderen Orten kann die Sprachpolitik eine Geste in Richtung Internationalismus sein. Ich würde nicht sagen, dass es einen einzigen Kern oder eine einzige Sprachpolitik gibt. Es hängt so sehr von der Orthographie und dem Ort ab, und wir müssen immer historisieren, was mit dem Jiddischen in diesem Moment geschah.

Shane: Ich glaube, die große Frage, die sich mir stellte, als ich begann, dieses Buch zu lesen, und über die Wissenschaft und all die anderen Projekte, über die wir gesprochen haben, nachdachte, war, warum das Interesse am jüdischen Anarchismus in letzter Zeit so stark war und warum es sich über die Generationen hinweg erhalten hat. Warum scheint diese Forschung die Menschen wirklich tiefgreifend zu berühren?

Anna: Ich denke, der jüdische Anarchismus und seine Mehrsprachigkeit haben etwas sehr Großes an sich. Seine „Ja, und…“-haftigkeit. Man denke an die Bedeutung der Mehrsprachigkeit und stelle sie der zionistischen einsprachigen Ideologie gegenüber: nur Hebräisch und nichts als Hebräisch. Die jüdische anarchistische Sprachpolitik hat etwas Großes und Vielfältiges an sich. Aber gleichzeitig ist der Anarchismus unerbittlich gegen den Kapitalismus, gegen Grenzen, gegen das Militär, gegen alles, was die Autonomie des Körpers einschränkt. Ich denke, diese Kombination kann heute wirklich mit dem Abolitionismus in Resonanz treten, mit der Auflösung von Grenzen, dem unnachgiebigen Eintreten gegen militarisierte Grenzen, dem Bejahen der Autonomie von reproduktiven Rechten, von Trans-Leben. Ich denke, dass es im Anarchismus einen Raum gibt, der sowohl militant als auch unapologetisch ist – und er ist auch sehr umfangreich, wofür andere Iterationen einer singulären Plattform oder singulären Sprache vielleicht keinen Platz haben.

Kenyon: Auf der einen Seite suchen viele Juden nach radikalen Alternativen zum Zusammenbruch des Kommunismus, zur Enttäuschung über die USA und Israel und wollen Dinge wie LGBT-Belange, dekoloniale Belange, antirassistische und feministische Belange in den Mittelpunkt stellen, und ich denke, sie suchen nach alternativen Genealogien des jüdischen Radikalismus außerhalb des Kommunismus oder des Zionismus oder des linken Arbeiterzionismus oder der Sozialdemokratie. Ich denke, dass der Anarchismus historisch gesehen mehr Raum für diese Anliegen bot. Auch gegenwärtig lässt er diesen Anliegen viel mehr Raum als einige andere Strömungen der linken politischen Ideologie. Auf der anderen Seite denke ich, dass sich in letzter Zeit mehr jüdische Anarchisten als jüdische Anarchisten identifizieren, zum Teil als Reaktion auf den wiederauflebenden Antisemitismus in den USA. Ich denke, das hat viele Leute dazu gebracht, ihr eigenes Judentum neu zu bewerten und es stärker in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen.

Shane: Was sind Eurer Meinung nach die wichtigsten Lehren, die sich aus den Diskussionen in diesem Buch ergeben? Es ist natürlich eine jüdisch-anarchistische Geschichte, aber es ist auch eine radikal-politische Geschichte, die meiner Meinung nach weit darüber hinausgeht. Was sind die großen Lehren, die Ihr den Menschen nahe bringen wollt und mit denen sie sich auseinandersetzen sollen?

Anna: Ich denke über diese Forschung als eine Ressource für kollektive politische Vorstellungen nach: Wie könnte dieses Archiv eine politische Vorstellungswelt vermitteln? Genauso wie die Anarchisten, über die wir schreiben, selbst in die anarchistische Geschichte und die anarchistische Genealogie involviert waren. Sie wollten den Talmud als eine Art anarchistische Ethik lesen. Sie wollten die Essenes – die alte, rein männliche Bruderschaft – als eine Art proto-anarchistische Bruderschaft betrachten. Sie waren daran interessiert, Geschichte zu lesen. Sie interessierten sich für die gegenseitige Hilfe, die in der materiellen, physischen Welt unmittelbar ansteht. Diese Tendenz, Geschichte mit einer anarchistischen Linse zu lesen, hat, denke ich, ihre eigene Genealogie im Denken über die Weltgeschichte als eine Art Archiv für die politische Vorstellungskraft, für das, was möglich ist zu denken, wie unsere politische Vorstellungskraft so katastrophal eingeengt wurde, dass wir denken, die gegenwärtigen Lebensformen seien die einzige Möglichkeit. Ich hoffe, das Buch kann dem entgegenwirken. Gleichzeitig ist es auch eine Herausforderung, das, was wir wiedergewinnen, nicht zu romantisieren oder zu sehr zu behüten, und auch darüber nachzudenken, wo die Momente waren, in denen jüdische Anarchisten ihr Weißsein nicht verraten haben. Haben ihre Ideale der freien Liebe das Patriarchat durch das Leiden der Frauen nur bekräftigt, anstatt es tatsächlich zu lindern? Das ist also auch ein Teil der Herausforderung: in diesem Prozess der Wiederherstellung kritisch zu bleiben.

Kenyon: Ja, und ich denke, um die Vergangenheit nutzbar zu machen, muss man einfach sehen, dass jüdische Anarchisten wichtige, entscheidende, zentrale Figuren in Arbeiterbewegungen, revolutionären Bewegungen – ob diese nun spezifisch jüdisch waren oder nicht – und in kulturellen Bewegungen waren und sind. Es gibt so viel von dieser Geschichte, deren anarchistische Ursprünge den meisten Menschen verborgen bleiben, auch wenn man mit einigen der beteiligten Personen oder Institutionen vertraut sein mag. Ein Beispiel, das ich gerne verwende, ist die Manhattan-Brücke. Sie wurde von dem jüdischen Anarchisten Leon Moisseiff entworfen. Es gibt eine Gedenktafel, die Moisseiffs Beitrag ausdrücklich würdigt, aber selbst auf seiner Wikipedia-Seite wird nicht erwähnt, dass er auch ein engagierter Anarchist war, der sein Leben lang eine anarchistische Zeitschrift in jiddischer Sprache herausgab, die ‘Freye Gezelshaft’ oder ‘Free Society’. Diese anarchistische Vergangenheit ist buchstäblich in die alltägliche Infrastruktur Manhattans eingebaut, aber sie ist irgendwie unsichtbar.

Was die nützlichen Wege angeht, denke ich, dass das Wichtigste an diesem Sammelband auch ist, dass er zeigt, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt, ein jüdischer Anarchist zu sein. Hier gibt es viele Vergangenheiten. Jüdische Anarchisten, die heute Aufständische oder Syndikalisten oder Pädagogen oder Maler oder Dichter oder Ärzte oder Nachbarschaftsorganisatoren oder Fürsprecher der Schwangerschaftsverhütung sind, die Englisch oder Jiddisch oder Esperanto sprechen, sie alle stehen in der Tradition des einen oder anderen Strangs des jüdischen Anarchismus. In unserer Einleitung zitieren wir eine Passage der jüdischen anarchistischen Historikerin Martha Acklesberg: „Niemand sollte gezwungen werden, als Preis für politische oder kommunale Zugehörigkeit zwischen Aspekten seiner oder ihrer Identität zu wählen, wir sind alle vollwertige Wesen, die sich auf vielfältige Weise für eine Vielzahl cooler Aktivitäten einsetzen können.“ Und ich denke, das fasst wirklich zusammen, was das Buch als die fast unzähligen Möglichkeiten veranschaulicht, wie jüdische Anarchisten der Vergangenheit verschiedene Engagements miteinander verbanden, und gleichzeitig eine Anleitung für Radikale in der Gegenwart bietet, die verschiedenen Möglichkeiten zu erkunden, wie sie verschiedene Engagements für mehrere Gruppen oder Ursachen und Identitäten miteinander in Einklang bringen können, anstatt das Gefühl zu haben, sich für das eine oder das andere entscheiden zu müssen.

Zuerst erschienen im Sommer 2023 auf Strangers in a Tangled Wilderness, repostet im Februar 2024 auf The Anarchist Library. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks, das ebenfalls die Bebilderung hinzufügte. 

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Die Erfahrung der Sprache ist eine politische Erfahrung

Giorgio Agamben

Wie wäre es möglich, die Gesellschaft und Kultur, in der wir leben, wirklich zu verändern? Reformen und sogar Revolutionen verändern zwar Institutionen und Gesetze, Produktionsverhältnisse und Objekte, aber sie stellen nicht die tieferen Schichten in Frage, die unsere Weltanschauung prägen und die für einen wirklich radikalen Wandel berührt werden müssten. Dennoch machen wir täglich die Erfahrung von etwas, das auf andere Weise existiert als all die Dinge und Institutionen, die uns umgeben und das sie alle bedingt und determiniert: die Sprache. In erster Linie haben wir es mit benannten Dingen zu tun, doch wir sprechen weiterhin im Flüsterton und nach dem Zufallsprinzip, ohne jemals zu hinterfragen, was wir tun, wenn wir sprechen. Auf diese Weise bleibt uns gerade unsere ursprüngliche Spracherfahrung hartnäckig verborgen, und ohne dass wir es merken, bestimmt diese intransparente Zone in uns und außerhalb von uns, wie wir denken und handeln.

Die Philosophie und das Wissen des Westens, die mit diesem Problem konfrontiert sind, haben geglaubt, dieses Problem zu lösen, indem sie davon ausgingen, dass das, was wir tun, wenn wir sprechen, darin besteht, eine Sprache zu erschaffen, dass die Art und Weise, wie Sprache existiert, eine Grammatik, ein Vokabular und eine Reihe von Regeln für die Zusammensetzung von Namen und Wörtern in einem Diskurs ist. 

Selbstverständlich weiß jeder, dass wir gar nicht sprechen könnten, wenn wir jedes Mal bewusst Wörter aus einem Vokabular auswählen und sie ebenso bewusst zu einem Satz zusammensetzen würden. Dennoch ist die Sprachgrammatik im Laufe eines jahrhundertelangen Prozesses der Herausbildung und Vermittlung in uns eingedrungen und zu dem mächtigen Instrument geworden, mit dem der Westen sein Wissen und seine Wissenschaft dem gesamten Planeten aufgezwungen hat. Ein großer Linguist hat einmal geschrieben, dass jedes Jahrhundert die Grammatik seiner Philosophie hat: Das Gegenteil wäre ebenso und vielleicht noch wahrer, nämlich dass jedes Jahrhundert die Philosophie seiner Grammatik hat, dass die Art und Weise, wie wir unsere Erfahrung mit der Sprache in einer Sprache und in einer Grammatik artikuliert haben, auch die Struktur unseres Denkens entscheidend bestimmt. Es ist kein Zufall, dass Grammatik in der Grundschule gelehrt wird: Das erste, was ein Kind lernen muss, ist, dass das, was es tut, wenn es spricht, eine bestimmte Struktur hat und dass es sein Denken an diese Ordnung anpassen muss.

Nur in dem Maße, in dem es uns gelingt, diese Grundannahme in Frage zu stellen, wird eine wirkliche Veränderung unserer Kultur möglich werden. Wir müssen versuchen, das, was wir tun, wenn wir sprechen, neu zu überdenken, in diesen intransparenten Bereich eintauchen und uns nicht nach Grammatik und Vokabular zu erkundigen, sondern nach dem Gebrauch, den wir von unserem Körper und unserer Stimme machen, wenn uns die Worte fast von selbst über die Lippen zu kommen scheinen. Wir würden dann erkennen, dass es bei dieser Erfahrung um die Erschließung einer Welt und unserer Beziehungen zu unseren Mitmenschen geht, und dass daher die Erfahrung der Sprache in diesem Sinne die radikalste politische Erfahrung ist.

16. Februar 2024

Giorgio Agamben

Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks. 

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Krise der amerikanischen Hegemonie, Krieg und sozialer Marasmus

n+1 

Die Telefonkonferenz am Dienstagabend, an der 19 Genossinnen und Genossen teilnahmen, begann mit einem Videointerview mit Fabio Mini, einem pensionierten italienischen Armeegeneral, in dem es um die Eskalation im Nahen Osten und die Rolle der Vereinigten Staaten ging. Laut Mini sieht die amerikanische Militärdoktrin maximal zwei Kriegsfronten vor: Im Moment sind die Amerikaner in der Ukraine (seit fast zwei Jahren) und im Nahen Osten engagiert, aber in Zukunft könnte sich eine weitere Front im Indopazifik auftun.

Das Chaos im Nahen Osten hat sich auf die Ukraine ausgewirkt, die nicht mehr wie vor dem 7. Oktober im Mittelpunkt des Medieninteresses steht. Jetzt ist die Initiative in russischer Hand (siehe die Einkreisung von Avdiivka), während es den ukrainischen Streitkräften an Munition, Waffen und Männern fehlt. Außerdem ist die Unterstützung durch den NATO-Block nicht mehr sicher, nicht zuletzt, weil Waffen und Munition möglicherweise anderswo benötigt werden.

Für The Economist, der ihr einen Artikel widmet, sind FPV-Drohnen (First Person View) die Innovation im russisch-ukrainischen Konflikt: ferngesteuert von einem Operator, der dank eines Visiers das Ziel sehen kann, können sie spionieren, einen Sprengsatz abwerfen oder zum Kamikaze werden. Ein Panzer, der mehrere Millionen Euro kostet und mehrere Tonnen wiegt, kann von einer Drohne zerstört werden, die ein paar hundert Euro kostet und ein paar Kilogramm wiegt. Die Entwicklung solcher Vehikel begann dank der Arbeit ukrainischer „Konstrukteure“ in Garagen; heute produzieren sowohl Russland als auch die Ukraine jährlich Hunderttausende davon (Präsident Zelenskij hat erklärt, dass er bis Ende 2024 eine Million davon bauen will). Drohnen ersetzen zwar nicht die konventionelle Artillerie, haben aber den Vorteil, dass sie die feindlichen Linien durchdringen und die zu treffenden Soldaten und Fahrzeuge aufspüren können: Ihr massiver Einsatz wird die Art der Kriegsführung revolutionieren. Die Ukraine hat sich auch mit Unterwasser- und Marinedrohnen ausgerüstet, die in der Lage sind, eine Fregatte zu versenken. 

Die neuen Technologien der Kriegsführung sind Teil dessen, was Engels als „Dialektik zwischen Projektil und Panzer“ bezeichnet: Die Russen haben Störsysteme entwickelt, die eine Kommunikation zwischen der Drohne und ihrem Bediener unmöglich machen; infolgedessen wurde eine verstärkte elektronische Ausrüstung für unbemannte Flugzeuge entwickelt, um solchen Störungen entgegenzuwirken.  Je technologischer das Projektil ist, desto stärker muss die Abschirmung sein, eine Dynamik, die sich selbst potenziert. Wer elektromagnetische Strahlung aussendet, kann in der Tat vom Feind entdeckt werden: Das gilt für den Drohnenführer, aber auch für diejenigen, die versuchen, ihn zu stören.

Zum Schutz von Handelsschiffen, die den südlichen Eingang zum Roten Meer zwischen dem Golf von Aden und der Straße von Bab el Mandeb passieren, hat die Europäische Union die „Operation Aspides“ gestartet, deren Kommando Italien übertragen wurde. Diese Mission ergänzt die „Prosperity Guardian“, eine internationale maritime Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten, an der Bahrain, Kanada, Frankreich, Italien, Norwegen, die Niederlande, das Vereinigte Königreich, die Seychellen und Spanien beteiligt sind. Die US-Mission hat bereits mehrere Bombenangriffe auf jemenitisches Gebiet durchgeführt und feindliche Boote getroffen, während die europäische Mission hauptsächlich defensiven Charakter haben soll. Die Houthis verfügen über kleine, sehr schnelle Boote, mit denen sie große Schiffe schwer beschädigen können; um ihre Angriffe zu verhindern, reichen Bombenangriffe nicht aus, sondern es müssen auch Kämpfer an Land eingesetzt werden. 

„Die Houthi-Milizen im Jemen sind aus militärischer Sicht ‚zehnmal so wertvoll wie die Hamas‘ und bedrohen mit ihren Angriffen auf die Schifffahrt im Roten Meer die wirtschaftliche Stabilität Italiens, indem sie ‚ein Wettbewerbsungleichgewicht‘ zugunsten Chinas und Russlands schaffen“, so der italienische Verteidigungsminister Guido Crosetto. In der Tat kommt das Engagement Europas und Amerikas auf diesem neuen Kriegsschauplatz Russland zugute.

Die Houthis drohen auch damit, die Internetkabel auf dem Grund der Meerenge von Bab al-Mandab zu kappen, durch die 17 % des weltweiten Datenverkehrs fließen. Die Sabotage der Nord-Stream-Pipeline gab uns einen ersten Vorgeschmack auf das, was in Zukunft passieren könnte. Nichtstaatliche Streitkräfte finden auf dem Markt sehr fortschrittliche Technologien, die zudem billig sind; man bedenke, dass ein großer Teil der von den Israelis im Gazastreifen beschlagnahmten Waffen israelischen Ursprungs war. Das kapitalistische System ist vernetzt und gleichzeitig zersplittert, was auf die gegensätzlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen zurückzuführen ist, die zu sozialem Chaos und Kriegen führen.

Die Gründung eines palästinensischen Staates, die Biden Netanjahu vorgeschlagen hat, ist ein Projekt ohne Zukunft. Dies ist die Epoche, in der sich Staaten auflösen. In der gesamten Region des Nahen Ostens (aber nicht nur dort) gibt es Probleme mit der inneren Stabilität. Selbst die Kurden haben keinen eigenen Staat und werden daher von anderen als Kanonenfutter benutzt. In Palästina wie in Kurdistan hindert das Fehlen einer eigenständigen Bourgeoisie (die auf der Grundlage des Kapitalismus und damit eines gemeinsamen Marktes entstanden ist) die Palästinenser daran, sich als Nation zu erheben und einen nationalen Befreiungskrieg zu führen, ähnlich dem, der historisch zur Bildung vieler heutiger Nationalstaaten geführt hat. Die israelisch-palästinensische Frage ist nicht der wesentliche Grund, der den Nahen Osten in Flammen aufgehen lässt, sondern die veränderten Machtverhältnisse in der Welt. Syrien existiert nicht mehr als Staat, sondern ist eine Ansammlung von Gebieten, die von anderen Staaten und Gruppen verwaltet werden. Libyen befindet sich in den Händen von Kriegsherren, die um das Land kämpfen. Der Jemen befindet sich nach dem Bürgerkrieg in einem katastrophalen Zustand. Von den schwächsten und periphersten Ländern ausgehend, hat der Auflösungsprozess begonnen, die Länder des alten Kapitalismus zu infizieren.

Wir können nicht genau wissen, was in den kommenden Monaten passieren wird, aber eines ist sicher: Das Chaos wird tendenziell zunehmen. In Zukunft könnten Kommunikationswege, Telematik- und Elektroinfrastrukturen usw. in die Luft fliegen. Das Kino produziert eine Vielzahl von Katastrophenfilmen, die plausible Zukünfte darstellen, wie z. B. Don’t Look Up oder Leave The World Behind.

In den letzten Monaten mussten die USA Dutzende von Angriffen auf ihre Stützpunkte im Irak und in Syrien hinnehmen, und als Reaktion auf bewaffnete Aktionen gegen einen Stützpunkt in Jordanien haben sie pro-iranische Milizen angegriffen. Der Krieg weitet sich aus und intensiviert sich, wobei immer mehr Kräfte beteiligt sind. Im März werden China, Russland und Iran gemeinsame Marineübungen abhalten. Dabei handelt es sich nicht um die Vorbereitung einer Blockade, sondern um ein konjunkturelles Bündnis aufgrund der Vervielfachung der Kriegsausbrüche. China und Brasilien haben angekündigt, ihre Handelsgeschäfte in Landeswährungen abzuwickeln, und der Iran und Russland haben ein Abkommen unterzeichnet, wonach sie in ihren Landeswährungen und nicht mehr in Dollar handeln werden. Manche sprechen von einer Entdollarisierung der Weltwirtschaft, wie Alfredo Luís Somoza: „Die globalen Währungsreserven, die 1970 zu 80 % aus Dollar bestanden, werden heute von der US-Währung angeführt, wenn auch mit einem auf 60 % reduzierten Anteil. Dies ist auf das Aufkommen des Euro zurückzuführen, der heute 20 % der weltweiten Reserven ausmacht, auf das ‚Halten‘ des Pfunds und des Yen, die ihr Gewicht behalten haben, und auf den Eintritt des Yuan, der chinesischen Währung.“

Washington kann nicht zulassen, dass die Macht des Dollars in Frage gestellt wird, aber ein wachsender Teil der kapitalistischen Welt löst sich nach und nach vom Greenback.

Das BIP der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) übersteigt das der USA und der Europäischen Union zusammen. In kurzer Zeit vollziehen sich epochale Umwälzungen, Beschleunigungen, die scheinbar festgelegte Gleichgewichte aus dem Lot bringen. Sollte Trump als Präsident zurückkehren, könnte Amerika beschließen, die NATO zu verlassen. Einige geopolitische Analysten meinen, dass mit dem Ende der amerikanischen Vorherrschaft in der Welt eine multipolare kapitalistische Phase beginnen wird. Wie wir in dem Artikel „Akkumulation und historische Abfolge“ geschrieben haben, ist es in Wirklichkeit immer zu einem Wechsel zwischen den Ländern an der Spitze des Kapitalismus gekommen, wenn bestimmte Bedingungen gegeben waren, vor allem ein Sprung nach vorn bei den Produktivkräften. China wird die USA nicht an der Weltspitze ablösen, denn welchen Sprung könnte es nach Robotern und KI noch geben? Es gibt nur einen politischen Sprung, den Sprung in die zukünftige Gesellschaft.

Am Ende der Telefonkonferenz sprachen wir über die Proteste der Landwirte in Europa, die bestätigen, was wir in dem Artikel „Wargame – Teil eins“ geschrieben haben, nämlich dass „die Wut des Kleinbürgertums zerstörerisch werden kann: der Kochtopf unter den Stahltöpfen ist dazu bestimmt, zu einem schlechten Ende zu gelangen, weil seine Geschäftsbücher zeigen, dass die Fähigkeit, das Einkommen innerhalb der Gesellschaft zu verteilen, mit steigender Produktivität dramatisch abnimmt“. Im Artikel „Wargame – Teil zwei“ haben wir die kapitalistische Gesellschaft in zwei Parteien aufgeteilt: die Blaue, die der Bourgeoisie, die große Teile der Gesellschaft kontrollieren kann, und die Orange, die der Proletarier, die sich gegen die bestehende Ordnung stellt. Nun wenden sich innerhalb der blauen Partei die Kräfte, die sie historisch unterstützt haben, gegen sie. Aus materieller Sicht macht es wenig Sinn, sich auf die Schlagworte der kämpfenden Bauern zu fixieren (Verteidigung des Made in Italy und des Kleineigentums gegen die Macht der multinationalen Konzerne), während es interessant ist, die stattfindenden Prozesse der sozialen Polarisierung zu betrachten. Die verarmten Mittelschichten engagieren sich immer mehr (Forconi, No Vax usw.). Die Menschen sind, um ihren erreichten Lebensstandard nicht zu verlieren, gezwungen, die bestehenden sozialen Verhältnisse umzustürzen.

Erschienen am 6.2.2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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Als wir Palermitaner zur Autonomia stießen – Eine Erinnerung an Toni Negri

Antonio Casano

Wir freuen uns, diese von Antonio Casano verfasste Erinnerung an Toni Negri zu veröffentlichen, die nicht nur eine Hommage an den Maestro darstellt, sondern auch die politischen und theoretischen Verbindungen rekonstruiert, die ihn und seine Genossen aus Palermo Mitte der 1970er Jahre zur Gründung der Autonomia operaia in der sizilianischen Hauptstadt veranlassten. Die Beziehung von Toni Negri zu Sizilien begann bereits in den frühen 1950er Jahren, als er mit Anfang zwanzig einen jener Momente der Klarheit erlebte, die ihn sein ganzes Leben lang begleiteten: „Während mich die Religiosität von Danilo Dolci verunsichert hatte, hatte ich einige Proletarier kennen gelernt, militante Kommunisten – sie erzählten mir von den Landbesetzungen und zeigten mir die heftigen und mächtigen Implikationen der bäuerlichen Klassenkämpfe […] als die Carabinieri mich aus Partinico verjagten, wurde meine Blauäugigkeit einen Moment lang unerträglich. Als ich die Berge oberhalb von Palermo überquerte, erlebte ich einen jener jugendlichen Momente der Klarheit in der Rebellion, die ein Leben lang Bestand haben. Man muss rebellieren, es ist richtig, zu rebellieren. Das Elend war unerträglich. Ich musste also die Arbeiterbewegung kennen lernen – und den Sinn für Gerechtigkeit und Veränderung neu interpretieren, indem ich ihn mit einem realeren Thema verband als dem, auf das ich mich bisher – allgemein und friedlich – bezogen hatte.“ Kurz gesagt, in den 1950er Jahren ist es Sizilien, das Toni Negri zur Veränderung antreibt, während es in den 1970er Jahren, wie wir in Antonio Casanos Text sehen werden, Toni Negri ist, der die jungen Sizilianer zur Veränderung antreibt. Eine bereichernde Lektüre für alle (Vorwort Machina).

***

Meine „Begegnung“ mit Toni Negri geht auf das Jahr 1977 zurück. Ich glaube, dass vor dieser Zeit selbst in Palermo niemand unter den jüngeren Militanten je von ihm gehört hatte, und dass es – soweit ich weiß – in unserer Gegend keine ernsthaften Studien über die Geschichte des Arbeitertums gab, deren Relevanz wir post festum in den Arbeiterkämpfen des „heißen Herbstes“ und in der Jugendprotestbewegung der mythischen 68er entdeckten. Dies war die Geschichte, die direkt oder indirekt zu uns gehörte und die in den Debatten des palermitanischen Territoriums der Autonomia wieder aufgegriffen wurde. Der Operaismo ermöglichte es uns, uns die Essenz wieder anzueignen, die in den Maschen des Gruppensektierertums gefangen geblieben war, in dem wir eine wesentliche Abweichung von dem spürten, was das Experiment von Potere operaio gewesen war. Wir wussten von einer generischen Selbstauflösung, es genügt zu sagen, dass in der Blütezeit des mehr oder weniger revolutionären Außerparlamentarismus fast alle politischen Formationen der sechziger Jahre ihren Sitz in der Stadt hatten, mit Ausnahme von Potere Op., das nie einen hatte; vielleicht gab es einen zaghaften Versuch, der den Zeitraum eines Vormittags überdauerte.

Aber das Ende der Organisation der Arbeiterbewegung schlechthin, die ’73 beschlossen hatte, ihre Aktivitäten zu beenden, erweckte großes politisches Interesse, vor allem bei den Genossen, die wie ich mit großem Einfühlungsvermögen die verschiedenen Erfahrungen der über die Halbinsel verstreuten Autonomia operaia betrachteten. In dieser Zeit waren die Opuscoli Marxisti eine große Hilfe für uns.

In der Debatte des Rosolina-Kongresses haben wir – zusammen mit den anderen Genossen der Autonomia operaia, die der Position von Negri anhingen, der die politische Aufgabe der alten Pot. Op. weiterführte – einen entscheidenden analytischen Sprung in Richtung des Beginns einer neuen Phase erkannt: Einerseits nahmen wir die Transformationen des kapitalistischen Produktionssystems zur Kenntnis, das mit dem Beginn des Umstrukturierungsprozesses die Zentralität des Arbeiters durch die Einführung von immer massiveren Automatisierungsmaßnahmen anstelle der Arbeitskraft depotenzierte, begleitet von der Dezentralisierung des Produktionszyklus weg von der großen Fabrik, um so in ein gesellschaftlich weit verbreitetes Mikrounternehmertum zu investieren. Zum anderen richteten wir unseren Blick auf die neuen Widerstandsformen von unten und versuchten, die theoretischen Schritte zu verstehen, die die Instanzen des arbeiter-gesellschaftlichen Kampfes verbinden könnten. Kurz gesagt, die Selbstauflösung von Potere operaio war in unserer Vorstellung der Akt, der das Ende der Klassenzusammensetzung um die Fabrikstadt herum markierte, indem man stattdessen den gesamten sozialen Raum der Fabrikstadt als neues Terrain der Neuzusammensetzung der revolutionären Konfliktualität betrachtete, von der das Jugendproletariat die fortgeschrittenste Manifestation war. 

Generell ist festzustellen, dass die Erfahrung von Pot.Op. im gesamten Bereich der Autonomia der palermitanischen Bewegung als Ausnahme gegenüber den anderen außerparlamentarischen Gruppen wahrgenommen wurde, ebenso wie das Urteil über Lotta Continua, die 1976 aufgelöst wurden und bei der fast alle ihre Anhänger – viele im kreativen Bereich – aktiv am Schicksal der autonomen Bewegung teilnahmen, weniger barmherzig war. Stattdessen wurde mit dem, was von den Gruppenformationen übrig blieb, eine tiefe Furche aufgerissen, angesichts des opportunistischen Abdriftens, das mit der demonstrativ-proletarischen embrassons-nous unternommen wurde, die am Ende den Schwanz der PCI hielt, die immer mehr an die Schicksale der „gouvernementalistischen Rationalität“ gebunden war.

Mit der 77er-Bewegung in den besetzten Fakultäten, auch dank der selbstverwalteten Seminare und in Opposition zur herrschenden Kultur (und zur Macht, die auch von den „roten Baronen“ ausgeübt wurde), begannen neue kritische Lesarten der kapitalistischen Gesellschaft zu zirkulieren, die die gesamte Tradition der marxistischen Lehre in Frage stellten. Und angesichts des Einflusses, den Negri auf die autonome Bewegung in Palermo ausübte, wurde während der Besetzung der Fakultät für Literatur (der ersten in Italien überhaupt) eine Studiengruppe zu La forma Stato gegründet, die sich in Wahrheit mit der gesamten Literatur von Toni beschäftigte, von der akademischen bis zur militanten.

Für uns junge Genossinnen und Genossen, die wir in der bürgerlichen Studentenbewegung aufgewachsen waren, eingesperrt in den nach 1968 gebildeten außerparlamentarischen Gruppen (die Mitte der 1970er Jahre aufgrund des Grades der Bürokratisierung, in den sie geraten waren, bereits eine tiefe Krise durchliefen), war es eine echte Befreiung: Aus dieser Selbstbezogenheit fühlten wir uns in eine neue Subjektivierung hineinversetzt, in der alle Hierarchien abgebaut wurden. Vor allem aber wollte jeder von uns das volle Bewusstsein einer politischen und sozialen Praxis erlangen, die die theoretische Ebene nicht mehr von der der Militanz trennt. In gewissem Sinne wurde die autonome Bewegung zu einem wahrhaft großen Laboratorium der kollektiven Forschung, das sich gleichzeitig als eine Brutstätte menschlicher Affektivität erwies, die die Grundlagen der Mikrophysik der Macht erschütterte. 

Auf diese Weise bildeten sich an den Fakultäten der Universität von Palermo auf Anregung dieser „Literatur“ weitere Formen von Tätigkeiten heraus, die nicht nur mit den konkreten sozialen Bedürfnissen der Region zusammenhingen (städtische Lebensqualität, Präventivmedizin, Situation der Jugendlichen usw.), sondern auch eine neue Art und Weise eröffneten, politische Militanz ausgehend von den eigenen Bedürfnissen und Wünschen zu konzipieren, was zum Experiment eines neuen Modells sozialer Organisation werden sollte: die Bewegung. Dieses Gebilde wurde zur Essenz einer Gemeinschaft von Singularitäten, in der das Private dem Politischen immanent war, und fegte mit einem Schlag die müde Gruppenpraxis und damit auch die Pyramidenmodelle hinweg, die aus der marxistisch-leninistischen Tradition der offiziellen Arbeiterbewegung stammten und ideologisch von Dogmatismus, Verrat und Sektierertum durchdrungen waren. 

Wie aus heiterem Himmel entdeckten wir unsere Affinität zur Praxis der Autonomia, auf die sich die Kreise des Jugendproletariats, die ’77 vorausgegangen waren, informell bezogen. Im Handumdrehen erschien uns ein Teil unseres militanten Lebens (der ideologisierte) völlig fremd, während wir den Teil „selbst aufwerteten“, in dem wir direkt in die anti-meritokratischen studentischen Kämpfe eingebunden waren. Diese wurden auch außerhalb der Bildungseinrichtung als proletarische Jugendbewegung charakterisiert: siehe die legendäre „rote Woche“ von 1975, bei der die Studenten im Zentrum der Stadt (Palermo, d.Ü.) gegen den „teuren Bus“ und für eine „freie städtische Mobilität“ protestierten, die über den von den sozialdemokratischen Reformern jeder Epoche so geliebten „Anspruch des guten Schülers“ hinausgehen sollte. Kurz gesagt, wir lernten, soziale Untersuchungen aus unserem autonomen Antagonismus heraus durchzuführen, der nicht mehr der Zentralität der Fabrik untergeordnet war. Wir verstanden diesen kollektiven Protagonismus als die Praxis der Umkehrung des gesellschaftlichen Arbeiters, dessen Konzeption nichts mehr mit der offiziellen, vom PCI-Arbeitertum hegemonisierten Arbeiterbewegung zu tun hatte. Damit wurde eine deutliche Zäsur vollzogen. In der Abwesenheit der Erinnerung entfaltete sich die subjektive Autonomie in ihrer ganzen Fülle: Die Kontinuität zur „Sonne der Zukunft“ war gebrochen, der Kommunismus war „jetzt und sofort!”

Ein entscheidender Beitrag zur Neuinterpretation unserer Subjektivierung war, dass wir uns auf unsere eigene kleine Art und Weise den Werkzeugkasten des Operaismo angeeignet hatten, dessen Gebrauch wir dank Toni Negri (einem sehr wichtigen theoretisch-praktischen Bezugspunkt) gelernt hatten. Ich erinnere mich daran, wie wichtig die Verwendung des lessico marxiano für die Bewegung von Palermo geworden war, und zwar gerade durch die Unterscheidung, die die Operaisten von der klassischen Verwendung des Begriffs „Marxismus“ machten. Ich erinnere mich, dass ich von der Verwendung des Begriffs „Marxismus“ sehr überrascht war: Ich erkannte sofort, dass ich auf einen schwierigen, aber anregenden Forschungsweg gestoßen war, der für die Rekonstruktion einer politischen Praxis von grundlegender Bedeutung war; und vor allem fand ich den methodologischen Schlüssel in dem, was Negri als „Verlagerungsprozess“ definierte, der das Subjekt aus der hegelianischen Dialektik herauslöste, die sich in den dogmatischen Marxismus eingeschlichen hatte. Dieses theoretische Instrument erklärte im Wesentlichen die Dynamik des Operaismus: Zunächst stellte es alle Gewissheiten des Marxismus in Frage, die sich um die Figur des Facharbeiters herum entwickelt hatten, dann entdeckte es die historische Konkretisierung der Klassenzusammensetzung des antagonistischen Subjekts auf der Grundlage der Arbeitermassen, um die Konfliktebene mit der Entdeckung der Autonomie in der neuen Zusammensetzung des gesellschaftlichen Arbeiters erneut zu verschieben. 

Nach der langen Zeit der geschichtlichen Determinierung des gesellschaftlichen Arbeiters hatte der soziale Konflikt innerhalb von etwas mehr als zwei Jahrzehnten mit beeindruckender Geschwindigkeit die antagonistische Subjektivierung in den Klassenbeziehungen innerhalb der Produktion verändert.  So wurden wir als gesellschaftliche Arbeiter zum Gegenstand der revolutionären Forschung, indem wir den Horizont für die Vielfältigkeit der immateriellen Arbeit öffneten. Andererseits aber, da die Proletarisierung der Gesellschaft zu einer unaufhaltsamen Tatsache geworden war, wurden von da an nach und nach alle lebenswichtigen Räume besetzt, so dass kein möglicher Zwischenraum unerforscht blieb, in dem die kapitalistische Akkumulation die Biomacht als Inbegriff ihrer absoluten Herrschaft ausübte.

Mit anderen Worten, die Figur von Toni Negri war ein echter Klebstoff für die Autonomia operaia von Palermo, auch weil wir vor 1977 – vor allem in meiner Generation von Genossen – nicht so sehr an die Praxis der theoretischen Ausarbeitung gewöhnt waren: Von Zeit zu Zeit, zur Zeit der Sekten, wurden mit wenigen Ausnahmen lediglich Indoktrinationslesungen über die Klassiker des Marxismus organisiert, die einer Art Exerzitien über die Vulgata von Marx sehr ähnlich waren. Im Gegensatz zu diesem Dogmatismus war die Beschäftigung mit dem Operaismus und den Entwicklungen des negrianischen Denkens kein punktuelles Studium seiner Bücher oder derjenigen des ihm nahestehenden Entwicklungskollektivs (eine Brutstätte von Intellektuellen-Militanten, die mit ihm eine Menge Material produzierten, von denen viele unsere Bibliotheken bereicherten), sondern es war die Nutzung des Arbeitsstils und der „conricerca“ als Methode, um unser Untersuchungsfeld auf die Prozesse der Subjektivierung der Antagonisten auszudehnen, beginnend mit denen, die uns als Protagonisten im Konflikt der 70er Jahre gesehen hatten.

Im Grunde genommen haben wir die politische Dimension aufgegriffen, d.h. die Praxis der kollektiven Workshops, die von der Dynamik inspiriert war, die in den frühen 1960er Jahren von der operaistischen Schule der Quaderni Rossi verfolgt wurde, und die mit den verschiedenen Erfahrungen fortgesetzt wurde, bei denen Negri ein außerordentlicher Leitfaden war, der in der Lage war, die Vorwegnahme der sozialen Transformationen, die diese Workshops zu erkennen versuchten, meisterhaft darzustellen. Für uns von der Autonomia Operaia palermitana war der Blick auf Negris Weg eine meisterhafte Aufforderung, die von grundlegender Bedeutung für die Suche nach einem Platz im Subjektivierungsprozess war. In diesem Sinne scheint mir die Definition von Toni als „der gemeinsame Singular, der uns seit über einem halben Jahrhundert begleitet“, absolut geglückt.  

Ich möchte klarstellen, dass ich diese Hommage mit der Betonung der kollektiven Dimension verfasst habe, ohne die ich nicht in der Lage gewesen wäre, mich im Laufe meiner politischen Schulung zu ernähren. Es ist ein Weg, der mich mit anderen GenossInnen verbindet, mit denen ich im Laufe der Zeit brüderliche Beziehungen und eine aktionsorientierte Gemeinsamkeit hatte, die sich über die Jahre in den intersektionalen Realitäten der Kampfbewegungen fortgesetzt hat. Es ist kein Zufall, dass wir uns mit einigen von ihnen noch heute in einem Workshop-Raum treffen, um uns weiterhin über die möglichen Entwicklungen der sozialen Konfliktualität im einundzwanzigsten Jahrhundert zu befragen. Und doch verpflichte ich mit meiner Erzählung keinen der anderen Protagonisten dieses kollektiven Subjekts von ’77. 

Ich habe Toni persönlich kennen gelernt, als er nach Palermo kam, um Impero im Theater Agricantus vorzustellen, das noch nie so voll war wie an diesem Tag. Aber erst am Tag danach hatte ich einen direkten Kontakt, während einer Versammlung mit städtischen Bewegungen, die in der Buchhandlung Modusvivendi stattfand. In dieser Debatte fragte ich Toni, was er von der Notwendigkeit halte, eine neue organisatorische Phase in Bezug auf die gewerkschaftliche Konföderalität einzuleiten (ich war damals ein Gewerkschaftskader, der im öffentlichen Sektor tätig war). Kurz und bündig antwortete er, dass kein gewerkschaftlicher Konföderalismus, weder der alte noch der neue, geeignet wäre, die neue soziale Organisation der kognitiven Arbeit zu repräsentieren, die in den Mäandern der postindustriellen Gesellschaft verstreut ist und als Alternative zu den vertikalen Kategorien, die historisch in der klassischen Gewerkschaft konföderiert sind, einen echten „sozialen Unionismus“ vorwegnimmt, der das gesamte Potenzial des diffusen vertenzialismo erfassen würde.  

Wir trafen uns dann am selben Abend zum Abendessen wieder. Bei ihm waren Judith Revel und Saro Romeo (ein Genosse aus Catania, mit dem wir brüderlich befreundet sind) und einige Genossen aus Palermo. Wir löcherten ihn mit Fragen zu den neuen Perspektiven, die das Empire-Konstrukt den Menschen eröffnete. In jenen Jahren gab es eine große Mobilisierung des so genannten „popolo viola“ als Antwort auf den Aufruf einiger berühmter Persönlichkeiten, allen voran Nanni Moretti, der die damalige, von der dalemiano Linken (link d. Ü.) geführte L’Ulivo Regierung aufforderte, sich aus der tödlichen Umarmung mit Berlusconi in der berühmten „Zweikammerregierung“ zu lösen. Ich hatte Zweifel an dieser Bewegung geäußert, da ich sie für eine rein institutionelle reformistische Praxis hielt. Ich war überrascht von Tonis Antwort, die stattdessen den großen Wunsch nach demokratischer Teilhabe von unten hervorhob, den diese Bewegung zum Ausdruck brachte, jenseits dessen, was die Medien daraus machten, indem er in dieser außergewöhnlichen Mobilisierung die Manifestation der Multitude sah. In gewissem Sinne fand ich sowohl in der Antwort auf die soziale gewerkschaftliche Bewegung als auch auf die große römische Demonstration „dei viola“ dieselben Überlegungen, die Toni zu den Kämpfen in Frankreich angestellt hat: Wie kann man zum Beispiel die Gilets Jaunes nicht in die Furche eines autonomen sozialen vertenzialismo außerhalb des klassischen Gewerkschaftsgedankens einsortieren? 

Andererseits, wie kann man nicht die Möglichkeit der Multitude anerkennen, die Räume zu nutzen, die von den alten Paraphernalia der Linken des 20. Jahrhunderts angeboten werden, wie es zum Beispiel in den jüngsten Kämpfen gegen die Rentenreform der Regierung Macron, die von den traditionellen französischen Gewerkschaften organisiert wurden, der Fall war? 

Jahre später hatte ich Gelegenheit, Toni bei zwei weiteren Gelegenheiten zu treffen: einmal in Palermo, im besetzten Garibaldi-Theater, und das andere Mal in Rom bei der Euronomade-Sommerschule. Das Erstaunliche war, dass er sich Jahre später an die Genossen aus Palermo erinnerte, mit denen er an jenem Abend in einer Trattoria zu Abend gegessen hatte, und uns eine absolute Freundlichkeit entgegenbrachte. Offensichtlich war jedoch die große Zuneigung, die er für alle seine Genossen empfand, vom Jüngsten bis zum Ältesten, die einen weiten Bogen zwischen den Generationen spannte. In Rom lernte ich mehrere andere Genossen kennen, mit denen wir immer noch Aktivitäten und Initiativen aufbauen, in dem Wissen, dass wir Teil einer größeren Gemeinschaft sind, die im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert mit ihren Diachronen ein revolutionäres Denken nachgezeichnet hat, das in der Lage ist, die historischen Veränderungen der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Subjektivierung zu erfassen und neu zu schreiben. Toni Negri war in dieser generationenübergreifenden Forschungsgemeinschaft sicherlich ein unersetzlicher Leuchtturm, ein wahrer schlechter Lehrer, dessen Gedanken wir lebendig halten werden, dessen Abwesenheit wir aber schmerzlich vermissen werden. Ciao Toni. 

Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks.

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Am Rande des Chaos

n+1

Die heutige Telekonferenz, zu der 21 Genossen zugeschaltet sind, begann mit einem Kommentar zur innenpolitischen Lage in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Zentralstaat ist mit dem Bundesstaat Texas über die Verwaltung der Grenze zu Mexiko zerstritten. Präsident Joe Biden erklärte, dass es nicht in der Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten liege, die Grenze zu verwalten, und forderte Texas auf, das Urteil des Obersten Gerichtshofs zu respektieren, das die Kontrolle über die Patrouillenposten der Bundesregierung zuweist. Nicht weniger als 25 republikanisch regierte Bundesstaaten bekundeten ihre Solidarität mit Texas, ebenso wie die texanische Nationalgarde, die ihre Loyalität gegenüber dem republikanischen Gouverneur Greg Abbott bewies, indem sie weiterhin Sperren an der Grenze errichtete. Lokale texanische Beamte haben die Regierung Biden des Hochverrats beschuldigt, weil sie die Einwanderungsströme nicht richtig gesteuert und die Grenzsicherheit vernachlässigt habe.

Texas, ein für die amerikanische Wirtschaft wichtiger Bundesstaat, ist Standort eines Atomkraftwerks und von Atomwaffenlagern und plädiert seit mehreren Jahren für die Unabhängigkeit von der Zentralregierung. Donald Trump hat die Situation für sich genutzt, indem er Abbott unterstützte und Gouverneur Biden wegen der Einwanderungspolitik kritisierte (die im Hinblick auf den nächsten Wahlkampf zu einem strategischen Thema wird). Einige bürgerliche Beobachter befürchten die Möglichkeit einer Eskalation, d. h. sie befürchten den Beginn einer Dynamik, die außer Kontrolle geraten und zu einem Bürgerkrieg führen könnte („Politisches Drama oder Verfassungskrise? Wie geht es mit Texas weiter“, Limes). Man denke an die Handlung des Films The Second Civil War. (1997), in dem die Einwanderungsfrage katastrophale Prozesse auslöst.

Die kapitalistische Welt befindet sich am Rande des Chaos. Nach dem Vorbild Israels und der benachbarten Schweiz müsse ein Reservistenpool aufgebaut werden, so der italienische Verteidigungsminister; da sich die Zeiten geändert hätten, sei ein Mentalitätswandel erforderlich. Der Chef der britischen Armee, General Sir Patrick Sanders, erklärte kürzlich, dass wir in einer Vorkriegswelt leben: „Das Vereinigte Königreich muss eine Armee von kampffähigen Bürgern rekrutieren und ausbilden“. Und für den deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius gilt: „Wir müssen bei der Suche nach motivierten jungen Menschen für die Bundeswehr europäischer denken”. Wir brauchen keine Vertreter des Staates, die uns sagen, dass wir uns im Krieg befinden, um das zu wissen, aber diese Erklärungen sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn sie richten sich an die Bevölkerung.

Die Kriegsindustrie läuft auf Hochtouren und bewegt sich zunehmend in Richtung „digital“. Es gibt Drohnen, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind und ein Ziel orten, angreifen und zur Basis zurückkehren können. Autonome Waffensysteme, auch „Killerroboter“ genannt, können den Feind angreifen, ohne Befehle zu erhalten. Der Krieg der Zukunft wird ein Krieg von Algorithmen gegen Algorithmen sein. Eric Schmidt, ehemaliger CEO von Google, erklärte, dass „die Erfolge in Russland und der Ukraine zeigen, dass autonome Waffen dazu bestimmt sind, Panzer, Artillerie und Mörser zu ersetzen“ und betonte, dass die Waffen von morgen „leistungsstarke Softwareplattformen“ sein werden. Es handelt sich um eine Technologie, die wahrscheinlich nicht auf die Supermächte beschränkt bleibt, sondern deren weite Verbreitung durch die Aussicht auf enorme Gewinne gefördert wird“.

Die Rekrutierungskampagnen zielen nicht nur darauf ab, die Zahl der Fußsoldaten zu erhöhen, sondern die Armeen mit Hackern, Computertechnikern und Ingenieuren auszustatten, die in der Lage sind, mit hochentwickelten Werkzeugen umzugehen. In dem Artikel ‚Wargame‚ (2021) schrieben wir:

„Der Generalstab der britischen Streitkräfte ist davon überzeugt, dass das Spielen von ‘Wargames’ für die Nation nützlich ist, weil es die Bürger daran gewöhnt, in Begriffen von Konflikt und Wettbewerb zu denken, auch in anderen Bereichen als dem Krieg. Es handele sich nicht um irgendein Modell, sondern um ein Programm zum Denken. Mit einigen Modifikationen würde dies mit dem übereinstimmen, was auch wir sagen: Im ‘Wargame’ erlebt der Mensch eine Situation, die das Programm errechnet. Das Programm ist nicht zu verwechseln mit der konstruktivistischen Simulation, der Schaffung von künstlichen Modellen der Wirklichkeit. Auch nicht mit einer Reihe einfacher Teilfunktionen, die, wenn sie zusammengesetzt werden, zu komplexen Ergebnissen führen. Eine Simulation, wie perfekt sie auch sein mag, ist kein Kriegsspiel, sondern nur ihr Motor, während die Daten, die sie speisen, ihr Treibstoff sind“.

Der Panzer, wie wir ihn kennen, eine Hülle, die das schützt, was sich in ihr befindet (Soldaten, aber vor allem Waffen und Geschosse), wird verschwinden und durch ein Fahrzeug ersetzt werden, das mit Lasersystemen und Hyperschallwaffen ausgestattet ist. Eine Drohne kostet ein paar tausend Euro, ein „klassischer“ Panzer ein paar Millionen Euro: die Drohne kann den Panzer außer Gefecht setzen. In Jordanien wurden bei einem Drohnenangriff auf einen amerikanischen Stützpunkt drei Soldaten getötet und etwa dreißig verwundet; Biden erklärte, dass die Verantwortlichen (offenbar lokale pro-iranische Milizen) auf die Art und Weise und zu dem Zeitpunkt bestraft werden, die von den Vereinigten Staaten bestimmt wird. Der israelisch-palästinensische Konflikt hat sich innerhalb von drei Monaten zu etwas anderem entwickelt, und mit jedem Tag kommen neue Akteure hinzu: Syrien, Libanon, Irak, Jemen, Jordanien, die USA, England und jetzt auch Italien, Frankreich und Deutschland mit der europäischen Mission in der Region am Roten Meer.

Aber nicht nur der Westen steckt in einer tiefen Krise, sondern auch China. Das beweist der Konkurs des Immobiliengiganten Evergrande. Der chinesische Riese ist von einem zweistelligen BIP-Wachstum auf 5,2 % im Jahr 2023 zurückgefallen. Dutzende von neu gebauten Städten im Land bleiben unbewohnt, der Immobilienmarkt hat seinen Zenit überschritten, und die Provinzen haben enorme Schulden angehäuft, um die Ziegelsteine zu finanzieren (der ein Viertel des BIP ausmacht), etwa 9 Billionen Euro. Einige Ökonomen argumentieren, dass der Konkurs von Evergrande Peking dazu zwingen wird, seine Binnenpolitik zu ändern, aber was kann China noch tun? Es hat Roboter in den Fabriken installiert, es investiert massiv in künstliche Intelligenz, es ist hoch verschuldet. Kurzum, es hat die gleichen Probleme wie die westlichen Länder: geringes Wachstum, Arbeitslosigkeit und demografische Krise.

Dann kam die Nachricht von Neuralink, dem 2016 von Elon Musk gegründeten Unternehmen, das angab, den ersten drahtlosen Chip in das Gehirn eines Menschen implantiert zu haben. Nach einer Reihe von Tests an Affen und Schweinen wird nun mit Menschen experimentiert, vor allem mit Menschen mit motorischen Problemen. Ziel ist es, die Mobilität einer Prothese über eine drahtlose Verbindung direkt vom Gehirn aus zu stimulieren. Der Chip würde als Knotenpunkt fungieren, der die Signale von Elektroden sammelt, die Bewegungsabsicht des Probanden entschlüsselt und diese Signale an einen externen Roboter weiterleitet. Musk, der von der Washington Post zitiert wird, sagt, das Ziel seiner Forschung sei es, „ein symbiotisches Leben mit künstlicher Intelligenz und Maschinen“ zu erreichen und zur „Verschmelzung von menschlicher und künstlicher Intelligenz“ beizutragen, um zu verhindern, dass die KI die menschliche Intelligenz übertrifft, wenn sie leistungsfähiger und anspruchsvoller wird. Die Telepathie, so Musk, sei ein neues Arbeitsfeld: Sie werde es ermöglichen, „das Telefon oder den Computer und damit fast jedes Gerät allein durch Gedanken zu steuern“.

In dem Artikel „Über den freien Willen“ (2023) haben wir die Aufsätze Natural-Born Cyborgs von Andy Clark und The Extended Mind von Andy Clark und David Chalmers untersucht. Die beiden Forscher argumentieren, dass wir im Laufe unserer Evolution Artefakte geschaffen haben, die uns retrospektiv verbessert haben (Engels: es ist die Hand, die das Gehirn geschaffen hat). Heute sind diese Artefakte keine Prothesen mehr (Speer, Bogen, Gewehr usw.), sondern dringen in uns ein und verwandeln uns in Cyborgs, Wesen an der Grenze zwischen Mensch und Maschine. Die Neuralink-Chips sind an Netzwerke angeschlossen, so dass es schwierig sein kann, festzustellen, wo das menschliche Selbst, in das sie implantiert sind, beginnt und wo es endet. In Natural-Born Cyborgs heißt es:

„Wenn sich unsere Technologien so aktiv, automatisch und kontinuierlich an uns anpassen, wie wir uns an sie anpassen, dann verschwimmt die Grenze zwischen dem Werkzeug und seinem Benutzer. Diese Technologien werden immer weniger Werkzeuge und immer mehr Teil des mentalen Apparats der Menschen sein. Sie werden nur in dem paradoxen Sinne Werkzeuge bleiben, dass sie meine unbewusst arbeitenden neuronalen Strukturen sind.“

Apropos Gewissen, in dem Aufsatz „Gracidamento della prassi“ (1953) wird die zutreffende Auffassung der Revolution bekräftigt. Der Hintergrund ist die Kritik an „Socialisme ou Barbarie“, einer Mitte des letzten Jahrhunderts entstandenen linken Gruppierung, die Theorien entwickelt hat, die noch heute im Umlauf sind. Wir denken an diejenigen, die sich auf die Formel Proletarier gegen Bourgeois beschränken, die sich für die Klassenautonomie, die freie Debatte usw. einsetzen. Diesen Immediatisten antworten wir: „Proletarier gegen Bourgeois ist eine Formel, um die heutige Gesellschaft marxistisch zu beschreiben, keine marxistische Formel für die Revolution. Die richtige Formel ist Kommunismus gegen Kapitalismus. Aber es sind Menschen, die gegeneinander kämpfen! Und wer leugnet das?“ Die Epochen des gesellschaftlichen Umsturzes sind Folge einer neuen Entwicklung der Produktivkräfte: Zuerst verändert sich die produktive Basis, erst danach der Überbau. Dieser Prozess zeigt sich in den Demonstrationen der Landwirte, die sich nicht bewusst geworden sind, was wer weiß was ist, sondern sich auf dem Strom der materiellen Triebkräfte bewegen. Die Mobilisierung der Traktoren breitet sich aus und der nächste Schritt wird die Zusammenkunft in Brüssel, dem Sitz des Europäischen Parlaments, sein. Die Mittelschichten sind die ersten, die sich mobilisieren, weil sie befürchten, dass sie in den Kreis der Besitzlosen fallen könnten.

Erschienen im italienischen Original am 30. Januar 2024, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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Sabotage, Blockaden, Explosionen: Was ist bei den Landwirten los? (Frankreich)

Contre Attaque

Am Freitag, den 19. Januar, bläst eine Explosion das Erdgeschoss der DREAL de l’Aude – der regionalen Direktion für Umwelt, Raumplanung und Wohnungsbau – in die Luft. Ein staatliches Gebäude wird durch eine Bombe zerstört. Zu der Aktion bekennt sich das CAV oder Comité d’action viticole, eine Untergrundgruppe von Weinproduzenten.

Zulässige Zerstörungen

Die Aktion findet im Rahmen einer starken Bewegung in der Welt der Landwirtschaft statt. Zusätzlich zu dieser Explosion gibt es seit mehreren Wochen zahlreiche Sabotageakte, sehr mächtige Autobahnblockaden durch Traktoren, verwüstete Präfekturen… Am 22. Januar wird sogar eine TGV-Linie in der Nähe von Sète von Traktoren blockiert, die Reifen und Müll auf die Schienen schieben.

All diese Aktionen sind beeindruckend. Wir erinnern uns, dass 2008 ein Antiterrorverfahren gegen „Ultralinke“ eröffnet wurde, weil sie eine TGV-Linie gestört hatten: die erbärmliche Tarnac-Affäre. Wir erinnern uns auch an die Massenverhaftungen und Verstümmelungen bei Demonstrationen aufgrund von Sachbeschädigungen, die im Vergleich zu den Aktionen der Landwirte verschwindend unbedeutend waren. Wir erinnern uns an die Anschuldigungen des „Ökoterrorismus“ im Zusammenhang mit den Demonstrationen für die Wasserressourcen in Sainte-Soline. Was die Sprengung eines öffentlichen Gebäudes angeht, so möchte man sich die repressiven und medialen Konsequenzen lieber gar nicht erst vorstellen, wenn dies von einer antikapitalistischen Gruppe ausgegangen wäre.

In diesem Fall ist nichts davon der Fall. Emmanuel Macron fordert die Präfekten auf, sich „die Probleme“ der wütenden Landwirte anzuhören. Gabriel Attal empfängt ihre Vertreter direkt im Matignon. Der rechtsextreme Sender Cnews, der sich sonst über „Verslumung“ und „Gewalt“ Sorgen macht, unterstützt die Bewegung und stellt sein Logo aus Solidarität auf den Kopf, so wie die Landwirte, die Verkehrsschilder umwerfen. Wenn eine Protestbewegung derart von den Medien der Milliardäre und der Regierung gedeckt wird, ist etwas faul.

Ein echtes Unbehagen

Damit wir uns richtig verstehen: Die Landwirtschaft hat allen Grund, sich zu empören. Frankreich ist ein großes Agrarland und zählte 1945 10 Millionen Bauern, d. h. mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Im Jahr 2019 gab es nur noch 400.000 Landwirte, eine Reduzierung um den Faktor 20.

Eine ganze Welt ist verschwunden. Know-how, Geselligkeit, lebendige Landschaften, die getötet wurden. Der Produktivismus hat alles zerstört, die Flurbereinigung der 1960er Jahre hat große Parzellen geschaffen, die in immer weniger Händen konzentriert sind, die Agrarindustrie hat die Bauern in Unternehmer verwandelt, die gezwungen sind, immer mehr zu produzieren, um rentabel zu sein und Subventionen zu erhalten, und das alles mit Pestiziden übergossen.

Heute sind die Landwirte durch die Selbstmorde, die in diesem Beruf sehr zahlreich sind, aber auch durch Unfälle, Krankheiten, Einsamkeit und den Druck der großen Handelsketten hart betroffen. Die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft leiden, das ist unbestreitbar.

In den kommenden Jahren wird ein Großteil der Landwirte in den Ruhestand gehen, und es besteht die große Gefahr, dass große Konzerne Land aufkaufen und Hektar anhäufen, wodurch die produktivistische Logik auf Kosten der kleinen Erzeuger noch verstärkt wird.

Eine Vereinnahmung durch die mit der Regierung verbandelte Lobby der Agrarindustrie

Noch tragischer ist, dass sich diese notleidende landwirtschaftliche Welt in die Arme derer wirft, die für ihre Misere verantwortlich sind.

Derjenige, den man derzeit über die Fernsehbildschirme und in die Regierungsbüros marschieren sieht, heißt Arnaud Rousseau. Man hört ihn im Radio sagen: „Was die Landwirte wollen, ist, ihrem Beruf wieder eine Art Würde zu verleihen“.

Dennoch gehört Arnaud Rousseau zu denjenigen, die die Würde dieses Berufsstandes zerstören. Er leitet die FNSEA, eine mächtige Lobby der Agrarindustrie, die mit der Regierung verbunden ist. Es ist die FNSEA, die den Produktivismus, die neoliberale Landwirtschaft und die Deregulierungen fördert. Es ist die FNSEA, die es den Großbauern ermöglicht, die Kleinbauern zu fressen. Es ist die FNSEA, die die Bauernschaft zerstört hat. Es ist daher verwirrend, dass die Organisation, die für die Unzufriedenheit der Bauern verantwortlich ist, zu ihrem Sprachrohr geworden ist.

Aber es kommt noch schlimmer. Arnaud Rousseau leitet nicht nur die FNSEA, sondern auch einen riesigen Betrieb von 700 Hektar und ist Vorsitzender der Avril-Gruppe, eines multinationalen Agrobusiness-Unternehmens, das sich auf Öl spezialisiert hat und bis 2022 über 9 Milliarden Euro eingenommen hat. Ja, 9 Milliarden.

Die Gründe für diese Rekordzahlen? Die Inflation. Sein Konzern hat seine Umsatzzahlen im Vergleich zu 2021 um 32 % gesteigert und vor allem 218 Millionen Euro Gewinn gemacht, ein Anstieg um 45 % im Jahresvergleich. Rousseau hat sich an der Unterschicht bereichert, die mehr bezahlt hat. Er ist auch Generaldirektor von Biogaz du Multien, einem Unternehmen, das sich auf Biogasanlagen spezialisiert hat.

Arnaud Rousseau hat nichts von einem Bauern, der an sein Land gebunden ist. Er ist ein Unternehmer, ein großer Chef, der über seine Hektar herrscht, wie ein Manager über eine Fabrik herrschen würde. Er ist Absolvent der European Business School in Paris und handelt auf den Finanzmärkten mit Agrarrohstoffen. Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Arnaud Rousseau und dem kleinen Landwirt in der Bretagne, der kaum über die Runden kommt? Keine. Außer, dass der Erste vom Elend des Zweiten lebt.

Die Bauernwelt ist ein Klassenkampf

Kommen wir zurück zur Explosion in Südfrankreich. Im November letzten Jahres versammelten sich fast 6000 Weinbauern in Narbonne, um dem Aufruf der FNSEA zu folgen, und prangerten die katastrophale Situation der Weinbauern im Jahr 2023 an. Zu den Schuldigen gehörten „die extremistischen Umweltschützer“, die ihrer Meinung nach „unhaltbare“ Normen aufstellten.

Die FNSEA forderte von der Regierung Soforthilfen und eine Beschränkung des Wettbewerbs mit ausländischen Weinen, während viele französische Winzer selbst vom Export ihrer Weine profitieren. Die Hauptforderung war also eine Art Protektionismus à la Trump, bei dem alle (außer den Arbeitgebern) als Verlierer hervorgehen.

Immerhin hat das Comité d’Action Viticole das Recht, Bomben zu legen, während jeder soziale Protest mit eiserner Hand niedergeschlagen wird. Das CAV hat übrigens seit den 1960er Jahren zahlreiche Anschläge verübt, darunter die Ermordung eines Polizisten oder die Sprengung einer PS-Parteizentrale in der Nähe einer Schule, ohne dass seine Mitglieder wirklich behelligt wurden.

Ist die Wut der Landwirte dazu verurteilt, von den Lobbyisten des Agrobusiness zur großen Zufriedenheit der herrschenden Neoliberalen vereinnahmt zu werden? Nein. Es gibt auch die Confédération Paysanne, eine linksgerichtete Gewerkschaft, die gegen die produktivistische Landwirtschaft und eher für eine Globalisierungskritik ist und die von der FNSEA propagierten Lösungen anprangert.

Die Confédération Paysanne, die gegen Landgrabbing und Intensivlandwirtschaft ist, kämpft wirklich für die Würde des Berufs, für das Ende der Monopole auf dem Land und für die Rückkehr zum Land.

Im Fall der Winzer betonte die Confédération die Heuchelei der intensiven Landwirtschaft, die dank Subventionen überlebt, und erklärte, dass es keinen Sinn mache, „dürrebedingte geringe Ernten in einem allgemeinen Kontext der Überproduktion zu beklagen“, „während wir Regulierungs- und Solidaritätsmaßnahmen in Betracht ziehen müssen, um die eklatante Verzerrung zwischen bewässerten und nicht bewässerten Sektoren zu begrenzen“, oder positionierte sich gegen den Vorschlag, die isoliertesten Parzellen zu zerstören.

Für eine Landwirtschaft, die die Menschen und die Erde respektiert

Und stellen Sie sich vor, die Confédération Paysanne wird hingegen unterdrückt. Wenn sie die Heckenlandschaft von Notre-Dame-des-Landes gegen ein Flughafenprojekt verteidigt. Wenn sie gegen GVOs oder Pestizide demonstriert. Wenn sie gegen Landgrabbing durch die Agrarindustrie oder gegen Megabassins kämpft. Die Mitglieder dieser Gewerkschaft werden dann mit Reizgas besprüht, festgenommen und in den Medien als gefährliche Protestler dargestellt und nicht mehr als sympathische, wütende Landwirte.

Für die Machthaber gibt es also „gute“ und „schlechte“ Bauernrevolten. Angesichts der Medienberichterstattung über die aktuellen Proteste können Sie sich leicht ausrechnen, welche Interessen vertreten werden.

Aber machen wir uns nichts vor: Keine Lösung wird aus den Vorschlägen zur Unterstützung der industriellen und umweltschädlichen Landwirtschaft kommen. Es ist das Landwirtschaftsmodell, das geändert werden muss, nicht nur die Höhe der Zuwendungen oder die ökologischen Regeln. Der Zorn der Bauern ist zwar berechtigt, die Ziele, auf die er abzielt, sind es jedoch nicht: Es gibt einen Klassenkampf zwischen Großbauern und Kleinbauern, und diesen gilt es wiederzubeleben. Über die Confédération Paysanne hinaus finden überall Experimente für eine andere Landwirtschaft statt, die die Erde, die Vielfalt und das Leben respektiert.

Übersetzt aus dem Französischen von Bonustracks. 

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Es lebe die echte Landwirtschaft (über die Proteste der Bauern IN ItAlien)

Wir veröffentlichen dieses Flugblatt, das am 26. Januar in Trient verteilt wurde, als etwa 200 Traktoren den Verkehr in der Stadt ins Stocken brachten. Es wurde nicht von GenossInnen geschrieben, sondern von TeilnehmerInnen eines Netzwerks des Austauschs von Waren und Arbeit ohne Geld (“Banca etica del tempo” genannt), das auch auf den Plätzen gegen den Grünen Pass und heute auf denen gegen den Völkermord am palästinensischen Volk präsent ist. Da die Frage der Lebensmittel – wie sie produziert werden, welche Beziehung zur Umwelt sie reproduzieren, wie sie verteilt werden – eine entscheidende soziale (und revolutionäre) Frage ist, verdient die aktuelle internationale Bewegung der Bauern und Viehzüchter äußerste Aufmerksamkeit. Sie ist größtenteils autonom und steht, zumindest in Italien, den Gewerkschaften feindlich gegenüber. Sie sprengt den Widerspruch zwischen „Klimakrise“ und „sozialer Krise“ und kann verschiedene Richtungen einschlagen, je nachdem, auf wen und was sie auf ihrem Weg trifft. In Bezug auf die ersten Protestinitiativen im Trient können wir zwei Aspekte hervorheben. Der erste ist, dass der Bezugspunkt derjenigen, die die Veranstaltungen ins Leben gerufen haben, die „Welt ohne grünen Pass“ ist (für die das Weltwirtschaftsforum in Davos der absolute Feind ist). Zweitens hat sich die Nachfrageplattform innerhalb weniger Stunden von eher universellen auf eher unternehmerische Ziele ausgerichtet. Während die erste Version die Digitalisierung (oder „Landwirtschaft 4.0“), neue GVO und Labornahrung ablehnte und eine für die Landwirte günstigere und für die Umwelt weniger verheerende Umstellung der Lebensmittelproduktion vorschlug, schienen in der zweiten Version die kleinen und mittleren Unternehmen vor den Plänen Brüssels und der multinationalen Konzerne geschützt werden zu sollen. Dies ist nicht verwunderlich. Auch die Landwirtschaft ist in Klassen eingeteilt. Aber die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf das Gewissen sind nicht einseitig. Wenn sich fast alle gegen Kunstfleisch und Insektenmehl aussprechen, dann nicht nur, um ihr Einkommen zu sichern, sondern auch wegen eines bestimmten Welt- und Menschenbildes. Was in den Köpfen vorgeht, hat heute also ein spezifischeres Gewicht als in der Vergangenheit. Allianzen und Komplizenschaft beruhen auch auf Vorstellungen von der Gesellschaft und auf Formen des Kampfes. Die breite Sympathie, mit der die Vorbeifahrt der Traktoren begrüßt wurde, kann zu einer aktiven Beteiligung werden. Wie ein Bauer auf sein Schild schrieb: „Unser Ende wird euer Hunger sein“.

(Vorwort terrae libertano)

ES LEBE DIE ECHTE LANDWIRTSCHAFT

Viele von uns stammen aus Dutzenden von „Bauern“-Generationen und jahrhundertelangen Familiengeschichten, aber die Geschichte des Missbrauchs, dem diejenigen, die sich dem Land verschrieben haben, ausgesetzt waren, reicht viel weiter zurück.

Landwirtschaft (von lateinisch àger: Feld / culture: Anbau) ist die hingebungsvolle Pflege des Bodens durch diejenigen, die die Erde lieben und sich somit in der bewussten Erbringung eines Dienstes von hohem sozialethischem Wert erkennen.

Im Laufe der Geschichte wurde der Landwirt in seiner für die gesamte Menschheit so wertvollen Tätigkeit gezüchtigt, verspottet und ignoriert.

Aber Vorsicht: Diejenigen, die das Land bewirtschaften, sind für das Überleben der gesamten Menschheit unentbehrlich, und es scheint, dass niemand dies erkennt, so sehr sind alle von der widerwärtigen Technologie und den abscheulichen synthetischen Chimären verwirrt.

In der Tat ist der Begriff „Bauer“ im allgemeinen Sprachgebrauch bereits mit einem Mangel an Wert und einer unverhohlenen Verachtung behaftet: Landarbeiter, Tölpel, Grobian, Ungehobelter, Landei, Dorfbewohner; Begriffe, die im Gegensatz zu Stadt- oder Schlossbewohnern stehen, vornehme Menschen, gut gekleidet, Bürger…

Schon in den Worten liegt eine Distanzierung, eine unvorteilhafte Abgrenzung, ein Überwältigungswille und eine Abneigung, eine verallgemeinernde Manipulation, so dass jeder einen negativen Gedanken gegenüber denen hat, die eigentlich vom Volk anerkannt, gepriesen, mit allen Ehren bedankt werden müssten.

Das Schlimmste ist, dass die subtile und allgegenwärtige Manipulation in das Denken der Landwirte selbst eingedrungen ist, die diese Bedingungen schon seit langem zu spüren bekommen haben, und mit dem Aufkommen der industriellen Handelsgesellschaft und des Konsumismus haben sie sich in vielen Bereichen noch verschlimmert.

Der Profit als Imperativ ist an die Stelle aller anderen Überlegungen getreten, und das ist der Grundstein jeder kapitalistischen und konsumistischen Gesellschaft wie der heutigen, die zunächst falsche Bedürfnisse, Erwartungen und immer neue Waren schafft und diese dann befriedigt, indem sie jedem Menschen die Lebensenergie aussaugt.

Alles läuft über die Kontrolle des Geldes, des Gewinns, des Profits für eine invasive und perverse Machtausübung durch diejenigen, die erschreckend reich geworden sind und andere und die Erde ausbeuten.

Die Mehrzahl der Menschen hat praktisch den Sinn des Lebens und des Daseins verloren und rennt wie besessen hinter einer Höllenmaschine her, die auf die Selbstzerstörung zusteuert; und auch der Bauer, der in der „Moderne“ zum landwirtschaftlichen Unternehmer geworden ist, rennt mit und übernimmt die Fehler und Laster des Kapitalismus.

Jeder von uns, und insbesondere diejenigen, die sich um das Land kümmern, wenn sie denn wirklich wollen, besitzt in sich die Fähigkeit, innezuhalten und nachzudenken, um sich seiner selbst und seines eigenen Wertes bewusst zu werden und um zu erkennen, wie töricht es ist, einem Rattenfänger hinterherzulaufen wie die Mäuse im Märchen.

Die Erde muss geehrt und respektiert werden und darf nicht von Dieben ausgeraubt werden, die dann davonlaufen und die Wüste verlassen, so wie es die Kaufleute und Kapitalisten getan haben: Sie haben den Bauern-Unternehmer verherrlicht, indem sie ihn zum Industriellen machten und propagierten, dass man immer mehr Waren brauche, um so viele Menschen zu ernähren.

Aber die Produkte der Erde sind Geschenke, Lebensäußerungen und Belohnungen, die die Erde denen bietet, die sie mit der nötigen Liebe pflegen, wie es der wahre Landwirt tun sollte und tut.

Der industrielle Landwirt-Unternehmer hingegen kann das Land auch hassen und verachten: Seine Handlung der unverhohlenen Ausbeutung besteht darin, die Produktionskapazität des Landes mit Stimulanzien bis an die Grenze zu pumpen, ein einziges Produkt zu haben und alles andere zu vergiften, immer mehr Waren auf den Markt zu bringen (und, wenn die Waren zu viele sind, sie zu vernichten, um den Preis nicht zu senken).

Die gesamte landwirtschaftliche Nahrungskette muss sich den so genannten Gesetzen des Marktes unterwerfen, heißt es, und wer sich nicht unterwirft, wird in Wirklichkeit auf tausend Arten eliminiert: nicht zuletzt durch die ungerechten gesetzgeberischen Maßnahmen der Institutionen auf verschiedenen Ebenen, die, dem Willen der „Herren des Planeten“ unterworfen, stets im Interesse einiger weniger auf Kosten des allgemeinen Interesses und der vielfältigen Menschen handeln, die stets eifrig manipuliert werden, um gegen ihre eigenen Interessen und sogar gegen das Leben zu denken und zu handeln…

Es ist wirklich an der Zeit, STOPP zu sagen! Wir müssen NEIN sagen zu all diesen Plänen und mit einem großen Projekt beginnen, um die Landwirtschaft des Lebens wiederherzustellen: Der Landwirt muss sich seines großen Wertes bewusst werden, sich des ethischen Sinns seines Lebens bewusst werden; ein positives Bewusstsein für den Dienst, den er der Erde und allen Menschen anbietet.

Niemand ist ethisch wahrer und erhabener als diejenigen, die sich liebevoll um die Erde kümmern!!! Und auch alle anderen wahren Berufe sollten eine Hilfe und Ergänzung sein.

Alle anderen „Berufe“, die der Marktmaschinerie dienen und nur mörderischen Verbrechern zugute kommen, sind so verwerflich, dass sie aufgegeben und wegen allgemeiner Nutzlosigkeit verunglimpft werden sollten.

Jeder Mensch, der das Leben liebt und sich im Sinne des Lebens seiner selbst bewusst sein will, kann die zentrale Bedeutung der Landwirtschaft als Dienst an der Erde und der Menschheit jenseits von Geld und Profit verstehen.

Gerade indem wir von der Erde und der gemeinsamen Liebe zu ihr ausgehen, können wir die grundlegenden Werte eines jeden Menschen bekräftigen und wiederherstellen. Hier und jetzt, lebendig.

Per Tutti un Mondo Nuovo ARRIVA, Scegliendo Sempre un’Agricoltura VIVA!

Übersetzt ins Deutsche von Bonustracks aus der Version, die am 2. Februar 2024 auf Il Rovescio erschien.  

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DIE LINKE, DER FORTSCHRITT UND DER BAUER

Groupe Révolutionnaire Charlatan

LENIN GEGEN DIE MOUJIKS

„Wie man die Bourgeoisie stürzt, wie man sie unterdrückt, das haben wir gelernt, und darauf sind wir stolz. Wie wir unser Verhältnis zu den Millionen der durchschnittlichen Bauern regeln, wie wir ihr Vertrauen gewinnen, das haben wir noch nicht gelernt, und wir müssen es offen sagen.“

Lenin, Rede auf dem VIII. Parteitag der KPdSU

Im Geschichtsunterricht der öffentlichen Schulen werden die industrielle Revolution, die Landflucht, die Republik gelehrt: All diese großen Etappen des „Fortschritts“ werden als eine ununterbrochene Reihe von zweckmäßigen Veränderungen, nützlichen Anpassungen und willkommenen Verbesserungen der Lebensweise rückständiger Bevölkerungsgruppen dargestellt, deren Verwirklichung das philanthropische Werk einer tapferen und guten städtischen Elite sei, die in den Methoden der wirtschaftlichen Rationalität geschult sei. Von dieser Sichtweise, die im Großen und Ganzen derjenigen entspricht, die man einst von der Kolonialisierung hatte, sind wir noch heute geprägt, wenn wir von der bäuerlichen Welt sprechen.

Die Realität der primitiven Akkumulation, der erzwungenen Entwurzelung der Bevölkerung, des Massakers an der ländlichen Lebensweise sowie an der Region, dem Dialekt und der bäuerlichen Lebensweise wird in vielen linken Kreisen noch heute als positive und notwendige Etappe des menschlichen Fortschritts angesehen, der mit der Entwicklung des Maschinenwesens zu einer Gesellschaft des Teilens und der freien Entscheidung über die Produktionsmodalitäten führen sollte. Kurz gesagt, die Sozialisierung der Lebensgrundlagen, bei der die Industrie als notwendiger Schritt dargestellt wurde.

Der Moujik – der seine Bojaren getötet und ihr Land gleichmäßig verteilt hatte, Tausende von Beschwerdeheften an den Petrograder Sowjet geschickt und massiv für die linken Sozialrevolutionäre gestimmt hatte – wusste nicht, dass man in einem Moskau, das vom Zarismus befreit war, aber nun von der modernisierenden ideologischen Verwirrung des Bolschewismus bewohnt wurde, immer noch gegen ihn intrigierte. Was es brauchte, waren 100.000 Traktoren, und der Bauer würde sich aus dem einzig möglichen historischen Kampf – Proletariat gegen Bourgeoisie – heraushalten. Der Rest seiner Gesellschaft, seiner Existenzweise, seiner Revolution zählte nicht allzu viel, und ein Jahrzehnt später konnte man die als „Kulaken“ bezeichneten Bauern, die das Unglück hatten, zwei Kühe zu besitzen – ein unerträgliches Zeichen „kleinbürgerlicher“ Loyalität -, zu Tausenden verrecken lassen.

Dieses bedeutungsschwere Erbe lässt keine Parallelen zur heutigen Situation zu, da die Bauernschaft in Frankreich so gut wie verschwunden ist; es ist jedoch aufschlussreich für das Ausmaß, das die blinden Flecken der Linken annehmen können, und für die anhaltende Koexistenz mehrerer Gesellschaften, die sich gegenseitig ignorieren. Wir sind der festen Überzeugung, dass der „Revolutionär“, wenn es ihn überhaupt gibt, derjenige ist, der die Revolution macht, unabhängig von seiner Vorgeschichte, seinen Überzeugungen für einen Tag oder für immer; derjenige, der, wenn die Gesellschaft den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt, eine entschlossene Partei für eine neue Welt ergreift.

Wir halten es daher für sinnvoll, ein flüchtiges Bild der ländlichen Welt in der Moderne in Frankreich zu zeichnen, um es dann auf die aktuelle politische Situation zu beziehen. Die revolutionäre Theorie verkündet nicht abstrakt und von oben herab allgemeine Ziele, die einem alten theoretischen System entsprungen sind; sie steigt in die Massen hinab, versucht, die heimlichen Versprechungen der Emanzipation und die unterdrückten Wünsche nach einer gleichberechtigten Welt zu verstehen, die im Herzen eines jeden Menschen wohnen – und indem sie diese geheime Rede in ein System, in ein Vokabular umsetzt, bietet sie allen die Mittel an, die Sprache der Revolution zu sprechen.

DIE BÄUERLICHE WELT SEIT DEM ZWEITEN WELTKRIEG

„Der Mann auf seinem eisernen Sitz sah nicht menschlich aus: Handschuhe, Brille, Gummimaske über Nase und Mund, er war Teil des Monsters, ein Roboter auf seinem Sitz.“

„Und er war stolz auf die geraden Linien, die er gezogen hatte, ohne dass sein Wille eingegriffen hatte, stolz auf den Traktor, den er weder besaß noch liebte, stolz auf diese Macht, die er nicht kontrollieren konnte.“

John Steinbeck, Die Früchte des Zorns, 1939

Wenn man sagen kann, dass der Bauer buchstäblich der Bewohner des Landes ist, der von seinem Boden lebt und durch seine Bräuche, seinen Dialekt und seine Siedlungsweise die soziale und kulturelle Einzigartigkeit seiner Region manifestiert, muss man gleich zu Beginn klarstellen, dass diese Realität nicht die ist, die sich die Rechte vorstellt. Dieser Bauer – der verschwunden ist – lebte in seiner eigenen Zivilisation, durch seine Sprachen, Traditionen, Familien- und Landbesonderheiten, originellen symbolischen und religiösen Systeme. Es war die Dichte dieses Gewebes aus Partikularismen, die das Handeln des Staates, des Steuerprüfers wie des Soldaten, in gewisser Weise blockierte: Wie sollte man sich in einem Raum zurechtfinden, der nicht dieselbe Sprache wie die Verwaltung sprach, nicht dieselbe Methode der Aussaat des Landes praktizierte und die Familiennamen nicht von einem Dorf zum anderen auf dieselbe Weise vergab?

Die Modernisierungsbemühungen bestanden also darin, diese inkongruente Rasse auszurotten, indem man ihr ihre Eigenheiten nahm, ihr Landkatastrisierte, den Familienvater zum obligatorischen Vertreter der Gruppe machte und ihre Söhne durch die Einberufung in den Krieg zum Krepieren schickte. Aber das Land ist zäh, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten diese Vereinheitlichungsbemühungen ihre Endphase.

Die materiellen und sozialen Grundlagen dieser sehr speziellen Welt wurden zur Zeit des Marshallplans durch eine Reihe von Strukturveränderungen und intensiver Maschinisierung hinweggefegt: Hecken und Heckenlandschaften wurden abgeschnitten, Gräben zugeschüttet und riesige Parzellen abgegrenzt, die nun von Traktoren bearbeitet wurden, gesteuert von einer neuen Generation von Landwirten, die von modernisierenden Jesuiten und Dominikanern in den Zentren für landwirtschaftliche Technikstudien ausgebildet worden waren. Der Staat investierte Milliarden in diese Richtung. 1954 gab es in Frankreich 230.000 Traktoren; 1963 waren es 950.000. Die Folge dieser Expansion war die endgültige Enthauptung eines Teils der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die nicht in der Lage war, zu expandieren und zu mechanisieren und somit im Wettbewerb mitzuhalten.

Rationalisierung der Arbeit, Produktivitätssteigerungen, Zerschlagung kleiner Unternehmen durch die Konkurrenz, die ein solides Wachstum und eine Umverteilung an die Bevölkerung im Konsum sicherstellten: nichts Schädliches, wenn man sich ein beliebiges Lehrbuch der liberalen Wirtschaft ansieht.

Aber was wird aus dem Menschen auf seiner eisernen Maschine? Die Familienbetriebe sind verschwunden, seine Nachbarn sind zu Landarbeitern geworden oder in die Stadt gezogen, und nun muss er das Tier füttern: Um in der kapitalistischen Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein, darf man nicht stagnieren. Mehr Land, mehr Dünger, mehr Maschinen. Mehr als bei jedem anderen Thema sind sich die verschiedenen Modernisierungsideologien darin einig, dass die Arbeit auf dem Land eine Knechtschaft ist, eine undankbare Aufgabe, die den Menschen fesselt, ihn auf seinem Stück Land festhält und ihm die Lichter der modernen Welt vorenthält; Die Welt, von der man später herausfand, dass ihre technischen, energie- und wirtschaftspolitischen Bedürfnisse den Planeten ins Verderben stürzten und inzwischen eine Klasse von Lohnarbeitern und Verbrauchern mit einem tristen, repetitiven Leben geschaffen haben, das dem der Arbeiter von einst wahrscheinlich in nichts nachsteht – die gleiche Abhängigkeit, nur mit technischen Spielereien und chemischen Nahrungsmitteln. Auch der moderne Landwirt hat in den agroindustriellen Methoden eine neue Versklavung seiner selbst entdeckt.

Diese neue Abhängigkeit von den Maschinen ist dreifach: Abhängigkeit durch die gigantischen Schulden, die der Kauf von Maschinen und Land mit sich bringt; Abhängigkeit von den agroindustriellen Kreisläufen, die alle weiteren Produktionsschritte steuern und die Landwirtschaftskammern kontrollieren; und schließlich Abhängigkeit von der Maschine und ihrer Eigendynamik. Denn wenn der Nachbar sich einen größeren Traktor kaufen, das Land der Kleinen aufkaufen und übermäßig düngen kann, wie soll er dann zum gleichen Preis verkaufen? Mit dem Wettbewerb und dem Privateigentum konnten die Landwirte wie der Rest der Gesellschaft zu gegenseitigen Henkern werden.

Diese Logik verschärfte sich mit dem Eintritt in die Europäische Union und den Gemeinsamen Markt. Während die Anfänge der Agrarindustrie im wettbewerbsfähigeren Frankreich erfolgreich waren, geriet dies ab den 1980er Jahren ins Stocken; der europäische Markt wurde mit billigeren Produkten aus anderen Ländern überschwemmt, während gleichzeitig die Gründung der WTO und die Unterzeichnung mehrerer Verträge das Ende des Schutzzolls besiegelten.

Artikel 135 des Vertrags von Lissabon verbietet schlicht und einfach die soziale Harmonisierung, sodass es für die Mitgliedsländer unmöglich ist, europaweite kollektive Standards zu fordern, damit die Arbeitsrechte von einem Land zum anderen übereinstimmen. Dies wäre nicht wettbewerbsfähig!

Man kann die Modernisierung also als diese Mischung aus miteinander verknüpften Elementen zusammenfassen: Flurbereinigung, Rückgang der Anzahl der Landwirte, Anstieg der Anzahl der Betriebe, Ende der Mischkultur/Viehhaltung zugunsten von Monokulturen, Abhängigkeit von Maschinen, Betriebsmitteln und Chemie.

Dieser ganze Weg führt uns zur heutigen Situation: Von 2 500 000 Betrieben im Jahr 1955 sind heute nur noch 400 000 übrig, von denen die neuen europäischen Normen breite Scheiben abschneiden werden. Dieser Rückgang ist auch und vor allem der Rückgang der bäuerlichen Landwirtschaft; vor allem aber ist es der Fortschritt eines Systems, das die französischen Böden erobert hat und jeden Tag das Unglück und die Not von Tausenden von Landwirten nährt.

DAS AGRARGESCHÄFT UND DIE FNSEA

Wie bei den Bullen sind diejenigen, die aus den Selbstmorden im Beruf medial Kapital schlagen, oft die ersten, die sie durch die Arbeitsbedingungen und die Geselligkeit, die sie dort installieren, auslösen – eine reaktionäre Gewerkschaft wie Alliance (rechte Polizeigewerkschaft, d.Ü.) ist ebenso wie die FNSEA, die die Firmen und die großen Getreideproduktionen im Norden verteidigt, auch und vor allem dazu da, Karrieren zu verwalten, schmutzige Wäsche in der Familie zu waschen und eine Lobbyarbeit zu organisieren, die den weniger Skrupellosen in der Institution zugute kommt. Die FNSEA ist in dieser Hinsicht besonders mafiös.

Aber der Aufbau des institutionellen und korporativistischen Universums der Landwirtschaft ist mindestens genauso kompliziert wie diese flutwellenartige Umwälzung ihres mentalen und physischen Universums. Die Hektik der Linken, die so schnell wie möglich ihre Kategorien – extreme Rechte, Opposition Basis/Zentrale, Konvergenz, RN-Stimmen und andere voreilige Vergleiche – aufstellen wollen, offenbart eine tiefe Unfähigkeit, die soziale Dynamik bestimmter Sektoren zu erfassen, und das Vorhandensein von Ideen und Beziehungen zum Staat, die sich von den ihren unterscheiden.

Was sagt uns diese Fieberhaftigkeit? Dass ihre verächtliche – und verachtenswerte – Unkenntnis der landwirtschaftlichen Welt, ihrer Brüche und Widersprüche sie daran hindert, sich auf die gegenwärtigen Ereignisse zu beziehen, ohne sich den verkürzten Kategorien einer städtischen und moralisierenden Linken anzuschließen.

Seien wir uns darüber im Klaren: Die FNSEA bleibt mächtig, katalysiert viele Erwartungen und behält viele Hebel in der Hand. Aber wenn es um Revolutionen geht, und erst recht in unserer Zeit des totalen Rückzugs der Klassenpolitik, geben uns die Stimmabgabe oder die Mitgliedschaft in Gewerkschaften nur abstrakt Auskunft über die tatsächlichen politischen Dispositionen der jeweiligen Gruppen. Zahlreiche Kämpfe in der Vergangenheit haben bereits gezeigt, dass die intellektuelle Software der Linken nicht in der Lage ist, die Wünsche, Empfindlichkeiten und Leiden bestimmter sozialer Gruppen zu verstehen. Das galt zum Beispiel lange Zeit für die Jugendlichen in den Vorstädten.

Für Stadtbewohner, die nichts von den verschiedenen „Gesichtern“ der Landwirtschaft wussten, war es schwierig, zwischen dem Bewirtschafter einer kleinen Parzelle, dem Großgrundbesitzer und dem „bäuerlichen“ Geschäftsmann zu unterscheiden. Dies wurde besonders deutlich an der Figur von Arnaud Rousseau, der nicht nur an der Spitze derselben Firmen steht, die das Ausbeutungssystem der Landwirte von A bis Z organisieren, sondern sich auch im Fernsehen als Verteidiger ihrer Interessen aufspielt, um schließlich Maßnahmen zum Schutz eines Wirtschaftsmodells zu fordern, zu dessen Profiteuren er selbst gehört.

Dieses sehr mächtige Agrobusiness ist die notwendige Folge der durch die Flurbereinigung gewollten Größenvorteile: Wenn man riesige Monokulturen anlegt, um nicht eine zu große Vielfalt an teuren Maschinen kaufen zu müssen, verfügt man nicht mehr über die Widerstandsfähigkeit einer Polykultur und hat nur noch zwei oder drei Arten von Produkten, die man auf den Markt bringen kann. Der einzige Absatzmarkt für unsere Produktion findet sich also in der Lebensmittelindustrie. Wenn wir dieses Schema auf allen Ebenen wiederholen, sind wir auch von der Logistik- und Chemiebranche, von Saatgut- und Jungviehlieferanten, von Schlachthöfen usw. abhängig. Überspezialisierung bedeutet zwangsläufig Abhängigkeit von der Industrie auf mehreren Ebenen; und die FNSEA, die in den Landwirtschaftskammern dominiert, hat den Charakter eines mafiösen Arrangements zwischen allen Industriesektoren, vom Zulieferer bis zum Großvertrieb, um aus dem Landwirt maximalen Profit herauszuholen.

Der Bodenarbeitende hingegen ist nun ein in Schulden versinkender Unternehmer-Arbeiter – im Durchschnitt 200.000 Euro. Eine paradoxe Doppelsituation: proletarische Arme mit Kapitalistenschultern, Anschluss an die Technologie und den Welthandel für eine Welt, die als ländlich und abgelegen erlebt wurde. Proletarisiert im Sinne von Marx, weil enteignet von seinem Produktionswerkzeug, im Sinne von Wallerstein, weil ohne die Möglichkeit des lokalen Verkaufs und des Eigenverbrauchs, im Sinne von Debord, weil ohne den Arbeitsplatz seines Lebens. Der Zerfall der lokalen Gemeinschaften erreichte die ländlichen Gebiete und führte, wie in der übrigen modernen Gesellschaft, zu einem Rückgang der direkten Solidarität, zum Aufstieg von Konsumindividualismus, Karrierismus und Mittelschichtdenken, wobei das Bewusstsein einer Entvölkerung die dadurch verursachte soziale Isolation noch weiter verschärfte.

Den Zusammenbruch dieser Welt und den moralischen Schock, die Verlassenheit, die dadurch ausgelöst wurde, zu verstehen, ist unerlässlich, um die Forderungen der Landwirte besser zu begreifen. Die Gelbwesten waren die Peripherie der Mittelschicht: Menschen, denen man denselben Lebensstil versprochen hatte wie den Verbrauchern der oberen Schichten, vor allem in den Städten, und die mit Bitterkeit mit ansehen mussten, wie die Wirtschaftsflaute diese Hoffnungen hinwegfegte. Die Landwirte stammen aus dieser Welt, mit ganz anderen Arbeitsbedingungen: Schließlich ist es zwar möglich, einen Menschen auf den Takt einer Lohnroutine einzustellen – dafür sind die Städte mit ihren Verkehrsflächen, Wirtschaftszonen und riesigen Schlafstätten da -, aber es ist schwierig, dem Land denselben Rhythmus aufzuzwingen. Selbst wenn die Landwirtschaft zu Tode industrialisiert ist, hängt sie immer noch von einer Menge natürlicher und biologischer Parameter ab, die sich nur schwer an die Bedürfnisse des Marktes und der Verwaltung nach Ertrag und Kontinuität anpassen lassen – auch wenn viele Ingenieure das in ihren kranken Träumen anders sehen.

Ein Versuch, dies wieder gut zu machen, findet sich bei einem Teil der Linken, die nun die gleiche Unterscheidung treffen will wie bei den „Muster“-Proletariern der Arbeiterklasse. Es gäbe gute Arbeiter und böse Bosse, gute, aufstandsbereite Gewerkschafts-„Basen“ und reformorientierte, verfilzte „Zentralen“. Und dann die zwangsläufig verhasste RN-Stimme, die in Wirklichkeit in der Verantwortung der Reichsten läge, denn das Gewissen beschränkt sich bekanntlich immer auf die Brieftasche.

Auf Seiten der institutionellen Linken, die ein Meister in der Kunst der Vereinnahmung ist, ist es das Thema Euroskeptizismus, bei dem das Problem liegt. Da die Kritik an der Europäischen Union weitgehend der souveränistischen Rechten und Teilen der extremen Rechten überlassen wurde, sieht sich die institutionelle Linke gezwungen, ihre Argumente auf die Forderung nach Nahrungsmittelsicherheit und besseren Löhnen in der Landwirtschaft zu beschränken. Die Europäische Union zahlt Subventionen an acht von zehn Landwirten – 400.000 von 500.000. Das Projekt der Progressiven stützt sich auf die Landwirtschaftskammern, die vor 100 Jahren als nationale Akteure in der Verwaltung der Landwirtschaft gegründet wurden. Es geht darum, sie zu Stellvertretern der GAP zu machen, um das Überleben der Landwirte zu sichern. Die Umverteilungspolitik wird auf nationaler Ebene vor dem Hintergrund eines tendenziellen Rückgangs der Zahl der europäischen Landwirte verstärkt.

VON DEN GELBWESTEN ZU DEN ‘AUFSTÄNDEN DER MÜLLTONNEN’

Wir versuchen in diesem Text aufzuzeigen, dass es keine Überraschung ist, dass die Minderheitensektoren der Ultralinken angesichts dieser Art von Ereignissen systematisch ultrakonfus sind, unfähig, deren Sinn und Tragweite zu erfassen; und dass einige Grundlagen überdacht werden müssen, damit dieser Sektor, der sich revolutionär nennt, den Aufgaben, die er sich selbst stellt, gewachsen ist. Wir wollen nicht einmal auf das hilflose Gestikulieren der parlamentarischen Linken eingehen, die bereit ist, auf jedem Strohhalm zu reiten, um sich als Verteidigerin eines Volkes aufzuspielen, das sie nicht mehr erkennt. Wir erinnern höchstens daran, dass der ständige Alarmismus in Bezug auf die extreme Rechte ein Bestandteil des verzweifelten Diskurses der Wählerschaft ist, die das Wunder eines aufmüpfigen Wahlsiegs als einziges Mittel verkaufen will, um uns vor der Gefahr der extremen Rechten zu retten. Für uns ist genau diese Entmachtung der Bürger durch die Stimmabgabe ein Hindernis für den Aufbau einer Gegenwehr.

Was auf den Straßenblockaden geschieht, entzieht sich sowohl der Wahllogik als auch der üblichen Funktionsweise des sozialen Dialogs und seiner Vermittler – trotz ihrer Unterminierung durch die Ausübung der macronschen Macht. Wenn ein François Purseigle auf die soziologischen Unterschiede zwischen Landwirten und Gelbwesten hinweist, verfehlt er das Geschehen. Dass erstere eher den CSP+ als den CSP- nahestehen, interessiert uns nicht: Entscheidend ist, dass ein zusätzlicher Sektor der Bevölkerung das institutionelle Monopol der Politik tastend ablehnt.

Vergleiche mit den Gelbwesten machen nur bedingt Sinn: Die Revolte im Winter 2018 ist kein redundantes Element, das dazu gebracht wird, sich zu wiederholen, sondern die Eröffnung einer neuen Sequenz in der französischen Politik. Zu identifizieren und zu vergleichen, ohne die Entwicklungen zu sehen, zeugt von einem gravierenden Mangel an Vorstellungskraft. Nichts wiederholt sich; Trends eröffnen sich, entwickeln sich weiter und verändern sich selbst. Vergleiche sind nur in diesem Rahmen von Interesse, ansonsten nähren sie nur einen defätistischen Fetischismus wie z. B. den der Einnahme der Champs-Élysées, der zwar nicht völlig in den Papierkorb geworfen werden sollte, uns aber in der Regel Zeit und Energie kostet. Es war die ständige Erneuerung, die Fähigkeit, überall aufzutauchen, die die Stärke der Gelbwesten ausmachte. Muss man daran erinnern?

In diesem Fall wiederholt sich die Unmöglichkeit, den Unmut in die gewerkschaftliche Schablone zu pressen, die Kämpfenden in einige vordefinierte Sektoren aufzuteilen und der Bewegung anerkannte Sprecher mit ihren Parolen aufzuzwingen. Diese verselbständigt sich, wie zu Beginn der Gelbwesten, ausgehend von einem auslösenden Punkt und weitet sich auf verschwommene Weise zu einem allgemeinen „Ras-le-bol“ (Überdruss) aus. Dieses verschwommene, aber starke Gefühl ist ein sehr wichtiger Marker: Es verweist auf die Unfähigkeit des Systems, sich selbst zu reproduzieren, auf einen unerträglich gewordenen Widerspruch. Ein Teil der Bevölkerung kann nicht mehr wie früher leben: Das ist bekannt, aber noch radikaler ist, dass sie sich nicht mehr vorstellen können, wie früher zu leben, und dass die Erkenntnis dieses Umschwungs einen Schock auslöst.

Gehen wir noch einmal von der Sequenz 2023 aus: Wir konnten in einem Text zu dieser Zeit [1] sagen, dass das, was sich in den Methoden und in dem diffusen Gefühl eines Umbruchs geändert hatte, sich in den Köpfen und Reden nur schwer ändern ließ. Was die Stärke der Gelbwesten ausmachte – das gemeinsame Gefühl, alles von vorne beginnen zu müssen, um erfolgreich zu sein, die Revolte, die ausbrach, sobald der Wunsch entstand, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen, der ständige Erfindungsreichtum, die Wiederaufnahme alter, veralteter Kampfformen -, gelang bei den ‘Mülltonnen-Unruhen’ nicht. Denn der Erfindungsreichtum war aus der Ausweitung der Parolen entstanden: Jeder erkannte etwas Neues in dem ‘Concorde-Ereignis’ und verstand instinktiv, dass das gemeinsame Gefühl eines totalen Überdrusses hinsichtlich unserer Passivität neue Möglichkeiten schuf; eine Menge bislang unmöglicher Dinge hörten auf, unmöglich zu sein. Es war das Gegenteil von einer Krise, von einem Moment der Blockade: Es war ein Momentum. Daher die wilden, verstreuten Demonstrationszüge, die neuen Parolen, die unerwarteten Konvergenzen, die enorme Motivation.

Was hat dieses Momentum, diesen Schwung verbraucht? Die Unmöglichkeit, dies in die Sprache zu übersetzen, in die Art und Weise, wie wir untereinander über die Situation sprechen.

Diese neue Situation existierte nur ansatzweise im kollektiven Unterbewusstsein. Die repressive Routine der Gewerkschaftsprozessionen und die Machenschaften der Politiker in den Zentralen, die Termine verlegten, die Koordination von Streiks und Aufständen blockierten und die Verlängerung von Streiks einschränkten. All dies wurde nur durch Zufall überrannt. Es fehlte das Bewusstsein für den Gegensatz zwischen zwei unversöhnlichen Willen, dass sich alles ändern und nichts ändern sollte, und dass keine der beiden Seiten diesen Willen klar formulieren konnte. Hätte man sich ernsthaft daran gemacht, diese neue Situation in Worte und Taten umzusetzen, hätte sich das explosive Potenzial der Situation verdreifacht.

Doch die atavistische mentale Software der Linken blieb 30 Jahre in der Vergangenheit stecken, wiederholte die gleichen Banalitäten und ging mit dem gleichen Repertoire auf die Sache ein. Ohne die Rolle der Gewerkschaften, den Nutzen von Praktiken und die Relevanz von Parolen kritisch zu überdenken, sind wir weniger als drei Wochen nach Beginn dieser großartigen Sequenz wieder in die Apathie zurückgefallen. Die kollektive Verantwortung ist groß; unfähig, den Kopf aus dem Arsch zu ziehen, wiederholte der „revolutionäre“ Sektor weiterhin in Endlosschleife seine Slogans, sabberte auf Videos von Krawallen und tolerierte die Anwesenheit des Ordnungsdienstes und der Parlamentarier, die nur darauf aus waren, den Protest zu beruhigen, um ihn besser ausnutzen zu können. Diejenigen, die diese Probleme beklagten, versuchten nicht einmal, sie explizit darzulegen.

WAS UNS DAS ÜBER DIE AKTUELLE SITUATION SAGT

„Vor allem aber: Die Darlegung einer revolutionären Perspektive muss immer darin bestehen, zu beschreiben und zu erklären, was Tag für Tag geschieht; und sie darf sich niemals mit der Lächerlichkeit begnügen, abstrakt allgemeine Ziele zu verkünden.“

Guy Debord, Brief an Afonso Moteiro

Man sollte die Kampfgewohnheiten der Landwirte nicht unterschätzen, die schon immer in der Lage waren, auf spektakuläre Weise zu mobilisieren. Blockaden mit Traktoren, Mist auf Rathäuser, Schweine auf die Autobahn loslassen: Nichts ist völlig neu, außer dem Tempo der Mobilisierung. Die FNSEA wird überholt und kritisiert, die Methoden werden sofort offensiver; was man beobachten kann, ist, dass die Bevölkerung seit den Gelbwesten und in zunehmendem Maße weiß, wie sie mit dem Staat reden muss.

Wir finden einen Teil des Musters der Gelbwesten wieder: Mobilisierung zu einer Aktion, die einer Linken, die von diesem Teil der Bevölkerung völlig abgekoppelt ist, harmlos erscheint; Ausweitung der Parolen auf eine Gesamtforderung zur Lebensqualität, die den Rest der Bevölkerung unisono mitschwingen lässt; teilweise Konvergenz und kritische Überwindung der Gewerkschaften. Wie bei vielen Bewegungen der letzten Zeit kann man schnell beobachten, dass sich der Rest der Bevölkerung von dem Kampf eines einzelnen Sektors angesprochen fühlt, sobald dieser sich aus dem üblichen institutionellen und medialen Rahmen befreit. An diesem automatischen Umschwung zu etwas Kollektivem, diesem informellen Gefühl, dass ein kollektiver Kampf geführt werden muss, müssen Revolutionäre arbeiten; hier müssen sie die Feder führen.

Die Folge ist, dass Politiker aller Couleur versuchen, die Proteste in ihre Kategorien einzuordnen, und dass die Wachhunde des Staates und der FNSEA vorübergehend schweigen, da sie sorgfältig abwarten, bis sich die Situation in eine Richtung entwickelt, in der sie besser mit der Zersetzung spielen können. Sie warten ab, aber sie lassen sich nicht täuschen: Wie bei den Unruhen nach Concorde dauert ihre Verblüffung nur eine gewisse Zeit, danach werden sie den kleinsten Moment der Schwäche zu nutzen wissen, um ihre Rede von der Rückkehr zur Ordnung zu entfalten und die Truppen loszuschicken, um sie zu garantieren.

Angesichts dessen ist zu befürchten, dass die Revolutionäre in ihrer üblichen Haltung verharren und die leeren Phrasen der Ideologie aneinanderreihen, ohne zu verstehen, wie sie die Situation für sich nutzen können. Trotz einiger positiver Entwicklungen seit 2018 müssen wir feststellen, dass wir insgesamt unfähig bleiben, unsere Vorgehensweise und vor allem unsere Art und Weise, die Gesellschaft und ihre Aufstände zu verstehen, zu verändern.

Es ist jedoch gerade die Aufgabe revolutionärer Militanter, über die aktuelle Situation nachzudenken, sie zu antizipieren, zu versuchen, ihr Worte zu geben, ihre unsichtbaren Beweggründe und ihre großartigen Möglichkeiten zu verstehen. Wie es in einem Kommuniqué der Antifaschistischen Aktion Paris-Banlieue sehr treffend heißt, ist die militante Untersuchung ein erstes Mittel, das allen zur Verfügung steht: kommunizieren, untersuchen, Zeugenaussagen sammeln, Beobachtungen liefern. Dies erleichtert sowohl das Gesamtverständnis als auch die Kommunikation mit den kämpfenden Sektoren.

GEGEN DIE KONVERGENZ

Dies ist weder ein Aufruf zur Unterstützung noch eine Aufforderung, sich an der ‚Überlauf Aktion‘ zu beteiligen. Die Landwirtschaft erwartet nichts von uns, und wir erwarten auch nichts Besonderes von ihr.

Die Linke spricht von Konvergenz der Kämpfe, um das künstliche Zusammentreffen getrennter sozialer Bewegungen, Kollektive und Gruppen zu bezeichnen – künstlich, weil dieses Zusammentreffen keineswegs zur Aufgabe der vom System erzeugten getrennten Kategorien führt, sondern sie in ihrer Trennung verstärkt, indem es sich damit begnügt, sie nebeneinander aufzureihen. Die Konvergenz der Kämpfe beruht auf der Existenz einer zentralen Organisation, die damit beauftragt ist, eine programmatische Synthese der spezifischen Interessen der getrennten Kategorien – Studenten, Angestellte, Landwirte, Landarbeiter, Handwerker, Beamte usw. – herzustellen. Das alte leninistische Prinzip gilt nicht: Die Partei besitzt die Klasse, formuliert ihre Interessen und diktiert ihr Verhalten – der Teil wird zum Ganzen.

Wir haben wenig Interesse an den frommen Wünschen nach Konvergenz und der politischen Vereinnahmung, die sich dahinter zu verbergen versucht. Aus den abgeschotteten Positionen der institutionellen und außerparlamentarischen Linken wird nie etwas hervorgehen. Wir lassen uns nicht täuschen, was die Möglichkeiten angeht, die sich insbesondere durch die Untersuchungsarbeit auf dem Gebiet der Mobilisierung eröffnen, um die politischen Sensibilitäten ihrer Akteure zu beeinflussen. Wir weigern uns jedoch, angesichts der Ausweitung der Forderungen und der Aussicht auf eine Ausweitung der Mobilisierung durch den Eintritt anderer Teile der Bevölkerung und der Klasse in die Bewegung – insbesondere LKW-Fahrer und Beschäftigte des Baugewerbes – passive Zuschauer zu bleiben. Wir müssen dabei sein – wenn wir nicht dabei sind -, um die Art und das Ausmaß dessen, was sich abspielt, zu verstehen.

Groupe Révolutionnaire Charlatan

Januar 2024

[1] Ne pas rester au milieu du gué, veröffentlicht im April 2023 u.a. auf Paris Luttes Info

Veröffentlicht am 29. Januar 2024 auf Lundi Matin, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

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Toni Negri: Professor der Revolution

Marcello Tarì

“Der Professor“, so nannten wir jungen Militanten des aufkommenden Altermondialismus unter uns Toni Negri. Ich kannte seine aufrührerischen Schriften schon lange, aber ich lernte ihn erst persönlich kennen, als er Ende der 1990er Jahre aus dem französischen Exil nach Italien zurückkehrte, um den Rest seiner Strafe zu verbüßen, zu der er in einem der berüchtigtsten politischen Prozesse der Nachkriegszeit verurteilt worden war.

Wir begannen uns zu schreiben, als er ins Rebibbia-Gefängnis zurückkehrte – eine Tatsache, die mich sehr empörte -, und ich begann, ihn zu besuchen, als er in die Halbfreiheit entlassen wurde, was auch dank der Freundschaft von Don Luigi Di Liegro gelang. Als er dann in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends endlich frei war und nach Venedig übersiedelte, folgte ich ihm dank der gleichzeitigen Einladung von Luca Casarini, und so arbeiteten wir einige Jahre lang zusammen und trafen uns fast jede Woche.

Es war die Zeit, als er zusammen mit dem amerikanischen Philosophen Michael Hardt Empire veröffentlichte, ein wichtiges Buch für die Entwicklung der neuen Globalisierungsbewegungen, das zu einem der erfolgreichsten politischen Bestseller aller Zeiten wurde.

Subversive Politik

Wie alle Professoren bot er mir, wenn ich in seinem Arbeitszimmer zu Hause saß, das rituelle Glas Weißwein an und befragte mich. Das Gespräch bestand aus einer Flut von Fragen: Er bedrängte einen und forderte einen schließlich auf, einen Gedanken zu äußern, eine Analyse vorzunehmen, ein Urteil zu fällen. Die Note? Man musste sie aus dem Gesichtsausdruck ablesen, einem breiten Lachen, einem wohlwollenden Lächeln oder einem Zischen oder einer vorwurfsvollen Grimasse. Und dann aus den Worten, einer kurzen Bemerkung oder einer langen Abhandlung, mit der er das Gespräch zusammenfassen würde. Aber was fragte der Professor zu diesem merkwürdigen Thema, das wir mit Leidenschaft verfolgten und das man Theorie und Praxis der subversiven Politik hätte nennen können?

„Wie verlief die Demonstration, wer war von den Kollektiven, Gewerkschaften und Parteien dabei, wie war die soziale Zusammensetzung auf dem Platz, was ist passiert? – Und bei der Versammlung, wer hat sich durchgesetzt? – Was passiert an der Universität? Lassen sie dich vom Haken? – Aber dieser Kampf, dieser Streik, dort drüben, was weißt du darüber? Ist er interessant? Kann er gewonnen werden? – Was siehst und hörst du in der Welt, in den Städten, in den Vierteln? – Hast du dieses Buch gelesen? Was denkst du? – Kennst du zufällig diese Genossin, wie steht es damit? – Und du, wie geht es dir, welche Anliegen hast du?“.

Die Fragen waren die Vorbereitung für die politische Arbeit, die gemeinsam zu leisten war: Erhebungen, Zeitschriften, Seminare, Denkfabriken für die neue revolutionäre Politik zu erstellen, zeitgemäße Kampfstrategien zu entwickeln, unsichtbare Pfade im Dschungel der postfordistischen Metropole wiederzugewinnen und zu kartografieren, den gesamten Weg der kapitalistischen Ausbeutung zurückzuverfolgen, um die Angriffspunkte zu finden.

Er lehrte uns geduldig, indem wir gemeinsam diskutierten und übten, wie man jedes dieser Werkzeuge des Wissens in Modelle der politischen Intervention und des Fortschritts im Studium umwandeln kann. Es waren Lektionen voller Begeisterung, und es war leicht, ihn zu lieben.

Gegen die Legende

Im Gegensatz zu der schwarzen Legende des „schlechten Lehrers“, die ihn fast sein ganzes Leben lang verfolgte, besaß Toni in der Tat einige hervorragende und seltene Qualitäten als Professor: großzügige Hilfsbereitschaft, sehr menschliches Mitgefühl und vor allem eine außergewöhnliche Fähigkeit zuzuhören, eine sehr feine Aufmerksamkeit für die Tatsachen der Welt und eine unendliche und wahrhaft gierige Neugierde für die des gewöhnlichen Lebens.

Und bald wurde mir klar, dass all seine berühmten Bücher, seine Analysen, die er in seinem typisch esoterischen Jargon verfasste, seine gewagten theoretischen und existenziellen Schachzüge daraus resultierten, d.h. daraus, dass er das, was er von uns hörte, aufnahm und dann in politische, philosophische und ethische Kategorien übersetzte, so wie er einst den petrochemischen Arbeitern in Porto Marghera oder den Autoarbeitern bei Alfa in Mailand zugehört hatte.

Im Rahmen eines allgemeinen politischen Diskurses, der in eine präzise Geschichtsphilosophie eingebettet war – die er besaß, auch wenn er die Definition nicht mochte -, gab er zurück, was er glaubte, aus dem Leben der Gemeinschaft gelernt zu haben, geleitet von einer echten Leidenschaft für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Das einzige Ende von allem: das Ende der Ausbeutung, der Beginn der Herrschaft des Überflusses, der Kommunismus.

Wenn man ihn fragte, erzählte er, anders als andere Protagonisten der 60er und 70er Jahre, gerne von den alten Zeiten und begann, die Mythologie der Lehre des revolutionären Kampfes vor den Werkstoren, aber auch in Kneipen, auf Plätzen und in Gerichtssälen, auf Dachböden und in Schlafzimmern, in Hörsälen der Universitäten und sogar am Strand zu erzählen.

Denn das war Tonis Obsession: überall und in jedem Fall die Elemente einer möglichen Umkehrung des Machtverhältnisses zum Kapital zu finden. Er erzählte mit Freude von diesen Jahren: seine kleinen, schwarzen Augen leuchteten, als er die Res gestae der autonomia operaia rezitierte; sein Gesicht verfinsterte sich nur, wenn er von seiner Verhaftung am 7. April 1979 und der kriminellen Behandlung sprach, die er in Italien auch Jahrzehnte nach diesen Ereignissen erfuhr, während er im Rest der Welt einer der meistgelesenen und angesehensten zeitgenössischen Denker war. Ein Widerspruch in seiner Existenz, der ihn schmerzte und wütend machte.

Leben und Klassenkampf

Wie dem auch sei, wenn er jede Leidenschaft und jedes Element des Lebens auf die obersten Regeln des Klassenkampfes zurückführt, ist es auch wahr, dass es in ihm eine Art Zynismus gab, der unverdaulich sein konnte. Allerdings muss man hinzufügen, zumindest nach meinem Verständnis, dass der Zynismus in gewisser Weise mit der politischen Praxis im Allgemeinen zusammenhängt. Die Tragik besteht darin, dass Zynismus unweigerlich dazu führt, Wunden zuzufügen und zu empfangen, Verrat zu begehen, sich zu empören und letztlich nur enttäuschen kann. Vielleicht ist dies auch der Grund für eine gewisse Bitterkeit, die in Negris letzten öffentlichen Reden mitschwingt.

In den Tagen, als unsere Beziehung endete, hatten wir zum Beispiel eine sehr hitzige Diskussion über Freundschaft. Während ich argumentierte, dass die Freundschaft die Kraft und die Grundlage für wahrhaftiges politisches Handeln sein müsse, entgegnete er mir, dass ich mich täusche, dass die Freundschaft in der Politik überhaupt nicht notwendig sei und auf jeden Fall auf dem Altar der Notwendigkeit geopfert werden müsse.

Er hatte wahrscheinlich Recht, wenn wir die Realität der weltlichen Politik betrachten, aber ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass ohne Freundschaft, ohne gegenseitige Liebe bis ins Innerste, die ernste Gefahr besteht, das Beste von dem, was wir sind, in uns und untereinander zu demütigen und zu töten. Es ist sehr traurig, daran zu denken, wie viel Schönes wir zerstören konnten, indem wir die Freundschaft im Namen der weltlichen Logik der Politik mit Füßen getreten haben. Doch ich weiß mit Gewissheit, dass dies nie das letzte Wort ist, dass der Geist fähig ist, uns zu überraschen und die größten Wunden zu heilen.

Purer Marxismus

Ganz abgesehen von all den – wie auch immer gearteten – Neuerungen, die in seinem Denken rastlos folgten und für die er heute allgemein bekannt ist, denke ich vielmehr, dass Toni Negri sowohl in der Theorie als auch in der Praxis einer der letzten rein marxistischen militanten Intellektuellen war, im Sinne eines im Wesentlichen orthodoxen Marxismus und eines konsequenten Leninismus. Er glaubte fest daran, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und der sozialen Zusammenschlüsse, die er als linear und progressiv ansah, zwangsläufig zum Kommunismus führen würde.

Davon war er absolut, ich würde sagen fideistisch, überzeugt. Man müsse nur die richtige Formel für die Organisation der Bewegungen finden, um die Trägheit und den Widerstand der Geschichte zu überwinden. In diesem Sinne, aufgrund dieser Überzeugung, war Toni Negri ein Mann, der stark in der Moderne verwurzelt war, in ihren Siegen und Niederlagen. In der Tat hatte ich immer den Eindruck, dass auf theoretischer Ebene alle Neuerungen, die er auf seinem Weg, vor allem in Frankreich und den USA, aufgeschnappt hatte, wenn auch nicht etwas Ornamentales, so doch einfach die Gesamtheit der Dinge, Ereignisse, Instrumente und Subjekte waren, die den harten Gesetzen des historischen Materialismus unterworfen werden mussten, dem, was er ohne jede Ironie die Wissenschaft der Revolution nannte.

Von seinem komplexen Denkmodell – der roten Linie Machiavelli-Spinoza-Marx, wie er es in seinem Werk mehrfach beschreibt – habe ich den radikalen Immanentismus nie verdaut. Radikal deshalb, weil der Immanentismus der Welt sich als „Immanentismus der Subjektivitäten“ verdoppelt: Seine ständige Wiederholung, dass es „nichts außerhalb“ dieser Welt gibt und dass es daher keine Transzendenz, kein Jenseits gibt, weil es nur Materie gibt, die sich verwandelt und dank der lebendigen Arbeit immer intelligenter wird, klang für mich nicht stimmig.

Er lehnte mit Entschlossenheit und sogar mit einem Hauch von Verachtung, vielleicht als Ausdruck einer sakralen inneren Angst, alles ab, was ihm vom Transzendenten, vom Mystischen, vom auf den Materialismus nicht Reduzierbaren berührt schien. Sein Buch über Hiob, seine freudigen Anspielungen auf Franz von Assisi und sogar auf die Herrlichkeit der Auferstehung dürfen nicht in die Irre führen, denn sie alle werden von ihm im Rahmen eines eisernen militanten Atheismus vorgetragen, den er mit Stolz als solchen bezeichnet.

Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Begegnung in seinem Haus in Rom, als ich ihm schüchtern von meiner Leidenschaft für Walter Benjamin, seinem Messianismus und seinem Versuch, die Revolution zu theologisieren, erzählte: aber er wies mich streng zurück und sagte mir wörtlich, dass er ein gefährlicher Autor sei und dass ich aufhören solle, ihn zu lesen. Ich habe diesen Rat nicht befolgt.

Die Macht des Hasses

Die andere Sache, die ich nie wirklich von seiner Lehre übernehmen konnte, obwohl ich es versucht habe, ist die zentrale Bedeutung, die Negri dem Hass sowohl als kognitiver Leidenschaft als auch als rationalem Motor des Handelns beimaß. Ich fragte ihn einmal, was er von einem Buch halte, das ein alter Genosse von ihm herausgegeben hatte und in dem er einige Schlüsselepisoden der Kämpfe der 70er Jahre in Mailand nacherzählte, die einigen von uns jungen Leuten sehr gefallen hatten. Er wurde ernst und sagte mir, dass es ihm überhaupt nicht gefalle und dass er es sogar missbillige, weil es „nicht genug Hass“ enthalte.

Ehrlich gesagt, war ich sprachlos. Ich persönlich habe immer geglaubt, dass ich schon in jungen Jahren die Orte des politischen Kampfes aus Liebe aufgesucht habe, getrieben von einem unbändigen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und Liebe, und ich glaube, dass mich das immer davor bewahrt hat, ein Gefühl des Hasses zu kultivieren, egal gegen wen. Es ist keineswegs wahr, wie Spinoza sagte, dass die Empörung aus dem Hass auf jemanden entsteht, der einem anderen geschadet hat: Ich empöre mich und rebelliere aus Liebe zu dem beleidigten, unterdrückten, gedemütigten Bruder. Aber gerade wegen der Kraft der Liebe kann ich im Kampf selbst dazu kommen, auch den zu lieben, der beleidigt und unterdrückt, also den Feind.

Kurzum, es war unvermeidlich, dass sich unsere Wege irgendwann trennen würden. Vor einiger Zeit sah ich ihn ein letztes Mal, als ich ihn zufällig in einem Berliner Restaurant traf: Er begrüßte mich lächelnd mit erhobener Faust.

In Negris letzten Schriften und Interviews scheint jedoch – jenseits der Notizen der Trauer über den Krieg und der Wut über den fortschreitenden Faschismus – die Liebe den Hass zu überwältigen und zu besiegen; in ihnen schwingt also eine gewisse Religiosität mit, die, auch wenn sie von ihm scheinbar immer in den Begriffen des militanten Materialismus ausgeführt wird, von dem revolutionären Glauben an Jesus Christus berührt wird, den ich und andere seiner alten Studenten wiederentdeckt oder auf dem Weg als Geschenk erhalten haben.

Trotz allem und jedwedem, lieber Toni, unvergesslicher Professor der Revolution, bleibt das Gute, das ich dir gewünscht habe, präsent und lebendig. Wer weiß, ob es dich nicht zärtlich überrascht hätte, dass einige von uns in der Stunde deines Todes für dich gebetet haben und dass wir im selben Moment – wie ich später feststellte – alle hofften, dass der heilige Franziskus an der Schwelle zu jenem „Außen“, das mehr „Innen“ als alles andere ist, da war, um dich mit seinen und deinen Armen aufzunehmen im Frieden und in der Freude des Himmels, um immer wieder das kommende Reich vorzubereiten.

Erschienen am 2. Januar 2024 auf Settimana News, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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Chronik einer unterirdischen Reise

Emanuel Ferreyra

Ich fahre mit der U-Bahn. Buenos Aires ist im Januar vielleicht die lebenswerteste Stadt der Welt – wenn es nicht gerade ein Ofen ist. Neben mir steht ein junger Mann mit langen Haaren, schwarz gekleidet und mit Kopfhörern, und liest ein Buch mit rotem Einband. Ich bin erstaunt über diese Geste: Statt auf sein Handy zu schauen, liest er ein Buch, und um sich beim Lesen besser zu isolieren, hört er etwas, vermutlich Musik, um sich besser konzentrieren zu können. Er liest im Stehen. So wie ich seit Jahrzehnten im Stehen lese, im Bus oder in der U-Bahn. Sogar beim Gehen auf der Straße. Ich kenne diese extreme Form der Konzentration gut, diesen Segen, den diejenigen erfahren, die in den Seiten eines billigen Buches die Rettung vor dem finden, was uns auf der Straße oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln erdrücken würde. Aber dieser junge Mann konkurriert im Gegensatz zu meiner Jugend auch mit dem Mobiltelefon (als ich in seinem Alter war, gab es das noch nicht). Die Neugierde überkommt mich und ich entdecke den Titel des Buches, das er in den Händen hält: „Generación Idiota“, Autor: Agustín Laje. Ein Intellektueller der argentinischen extremen Rechten, der nach meinen Berechnungen etwa zehn Jahre älter ist als der junge Leser neben mir.

Ich kann den Verlag nicht erkennen, aber ich habe das Gefühl, dass es sich um ein sehr aktuelles Buch handelt. Die Szene problematisiert eine Reihe linearer Meinungen, die als Wahrnehmungsblockade (und intellektuelle Blockade) wirken. Liest dieser junge Mann Laje wie ein militanter Linker seinen Feind, um ihn besser kennen zu lernen (wie ich ihn lesen würde, wenn ich ihn lesen würde, und wie Laje selbst Gramsci, Marcuse oder Foucault liest und erklärt)? Oder ist es ein Beweis für das immense und wachsende Publikum von Laje, Tausende und Abertausende von jungen Menschen, die sein Idol dazu antreibt, immer bessere Leser von Büchern zu werden? Unmöglich zu schlussfolgern. An sich schon ein Ding der Unmöglichkeit. Was hingegen außer Zweifel steht, ist die Rehabilitierung des Bücherlesens durch die Intellektuellen der argentinischen Ultra-Rechten, wie man sie heute nennen würde. Junge Leser, die weniger abhängig von Bildschirmen sind als viele ihrer Kritiker (oder sogar gute Praktiker dessen, was CFK in ihrer letzten Meisterklasse empfahl: vom Handy zum Buch zu wechseln). Diese Leser stellen eine mehrfache Herausforderung dar. Einerseits wecken sie eine neue Neugier auf die Art und Weise, wie diese Bücher geschrieben und gelesen werden, die Teil eines neuen Interesses sind, dass das Buch, wie man uns sagt, verloren hatte.

Andererseits lässt sie uns wissen, dass die ideologische Lektüre zu neuem Leben erwacht ist, da neue Formen der Feindschaft durch Argumente und Zitate entstehen. Die Überraschung über eine Bibliophilie der Ultrarechten entlarvt Gemeinplätze über die Lesemuster einer Jugend, die angeblich in einer stumpfen Identität zwischen der Rechten und den sozialen Netzwerken gefangen ist, und bringt uns zu einer Realität zurück, von der man dachte, sie sei in völliger Auflösung begriffen: die Lektüre von Geschichte und politischer Philosophie als eine Notwendigkeit, die so praktisch ist, wie jede andere Art von Militanz sein kann. Und sie wirft Fragen auf, die wir als ideologisch geschulte Leser mitschleppen: Aus welchen Lebensentwürfen entstehen diese Lektüren, die wie Wellen kommen und gehen, mal links, mal national-populistisch, heute ultraliberal?

Veröffentlicht am 13. Januar 2024 auf Lobo Suelto, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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