Sich verschwören und auftauchen

Botschaft an die Revolutionäre in Frankreich

Bei der Revolution geht es um einen Bruch.

Muss die soziale Bewegung gewinnen? Nein. Die Kräfte, die sich als revolutionär bezeichnen, müssen aufhören, sich in Sachen Strategie wie die Zulieferer der Linken zu verhalten. Sie haben nicht die Aufgabe, die Modalitäten eines Kampfes zu überdenken, dessen Ethik, Mittel und Zweck sie nicht teilen. Nihil ex nihilo: Wenn kein effektives Wir aus der Linken hervorgeht, bedeutet das, dass in ihrer Wüste keine revolutionäre kollektive Existenz möglich ist. Sie ist von Natur aus eine konservative Kraft. Ihr Progressivismus ist nur eine Facette der Evolution der politischen Herrschaft. Revolutionäre streben nicht nach einer Modernisierung des gegenwärtigen Zustands, sondern nach dessen Abschaffung. Jeder, der behauptet, er müsse und könne mit dem totalen Elend, das unser Leben beherrscht, zurechtkommen, bevor er es beseitigt, ist ein Todfeind, der nur darauf wartet, entdeckt zu werden oder sich selbst zu entdecken. Angefangen bei den florierenden Politikern und Gewerkschaften, die immer bereit sind, das Martyrium der Ausgebeuteten um ein Jahrtausend zu verlängern, nur damit sie weiterhin einen Verteidiger haben.

Den Mund mit Leichen gefüllt. Das Aufkommen der Gelbwesten hat die Möglichkeit einer autonomen politischen Existenz und Praxis materialisiert. Das späte Eingreifen der Linken in die Bewegung, ihr Bestreben, sie zunächst zu strukturieren und ihr dann eine Führung anzubieten, hat sich als tödlich und dann als nekrophag erwiesen. Tödlich, weil sie die freie Assoziation einem demokratischen Formalismus unterwarf, dessen bemerkenswerteste Wirkung darin bestand, den kollektiven Willen zur Selbstregierung zu zähmen. Nekrophagisch, weil sie die opportunistischen Elemente verschluckte, um sie dann in Form von Kandidaten für die Europawahlen und mittelmäßigen Verbandsaktivisten zu entsorgen. Die im Juni angekündigte Rückkehr zu den Wurzeln reichte nicht aus, um die Fäulnis abzuwenden. Nachdem die Polizei die meisten Kreisverkehre zurückerobert hatte und die Linke die Agenda wieder in die Hand genommen hatte – d. h. ihre Legitimität, den zeitlichen Rahmen des Konflikts festzulegen, wiedererlangt hatte -, blieb den Gelbwesten nichts anderes übrig, als sich während der Demonstrationen gegen die Rentenreform im Dezember im vorderen Teil des Zuges zu verschanzen. In letzter Konsequenz fiel den linken Aktivisten nichts Besseres ein, als die Gelbwesten zu enteignen, um zu versuchen, ihre eigene Ohnmacht zu beschwören. Die Konfliktualität dorthin zu tragen, wo sie historisch notwendig war, ohne sich in den Prozess der radikalen Subjektivierung einzumischen, der am Werk war: Das war der Sinn, den wir, die Revolutionäre in der Metropole, unserem Eingreifen in die Bewegung gegeben haben. Das anfängliche Unbehagen gegenüber der Anwendung von Gewalt wurde angesichts der spürbaren Erfahrung von Revolte und Unterdrückung schnell überwunden. Die terrorisierende Berichterstattung in den Medien, der startbereite Hubschrauber des Präsidenten und die anfänglichen Zugeständnisse gaben der Gewalt sofort Recht. Verschwörungstheorien, die die Randalierer als Provokateure und Infiltratoren bezeichneten, verloren für eine Weile ihre Vernehmbarkeit. Die Linke konnte ihrerseits nur noch durch Abgrenzung existieren.

Schluss mit dem Syndikalismus. Es war ein Fehler, von den Gewerkschaften einen Aufruf zu einem verlängerbaren Generalstreik zu erwarten. Sie haben weder den Ehrgeiz noch die Mittel dazu. Ihren Vereinnahmungsversuchen fehlt es durchweg an Elan. Das einzige Ziel, das ihrer Azephalie gerecht wird, ist die Reproduktion der Beschwörungsrituale ihres Scheiterns und des metaphysischen Marasmus, der den Ausgebeuteten der großstädtischen Zivilisation als mentale Verfassung zugewiesen wird. Die zweite Bewegung gegen die Rentenreform ist keine Ausnahme: Die von den Gewerkschaftsführungen zur Schau gestellte Ökumene strebte keinen Sieg an, sondern war eine direkte Antwort auf die Notwendigkeit, die Kontrolle über die Proteste wiederzuerlangen, von denen man nicht mehr wirklich sagen kann, dass sie nur eine soziale Bewegung sind. Ebenso wie die Bemühungen der Parlamentarier, die lautstark herumfuchteln, um von ihrer faktischen Ohnmacht abzulenken, zielten die Bemühungen der Gewerkschaftsbünde vor allem darauf ab, eine Situation, die außer Kontrolle zu geraten drohte, einzudämmen und zu normalisieren. Unser Widerstand ist nicht taktisch motiviert. All jene, die in die autonomen Debattenräume eingedrungen sind, um dort als einzige Perspektive die Stärkung des Streiks zu verteidigen, haben sich auf dem falschen Weg befunden. Die Annahme, dass die Revolutionäre dort ihre Parolen durchsetzen könnten, scheiterte zweimal. Die Ablehnung der Arbeit hat sich nicht als kleinster gemeinsamer Nenner durchgesetzt, und es gab kein revolutionäres Lager außerhalb der Agenda und der Initiativen der Gewerkschaftsverbände. Man wird die Arbeitsverweigerung nicht mit der Brechstange in einen Protest einbringen, der nunmehr auf die präsidiale Personalisierung der Macht abzielt. Wird es überhaupt gelingen, die Kritik an der Macht in ihrer Gesamtheit vorzutragen und die Frage nach der Ausübung der gesamten Macht über unser Leben zu stellen? Nichts ist weniger sicher. Der Weg scheint frei für Citizenship-Hypothesen.

Wir hassen die Linke und die Demokratie. Wir verschwören uns gegen sie. Wir widerlegen die Vorstellung, dass der revolutionäre Weg den reformistischen Weg kreuzen sollte. Die Annahme, dass die Möglichkeit einer Revolution von unserer Fähigkeit abhängt, eine aufständische und eine legalistische Strategie zu kombinieren, ist völliger Unsinn. Repräsentativität, institutionelles Monopol der Politik und der Gewalt, Unterwerfung der menschlichen Tätigkeit unter eine Produktionslogik, Reduzierung der sozialen Beziehungen auf Konsumhandlungen, ausschließliche Legitimität des Staatsapparats, sich als Garant unseres Überlebens zu erweisen: Die guten Absichten der Linken verbergen nur schlecht die Hölle, die sie uns pflastert. Man muss schon blind sein, um das nicht zu sehen. Aus einer möglichen Annäherung an diese von Natur aus konservative Kraft, die keine andere Perspektive kennt als Kompromisse und Verzicht, kann keine gemeinsame Strategie hervorgehen. Wir sagen, dass Fortschritt und Reaktion zwei Seiten derselben Medaille sind. Kehren Sie einen reaktionären Vorschlag um, und Sie erhalten einen fortschrittlichen Vorschlag. Wenn die Rechte die öffentlichen Dienste angreift, geschieht dies immer im Namen einer bestimmten Vision von Staat und Wirtschaft. Das heißt, im Namen einer bestimmten Vorstellung von der idealen Form der Herrschaft. Wenn die Linke eine bessere Verteilung des produzierten Wohlstands fordert, geschieht dies immer im Namen einer bestimmten Vorstellung von der Rolle des Staates und der potenziellen Positivität der Wirtschaft. Das heißt, im Namen einer bestimmten Vorstellung von der idealen Form der Herrschaft. Die Demokratie hat sich in Frankreich und anderswo als das effizienteste Mittel zur Verwirklichung der politischen Herrschaft etabliert. Weit davon entfernt, das Recht des Volkes, sich selbst zu regieren, festzuschreiben, verankerte sie die Vorherrschaft des Staates bei der Verwaltung aller Aspekte des Lebens. Revolutionäre treten für den Tod der Demokratie ein, denn die Revolution muss, anstatt die Macht in bessere Hände zu legen, diese abschaffen. Wir sind die Partei des Aufstands; die Linke ist die Partei des Friedens. Das, was sie als „unser soziales Lager“ bezeichnet, strebt immer nur nach institutioneller Erneuerung. Es wird es immer vorziehen, die Form der politischen Herrschaft beizubehalten und weiterzuentwickeln, indem es ihr das Gerüst und die Rahmenbedingungen gibt, von denen es sich vorstellt, dass sie am besten geeignet sind, unsere gute Regierung zu gewährleisten, anstatt den Umsturz zu akzeptieren und ihr Überleben zu gefährden. Aus gutem Grund hängt ihre gesamte soziale und politische Präsenz von der Existenz eines kalten Monsters ab, das es zu erobern und sich anzueignen gilt. Der Feind wird nicht von selbst untergehen.

Politische Revolution oder soziale Revolution? Je mehr wir die Modernisierung des Staates zulassen, desto schwieriger wird es, sich aus seinen Netzen zu befreien. Wir wiederholen, wie andere vor uns, dass der moderne Staat nicht immer existiert hat. Wir werden ihn überleben. Wir müssen alles aufbauen, also müssen wir alles ruinieren; reinen Tisch machen und den Staat ins Antiquitätenmuseum stellen, neben das Spinnrad und die linken Abgeordneten. Klären, Partei ergreifen und mit den Mystifikationen der Linken und der Demokratie brechen, ist die Grundvoraussetzung für die Formulierung eines verständlichen revolutionären Horizonts. Um dies zu erreichen, müssen wir aufhören, uns den Problemen verkehrt herum zu stellen. Zunächst einmal müssen wir das Primat der politischen Revolution und ihre unvermeidliche Begleiterscheinung der Vereinnahmung und des Opportunismus widerlegen. Wir wollen eine soziale Revolution. Das heißt, eine Bewegung, die auf der Entwicklung und Vermehrung neuartiger Gesellschaftsformen beruht, die jedem die Freiheit bieten, sein Leben in vollen Zügen zu genießen. Hier muss die Spaltung beginnen. Sie muss zuerst zwischen uns, zwischen den Genossen stattfinden, damit ein Wir existieren kann.

Hic Rhodus, hic salta. Es ist an der Zeit, mit den von der Linken geerbten Vorstellungen vom Sieg zu brechen. Es ist an der Zeit, durch und für uns selbst zu denken. Die Wiederherstellung des Wohlfahrtsstaates ist kein Sieg. Ebenso wenig wie die Entwicklung der politischen Form hin zu einer repräsentativen Republik mit einem stärkeren Verhältniswahlrecht, mehr Instrumenten für Volksabstimmungen, mehr Macht für die Regionen und der Verstaatlichung „strategischer“ Wirtschaftssektoren eine Revolution ist. Auch wenn es den Organisationsfetischisten nicht gefällt: Eine Revolution ist keine Alphabetisierungskampagne. Sie wird uns nicht vom Staat abhängig machen, um uns zu versorgen, zu wohnen, uns fortzubewegen, uns zu finden. Die Revolution wird sich nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben. Sie wird die Autonomie nicht gegen Sicherheit eintauschen. Die Revolution wird Dich in den Fahrersitz setzen. Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Entfremdung lässt sich nicht mit entfremdeten Mitteln bekämpfen. Wenn die Slogans so hohl klingen, liegt das daran, dass die Sprache der Konfliktfähigkeit dem Feind gehört. Die Aufrufe zum „Generalstreik“ rufen in Wirklichkeit zu Streiks auf, die verlängert werden können. Unsere „Krawalle“ sind oft eher eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung. Die „Barrikaden“ sind im schlimmsten Fall Müllentsorgung auf öffentlichen Straßen, im besten Fall Verkehrsblockaden. Die Abneigung gegen die Polizei ist fruchtlos, solange sie nicht klar den Willen zu ihrer Abschaffung formuliert. Die Ablehnung der Rückkehr zur Normalität spiegelt lediglich eine erhöhte Nachfrage nach der Agenda der Gewerkschaftsführung wider. Diese Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen der symbolischen Macht unserer Kategorien und der Ohnmacht der Realitäten, die sie verdecken, wirft Fragen auf. Wir sind ein Jahrhundert im Rückstand. Wir werden ihn nicht aufholen, indem wir immer und immer wieder die überholten politischen Formen verankern, deren wundersame Wiederauferstehung wir von Bewegung zu Bewegung erwarten. Die Aktualisierung unserer Vorstellungen wird das Problem nicht lösen: Wir müssen die Mittel unserer Konfliktfähigkeit und die Aussichten auf unseren Sieg in die Tat umsetzen. Wir müssen wie ein Ölfleck verlaufen, uns wie ein Pulverfass ausbreiten; außerhalb der Bildschirme und Bühnen. Es ist befremdlich, dass Militante das Bedürfnis haben, im Fernsehen aufzutreten.

Wir sind die Anderen. Die „Waffen“ der modernen Sklaven sind abgestumpft. Sie verteidigen nicht einmal mehr. Sich auf sie zu verlassen, bedeutet, von vornherein verloren zu haben. Die meisten Revolutionäre verfolgten eine Strategie, die man als Begleitung der sozialen Bewegung bezeichnen könnte, indem sie versuchten, den Rahmen der Bewegung zu sprengen, um ihr mehr Schärfe zu verleihen, in der Hoffnung, dass die Regierung ihre Rentenreform aufgibt und die Bevölkerung für die Offensive begeistert wird. Von Anfang an wurde die Offensive auf später verschoben. Diese bewegungsorientierte Haltung verbirgt nur schlecht eine kollektive Ohnmacht, deren erste Konsequenz die Unterordnung der Revolutionäre unter das politische und gewerkschaftliche Personal der Linken ist. Sie erkennt deren Hegemonie an. Durch die Verankerung der gescheiterten Formen des Gewerkschaftswesens und der politischen Demonstration wird man unfreiwillig zu einem Rädchen im Getriebe des sozialen Dialogs. Indem man sich fast ausschließlich auf die Stärkung des Bestehenden konzentriert, scheitert man bei der Entwicklung von Neuem. Wir weigern uns, von Streikposten zu Streikposten zu wandern, weil wir uns weigern, zum Ersatzteillager der Linken zu werden. Wir leugnen nicht, dass man dort etwas empfinden und sich treffen kann. Wir sagen nur, dass es Resignation bedeutet, sich damit zufrieden zu geben. Wir befinden uns im Krieg. Jeder weiß das. Mehr als Leutnants brauchen wir Waffen. Neue, effiziente und brillante. Wir werden sie schmieden, indem wir uns mit Orten und Zeiten für Diskussionen und Beratungen ausstatten, indem wir lernen, selbst zu entscheiden und unseren Willen direkt, ohne Mittelsmänner, zu verwirklichen. Wir müssen zu einer selbstbewussten Kraft werden.

Die Anarchie verbreiten, den Kommunismus leben. Eine tiefe Bewegung treibt immer größere Teile der Bevölkerung dazu, eine Veränderung des Lebens in seiner Gesamtheit zu wollen. Es fehlt nur noch das Bewusstsein dafür, was sie bereits erreicht haben und was noch zu tun ist, um ihre Revolution wirklich zu besitzen.

Anmerkung

Dieser Text wurde Anfang Juni 2023 in Form eines Flugblattes verfasst und im Rahmen politischer Diskussionen verbreitet.

Online veröffentlicht am 9. August 2023 auf Paris-Luttes.Info. Übersetzt von Bonustracks. 

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Im Krieg mit der Welt. Für Mario Tronti

Gigi Roggero

Das Porträt einer großen Persönlichkeit spontan zu schreiben, ist immer eine schwierige Aufgabe. Ein druckfrisches Porträt über Mario Tronti zu schreiben, ist fast unmöglich. In diesem kurzen Text skizziert Gigi Roggero die Konturen einiger seiner Denkansätze und verwebt sie mit lebendigen Erinnerungen, die es uns ermöglichen, einen politischen Giganten zu begreifen. In dem Bewusstsein, dass Tronti kein bloßer Exzess in der Geschichte des Marxismus war, sondern in einem starken Sinne eine Ausnahme. Es gibt ein Davor und ein Danach von ‘Arbeiter und Kapital’. Es gibt ein Davor und ein Danach von Tronti. – Vorwort Machina

Wer nicht sieht, wird sehen. Wer sieht, wird geblendet. Daran erinnerte uns Mario Tronti bei seinem leider letzten öffentlichen Dialog im Rahmen des Festivals DeriveApprodi zusammen mit Adelino Zanini. Die zitierte Figur verdrängt die operaistische und kommunistische Tradition. Es ist Jesus. Ein Jesus, der nicht die andere Wange hinhält. Ein sehr Benjaminscher Jesus, der kämpft, um die Vergangenheit zu rächen. Ein Jesus, der die Welt in zwei Hälften teilt. Reich und arm, für das frühe Christentum. Arbeiter und Kapital, für uns. Freund und Feind, im Lexikon des politischen Realismus. Karl und Carl. Lenin und Paulus. Menschen in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt: das ist der revolutionäre Kämpfer. Er schwebt nie in den utopischen Himmeln von anderswo. Er verkriecht sich nie in den opportunistischen Windungen der Gegenwart. Er ist immer da, in und gegen. Nur dann kann er sagen: Ihr werdet uns niemals fangen.

Wir haben oft von der Existenz verschiedener Tronti gehört. Den bis 1967, den nach 1967. Der operaistische Tronti, der Tronti der PCI. Der von ‘Arbeiter und Kapital’ [Operai e capitale], dann der der politischen Theologie. Wir haben nie verstanden, was er meinte, und wenn wir es verstanden haben, waren wir uns nicht einig. Es gibt auch verschiedene Marx, oder verschiedene Lenin, oder wie auch immer man es nennen will. Wir wissen, dass es von Tronti einen und nur einen gab: den Mann, der uneingeschränkt parteiisch war. Von Anfang bis Ende. Nicht einfach ein politischer Denker, wie er richtig feststellte, sondern ein denkender Politiker. 

Und, wie jemand zu sagen pflegte, verlaufen politische Wege nie so geradlinig wie auf dem Newski-Prospekt. Mysteriöse Kurven und Geraden, denen man folgen muss, das wissen wir alle. Man kann über die Biegungen der Wege diskutieren, vor allem in bestimmten tragischen und entscheidenden Passagen. Natürlich kann und muss man über sie diskutieren. Es ist nicht so, dass dies nicht getan worden wäre. Was für uns nicht diskutiert werden kann, ist die Festigkeit seines Standpunktes, seine Bereitschaft, diese verdammt gerade Linie zu gehen. Wer von außen, d.h. vom Ort der Ideologie (der immer ein bürgerlicher Ort ist), schaut, wird viele Widersprüche sehen, grelle, stechende. Wer diese Widersprüche in seine eigene Geschichte einordnet, wird sie verstehen können, nicht um sie zu rechtfertigen, sondern um ebenfalls politische Fehler zu bewerten. Darin hat er sich nie versteckt oder weggeduckt, unser Mario. Er hat sich für jeden Schritt und jeden Fehler gerechtfertigt, er hat nichts bereut. Seine Widersprüche haben sich jedoch immer auf das Aufwühlen der Taktik, nie auf das Aufweichen der Strategie bezogen.

Der Zukunft den Rücken zu kehren, bedeutete ja nicht, die Gegenwart zu unterwandern. Es bedeutete und bedeutet immer noch, „den Gegner ruhig zu stellen, um ihn besser treffen zu können“ – wie er in seinem berühmtesten Buch schrieb. Und wer sich über einen neueren Tronti mokiert, der sich auf sich selbst, auf den Spiritualismus, auf die Innerlichkeit besinnt, zeigt, dass er guckt, ohne zu sehen. Denn darin gründet die Suche nach einem nicht-spiritualistischen Geist, nach der Stärkung der antagonistischen Subjektivität in der feindlichen Zitadelle, nach einer kommunistischen und nietzscheanischen, also nicht-demokratischen Freiheit. Mit sich selbst im Frieden zu sein, um gegen die Welt in den Krieg zu ziehen. Von einer Basilia ohne Basileus, einem Königreich ohne König. Auctoritas versus potestas: da hat er mutig den Gedanken vorangetrieben. Ein prophetischer Gedanke, kein Supermarktwissen der Talkshowschwätzer und derer, die mit dem Strom schwimmen. Es ist die Fähigkeit, das zu sagen, was andere nicht hören wollen, unter die dicke Schicht der Banalität und der öffentlichen Meinung zu blicken.

Verwirren, sagten wir am Anfang. Wie unsere großen Meister, die lehren, ohne sich das anzumaßen, hatte Tronti immer die Fähigkeit, einen zu verunsichern. Wenn man an einem vermeintlich festen Ankerplatz ankam, stellte man fest, dass er in Wirklichkeit in Bewegung war, und man musste erneut einen Sprung machen, um einen weiter entfernten Ankerplatz zu erreichen. Er liebte das Oxymoron, so wie er sich selbst als „konservativen Revolutionär“ bezeichnete. Nein, das hat nichts mit einer Vorliebe für Provokationen zu tun, es geht um nichts anderes als das Mario l’épater la bourgeoisie. Es ist die riskante Fähigkeit, sich dort zu bewegen, wo die Gefahr am größten ist, wie es der geliebte Hölderlin vorschlägt. Im Widerspruch, eben, um ihn zum Motor des subversiven Denkens zu machen. „Vom Äußersten ausgehend werde ich bis zum Ende wiederholen: diese Form des Lebens und der Welt ist nicht zu akzeptieren!“. Die Politik des Sonnenuntergangs war nicht gleichbedeutend mit Verzicht, ganz und gar nicht. Noch einmal: Man kann darüber diskutieren, ob dort, wo Mario einen tragischen Sonnenuntergang sah, nicht auch die Möglichkeit für neue Morgenröte bestand. Und doch ist wieder einmal eines sicher: Wir müssen leninistisch bereit sein. Die neuen Widersprüche erkennen, die zentralen. Und bereit sein, sich von den Clinamen verrücken zu lassen, vorwärts zu springen. Mit der Entschlossenheit eines Menschen, der den Feind besser kennenlernen will, als der Feind sich selbst kennt. Mit der Neugierde, seine Freunde auch an Orten zu suchen, die weit von dem Ort entfernt sind, an den man sich begeben hat. Vor allem, wenn man dort immer weniger Freunde vorfand, wo man sich wiederfand.

Abschließend noch einige persönliche Erinnerungen. Die, wie Mario über das Buch sagte, „unter einer Bedingung eine gewisse Wahrheit enthalten können: wenn alles in dem Bewusstsein geschrieben wurde, eine schlechte Tat zu begehen“.

Es war der 8. August 2000, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Wir recherchierten über den Operaismus. Es passiert nicht jeden Tag und auch nicht in jedem Leben, dass man die Verkörperung nicht eines Buches, sondern ‘des Buches’ trifft. Ein Buch, das so außergewöhnlich ist, dass es sich selbst geschrieben zu haben scheint. Jeder Satz ein Satz gegen die Bosse und die bürgerliche Lebensweise. Ja, denn Tronti war der unumstößliche Hass auf die Bosse und die bürgerliche Lebensform. Am 8. August vor dreiundzwanzig Jahren war ich überrascht, als ich ihn mit einem kleinen schwarzen Kätzchen namens Pasquale spielen sah. Dann erzählte er uns, dass Pasquale einmal mit einer Maus im Maul aufgetaucht war und alle bürgerlichen Frauen in der Umgebung davonliefen. Die Bourgeoisie hatte Angst, kommentierte er zufrieden und streichelte Pasquale..

Dieser Hass in Mario war nicht zu mindern, schon immer. Es war ein konstituierender Hass, die Politik begann dort. Im Jahr 2004 nahm er an einer Tagung über Gewalt und Gewaltlosigkeit teil, ein schreckliches Thema, das er schnell abtat: Der Gegensatz besteht nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern zwischen Gewalt und Zwang. Wieder einmal steht die eine Seite gegen die andere Seite. Es geht darum, sich für ein Lager zu entscheiden. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Dann, nachdem er sich geduldig das Geschwafel über den nach Opportunismus stinkenden Pazifismus angehört hatte, schaltete er sich mit seiner kraftvollen Ruhe ein. Ohne zu schreien, das ist nicht nötig, wenn es Worte sind, die explodieren. Er füllte jedes Wort mit Gedanken, denn Tronti wiederholte nie das bereits Bekannte: er sprach mit Gedanken, er sprach denkend. Und das ist eine außerordentliche Seltenheit, selbst in unseren Kreisen. Er sagte nur: „Es geht darum, wie wir sie zur Rechenschaft ziehen können“. Der Frost fiel in das Blut der Vielen, das Feuer entfachte sich in den Köpfen der Wenigen. Ja, denn Mario kam immer auf den Punkt. Er hat die Dinge immer an der Wurzel gepackt. Und die Wurzel, das wissen wir inzwischen, liegt ganz oben. Man muss dorthin gelangen, um zu entwurzeln und neu zu pflanzen.

Das letzte Mal, dass ich von ihm hörte, war am vergangenen Freitag, als er mir einige Hinweise zu seinem letzten großen Projekt, ‘Per un atlante della memoria operaia’, gab. Bis zuletzt kultivierte er seine Rüben im Garten, wie in seinem Zitat von Montaigne: „meine Rüben sind die Konflikte zwischen den Menschen, frei und antagonistisch organisiert, entweder um die Welt zu erhalten, wie sie ist, oder um sie von unten nach oben zu stürzen“.

Mario Tronti war nicht nur ein Exzess in der Geschichte des Marxismus, sondern in einem starken Schmittschen Sinne eine Ausnahme. Operaist und Marxist, also nicht marxistisch. Es gibt ein Davor und ein Danach, Operai e capitale. Es gibt ein Davor und ein Danach von Tronti. Zwischen jenem bahnbrechenden 8. August und diesem schrecklichen 7. August, davor, danach und vor allem für das, was du geschrieben hast, für das, was du gesagt hast und für dein nachdenkliches Schweigen, danke ich dir, dass du uns gelehrt hast, das zu werden, was wir sind. Dass du uns gelehrt hast, die Welt anzuschauen. Sie erneut zu betrachten, sie neu zu betrachten, sie zum ersten Mal zu betrachten. Zu sehen, was wir vorher nicht gesehen haben. Und zu verstehen, dass allein der Blick auf diese Welt genügt, um sie radikal zu hassen.

Der wohl schönste Nachruf auf Mario Tronti erschien, wenig verwunderlich, auf Machina, und wurde von Bonustracks nach bestem Wissen und Gewissen ins Deutsche übertragen. 

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Xeniteia – Kontemplation und Kampf

Mario Tronti und Marcello Tarì

Gestern, am 7. August 2023, ist Mario Tronti im Alter von 92 Jahren gestorben. Den meisten Leser*innen wohl bekannt als einer der führenden Theoretiker des Operaismus (siehe dazu auch unsere Übersetzung “Unser Operaismus”) dürfte sein “späterer” Weg, die “Heimkehr” in die PCI, deren Zentralkomitee er später sogar angehören sollte, ebenso befremdlich erscheinen wie zahlreiche seiner Veröffentlichungen, die nach dem Scheitern des Operaismus entstanden sind. Dieser, nun erstmals auf deutsch vorliegende Text (soweit uns bekannt), den er gemeinsam Marcello Tarì verfasst hat, der international vor allem durch sein Buch “There is no unhappy revolution” (Welches leider immer noch nicht auf deutsch vorliegt; die englische Übersetzung des Vorworts als PDF bei Ill Will Editions) bekannt geworden ist, und von dem immerhin der “Brief an die Freunde der Wüste” auf deutsch bei Sunzi Bingfa veröffentlicht wurde, dürfte ergo erstmal hierzulande für Verwirrung sorgen. Publiziert im Mai 2020, in der Frühphase der Corona Pandemie, widmet er sich Fragen, die in Italien und Lateinamerika, in denen die ‘Arbeiterpriester’ ebenso wie die ‘Theologie der Befreiung’ Zuhause sind, nicht so fern des antagonistischen Diskurses erscheinen wie hierzulande. Wie auch immer, diskursive Irritationen zu setzen, ohne selbst Teil des Diskurses zu werden, ist eine Herzensangelegenheit von Bonustracks, insofern ist diese Übersetzung mehr als zwangsläufig. Redaktion Bonustracks

Der Wahrheitsgehalt dieser in den gesunden Menschenverstand eingegangenen Idee, dass wir in apokalyptischen Zeiten leben, ist sehr zweifelhaft. Die verschiedenen Diskurse, die sich in der Infosphäre tummeln, vermitteln den Eindruck einer gewissen Oberflächlichkeit, eines allgemeinen Erliegens gegenüber dem „Spektakel“ der Apokalypse, aber sicher nicht ihrer Annahme in einem wirklich prophetischen Sinne. Die Vorstellungskraft der Massen wird eher von Hollywood-Filmen und Fernsehserien inspiriert als von dem großen Buch, das Johannes in seinem Exil auf Patmos geschrieben hat.

Die Notwendigkeit – denn es ist eine Notwendigkeit -, den abweichenden Diskurs, den wir hier vorschlagen, einzuführen, entspringt nicht diesem Virus, sondern kommt von weiter und tiefer her. Eine prophetische Stimme des zwanzigsten Jahrhunderts hat gesagt, und davon gehen wir aus, dass die wahre Katastrophe darin besteht, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Heute sind wir schlicht und einfach geblendet von einer zivilisatorischen Malaise, die immer tiefer in unsere Existenzen eindringt und uns zeigt, wie der Kapitalismus, wenn er es nicht schon immer war, zu einem „Modus der Zerstörung“ und nicht zu einem Modus der Produktion geworden ist. Wir würden somit sagen, dass die aktuelle globale Pandemie diesen Zustand der Welt nur offenbart hat.

Allerdings wird die Apokalypse im üblichen medialen Sinne nicht als eine Anfechtung der Welt, genauer gesagt der „Weltlichkeit“, verstanden, wie es in der apokalyptischen Tradition immer der Fall war, sondern als eine paradoxe Bejahung derselben.

Man ist so sehr vom Weltgeist umhüllt und durchdrungen, dass Beweise unsichtbar werden und Lügen als Beweise erscheinen. Das ist auch der Grund, warum es uns heute so notwendig erscheint, die Haltung jener ersten Mönche der christlichen Ära einzunehmen, d.h. die Haltung der Entfremdung, xeniteia im Griechischen der Väter und peregrinatio im Lateinischen, in Bezug auf die herrschende Gesellschaft und die eigene soziale Identität. Das ist offensichtlich.

Fremde zu werden, „in der Welt, aber nicht von der Welt“, auch zu versuchen, den Sinn der „sozialen Distanzierung“ zu untergraben, der von einer Maßnahme der Prophylaxe schnell in eine Maßnahme der Verschärfung der bereits extremen Atomisierung von Männern und Frauen umzuschlagen droht, und stattdessen jenes „Pathos der Distanz“ als Aufgabe zu übernehmen, die Nietzsche den freien Geistern nicht nur als Kritik des Atomismus, sondern als die affirmative Art und Weise, in der sich jede lebendige Kraft zu einer anderen verhält, gestellt hat.

Es ist oder sollte ziemlich bekannt sein, dass die Beziehungen zwischen dem frühen Christentum, dem Mönchtum und der späteren kirchlichen Struktur mit der historischen und in gewissem Sinne theologischen Geschichte des Kommunismus – verstanden als eine universelle Befreiungsbewegung, die sich nicht allein auf den Marxismus reduzieren lässt – selbst in gewissem Sinne ursprünglich sind.

Wenn Ernst Troeltsch über die apostolischen christlichen Gemeinschaften und die ersten Jahrhunderte von einem „Kommunismus der Liebe“ sprach, so stellte Walter Benjamin ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen fest, dass die vom modernen Kommunismus gepredigte klassenlose Gesellschaft nichts anderes als eine Säkularisierung des messianischen Reiches ist. In diesem Sinne sollten wir vielleicht den berühmten Schmitt’schen Satz, der besagt, dass „alle Begriffe der Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind“, durch den Satz ergänzen, dass „alle Begriffe der revolutionären Lehre säkularisierte theologische Begriffe sind“.

Bei näherer Betrachtung sieht es so aus, als ob in der Geschichte des Kommunismus die beiden fraglichen Aspekte, die Theorie des Staates und die Theorie der Revolution, an einem bestimmten Punkt zusammentrafen, sich dann bekämpften, sich dann integrierten und schließlich zu einem gemeinsamen blinden Fleck gelangten, im Gegensatz zu der der Kirche, in der Institution und Aufhebung als in ein und demselben Gefäß enthalten erscheinen, das im Laufe der Geschichte von der einen Seite und von der anderen geschwungen wurde, ohne dass eine der beiden Kräfte jemals von der anderen vernichtet wurde und vollständig verschwand, und dies ist eines der „Geheimnisse“, die wir untersuchen möchten. Tatsächlich lassen sich weder das Christentum noch der Kommunismus auf Doktrinen reduzieren oder vollständig in einer Institution identifizieren: Wann immer dies geschehen ist, hat es in einer großen Katastrophe geendet. Beide sind in erster Linie Teil einer Geschichte, einer lebendigen Tradition, die für beide ursprünglich eine der Unterdrückten, Ausgebeuteten, Gedemütigten und Beleidigten ist.

Aber wenn die Entstehung eines „Christentums ohne Religion“ in der Moderne, wie Dietrich Bonhoeffer scharfsinnig diagnostizierte, später einem Kommunismus ohne Dogmatik entspricht, muss man zugeben, dass die schwierige zweitausendjährige Lebensdauer der Kirche nicht mit der Dauer der Partei oder des Staates übereinstimmt, die sich nur über ein paar Jahrzehnte erstrecken.

Der brasilianische Bischof Helder Camara sagte: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, sagt man mir, ich sei ein Heiliger; wenn ich frage: Warum haben die Armen kein Essen, sagt man mir, ich sei ein Kommunist. Angesichts dieses Diskurses ist es daher ziemlich merkwürdig, wenn Reaktionäre bestimmte Persönlichkeiten in der Kirche, die zugunsten der Armen und mit den Armen predigen oder handeln, als „Kommunisten“ beschuldigen, obwohl es ganz offensichtlich ist, dass der Kommunismus in der jüdisch-christlichen Tradition immer einen zerbrechlichen Fuß in der Tür gehabt hat. Aber es stimmt auch, dieser Hinweis auf die Gewohnheit, wenn es um den Bereich des Kommunismus geht, d.h. wenn diejenigen, die theologische Fragen, angefangen natürlich mit der Eschatologie, aufwerfen, ihrerseits als „Häretiker“ behandelt oder einfach nicht verstanden, wenn nicht sogar bemitleidet oder verspottet wurden und werden.

Ivan Illich hat argumentiert, dass entgegen der landläufigen Meinung die heutige Zeit trotz und gerade wegen der so genannten Säkularisierung, der Tatsache, dass das Christentum in der Welt eine Minderheit ist, und sogar wegen seiner Perversion als Religion, die bisher vollständigste christliche Epoche ist. Jenseits des so genannten Todes von Ideologien und des historischen Scheiterns von Verwirklichungen könnten, ja sollten wir vielleicht sagen, dass die Gegenwart auch für den Kommunismus eine Epoche der Fülle ist, wenn wir nur durch den dichten Nebel des Mediengeschwätzes sehen könnten.

Wir interessieren uns besonders für die Geschichte des Mönchtums, angefangen bei der ältesten, der der Wüstenväter, über die Erfahrungen an den Rändern und außerhalb der Institution, man denke nur an die Bettelorden und die berühmte Häresie des Freien Geistes, bis hin zu den vielen zeitgenössischen Erfahrungen unsichtbarer Gemeinschaften, in denen das Einsiedler- oder Zönobitentum praktiziert wird. Die Wette, die wir mit der nötigen Bescheidenheit und aller möglichen Vorsicht eingehen wollen, besteht also darin, uns quasi als Jünger in die lange Reihe jenes Mönchtums zu stellen, das sich im Laufe der Jahrhunderte der Welt, wie sie war, fremd gemacht hat, und sie nicht einfach abzulehnen, sondern sie zu bekämpfen. Das ist kein Vorschlag für eine fuga mundi, kein Verteidigungsmechanismus, sondern die Eröffnung einer neuen Angriffsfront, die andere Fronten nicht aufgibt, sondern sie ergänzt, nachdem die spezifischen Bedürfnisse der Zeit gemessen und überprüft worden sind.

So glauben wir, in den verschiedenen Praktiken, auch den interreligiösen, die Möglichkeit zu erkennen, darüber nachzudenken, was es für uns heute bedeutet oder bedeuten könnte, eine kontemplative und eine kämpferische Dimension zusammenzuführen. Denn die Berufung, der Ruf des Mönchs und der Nonne, besteht nicht nur darin, auf das eigene Innere zu hören und es zu pflegen, sondern auf den Schrei der Wirklichkeit zu antworten und ihm zu gehorchen. Wenn man nur nach innen schaut, öffnet man unweigerlich dem Dämon der Traurigkeit die Tür, während das Wort „Kontemplation“ auf einen freien Blick zum Himmel verweist, der zum Handeln anregt.

Das Mönchtum hat die großen Fragen des Zusammenlebens, des Bewohnens des eigenen Ichs und der Welt und des Zeugnisses des „messianischen Reiches“ gestellt und versucht, sie auf unterschiedliche Weise zu lösen, die alle noch zu untersuchen sind. Ein Reich, so wurde uns verkündet, das bereits unter uns ist. Wenn wir es wollen. Das sind Fragen, die revolutionäre Bewegungen seit jeher durchziehen und die viele von uns in den letzten Jahren beschäftigt haben, ohne dass sie einen überzeugenden Gedanken und eine überzeugende Praxis entwickelt haben. Umso mehr heute, in einer Zeit der radikalen Aufhebung des gesellschaftlichen Lebens, die nicht nur die Formen der Produktion, sondern vor allem die Formen des Lebens selbst in Frage stellt.

Weltliches Leben und Himmelreich, Einsamkeit und Gemeinschaft, Institution und Aufhebung, Stärke und Gnade, Geist und Gesetz, Kontemplation und Kampf, jedes dieser Wortpaare bringt uns zurück zum Geheimnis der Welt, der Geschichte und dem, was wir die Dimension des Jenseits nennen würden.

Ein großer Philosoph des 20. Jahrhunderts, der etwas in Vergessenheit geraten ist, Brice Parain, der vor allem ein ungewöhnlicher Kommunist und ein ungewöhnlicher Christ war, schrieb in den 1940er Jahren, dass mit den Sowjets in Russland der erste monastische Orden der heutigen Zeit geboren wurde, und dass gerade zum Kommunismus die kontemplative Dimension des „Schweigens“ gehörte, ein kämpferisches Schweigen in Erwartung des Wortes. Zu verstehen, was Parain mit dieser „bizarren“ Theorie gemeint hat, und sie zu vertiefen, könnte ein weiteres Thema sein, das in diesem Raum der Reflexion und der Untersuchung angesprochen wird, den wir als rastlose Forscher mit einer Kolumne erproben, die gleichzeitig auf zwei Websites erscheint: quieora.ink und dellospiritolibero.it. [Beide Websites existieren nicht mehr, d.Ü.]

Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks. 

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Wunderbare Tropfen der Sonne inmitten des Betonlabyrinth

Groupe Révolutionnaire Charlatan

Notizen zum Aufstand Juni/Juli 2023

„Ihr habt sie dem Labyrinth überlassen;

Sie sind euer Schrecken und ihr seid ihre Furcht. […]

Schindet euch selbst! Seid willkommen, Schmähungen!

Es ist, um euch zu erlangen, Schmähungen, Zorn, Wut,

Dass wir, die Kämpfer des Volkes, leiden,

Da der höchste Ruhm aus Beleidigungen besteht“.

Victor Hugo, „À ceux qu’on foule aux pieds“, L’Année terrible, 1872.

UMARMUNG

Zwischen dem 27. Juni und dem 4. Juli 2023 kam es zu einem Aufstand der Bevölkerung in den Ghetto-Vierteln. Die Ermordung des 17-jährigen Nahel durch die Polizei wegen einer ‘Gehorsamsverweigerung’ in Nanterre (92) entwickelte sich zu einer Woche der allgemeinen Revolte, die bis in die Stadtzentren reichte. Die zunehmende Verstärkung der Ordnungskräfte war zunächst nicht in der Lage, die Kontrolle über die Straße zurückzugewinnen.

Bereits am zweiten Abend schossen bewaffnete Aufständische auf Videoüberwachungskameras. Am dritten Abend wurde ein Waffengeschäft in Vitry-sur-Seine (94) geplündert und die Polizei in Cayenne (97) beschossen. Am vierten Abend wurden Gewehre aus einem Waffenladen in Marseille (13) entwendet und Polizisten in Vaulx-en-Velin (69) und Nîmes (30) mit Schusswaffen angegriffen. Zehntausende Polizisten und Elitetruppen, die auf die Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens spezialisiert sind – RAID, GIGN und BRI – mussten in den Kampf geworfen werden, um den Aufstand niederzuschlagen, unterstützt von mehreren Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen. Bis zu 45 000 von ihnen waren im ganzen Land im Einsatz, was der Größe eines Armeekorps entspricht.

Die Aufständischen, die größtenteils aus der Ghetto-Jugend stammten, erklärten der Polizeiherrschaft – die gerade die Grenzen dessen überschritten hatte, was eine ganze Generation zu akzeptieren bereit war – und der Herrschaft von Politik und Wirtschaft über ihr Leben mit einer einzigen Geste den Krieg. 

Als echte Exilanten aus dem Inneren selbst, die in dem Land, in dem sie geboren wurden, zum universellen Fremdsein verurteilt waren, machten sich die Aufständischen keine Illusionen: Ihre Ausgrenzung ist die Grundlage und das Überleben dieser Gesellschaft, die ihnen keine Zukunft verspricht. Die Aufständischen lehnten falsche Versprechungen und hohle Lügen ab und verwüsteten systematisch und kompromisslos die Instrumente der Herrschaft: Rathäuser, Polizeistationen, Schul- und Kulturräume, Bankfilialen, Videoüberwachungskameras, Geschäfte, Verkehrsmittel. Am zweiten Abend versuchte eine Gruppe von Aufständischen, das Gefängnis von Fresnes (94) zu stürmen, um die dort inhaftierten Häftlinge zu befreien. Jedes Ziel enthüllte eine weitere Sackgasse des Labyrinths aus Beton und Kontrolle, mit der sie sich nicht abfinden wollten. Entgegen anderslautenden Behauptungen brannten die Aufständischen nicht „ihre Quartiere“ nieder: Sie verbrannten die Lager- und Disziplinarhöllen, die Macht und Wirtschaft für sie errichtet hatten.

Ob es der Linken und den Führungsschichten – Soziologen, Stadtplanern, Richtern, Lehrern, Rathausangestellten und Konsorten – passt oder nicht , dies umfasst sowohl das Rathaus von Le Val Fourré in Mantes-la-Jolie (78) als auch die Angela Davis Schule in der Stadt Bézons (95) und das Einkaufszentrum Croix-Blanche in Le Mée-sur-Seine (77). Im Gegensatz zu den Behauptungen der politischen Klasse und der Kommentatoren in den Medien gab es keine Rückkehr zur Normalität. Im Gegenteil. Da jede sicherheitspolitische Aufrüstung ihre Rechtfertigung in der Wiederherstellung der Ordnung fand, reagierte die politische Macht auf die Revolte mit der Ausweitung des Ausnahmeregimes: Einsatz von Elitekräften für Ordnungsaufgaben, Systematisierung harter Haftstrafen, Kriminalisierung der Eltern minderjähriger Angeklagter, Zensur sozialer Netzwerke, illegale Festnahmen mutmaßlicher Aufständischer durch Militärs in Zivil, Bevormundung der Richter und der Justiz durch eine Exekutive, die gerade erst die Legislative zu Grabe getragen hatte, usw. 

Offiziellen Angaben zufolge gab es mehr als 11.000 Brände auf öffentlichen Straßen, fast 6.000 verbrannte Fahrzeuge und über 1.000 – nach Angaben der parlamentarischen Rechten bis zu 2.500 – schwere Sachbeschädigungen an Gebäuden, darunter mehr als 100 Rathäuser. Mehr als 250 Kommissariate, Gendarmeriekasernen und Posten der städtischen Polizei wurden angegriffen. Mehr als 700 Polizisten und Gendarmen wurden bei den Zusammenstößen verletzt, etwa zehn von ihnen durch Schüsse aus scharfen Schusswaffen oder Schrotmunition. Mehr als 200 Bildungseinrichtungen wurden beschädigt. Unter den 1.000 Geschäften, die ins Visier genommen wurden, befanden sich etwa 200 Lebensmittelgeschäfte – von denen 30 in Schutt und Asche gelegt wurden -, 250 Tabakläden und 300 Bankfilialen. Schließlich berichtet der Verband der Bürgermeister Frankreichs, dass 150 Kommunalpolitiker, hauptsächlich Bürgermeister, während des Aufstands bedroht oder angegriffen wurden. Fast 3.400 Personen wurden festgenommen, darunter 

30 % Minderjährige mit einem Durchschnittsalter von 17 Jahren; 95 % der Festgenommenen wurden verurteilt, 600 wurden inhaftiert. Nach Angaben des größten Arbeitgeberverbands MEDEF hätte der Aufstand die Unternehmen eine Milliarde Euro gekostet, ganz zu schweigen von den Verlusten durch die Stornierung von Buchungen und die erzwungenen Schließungen. Am dritten Abend wurde in Cayenne in Französisch-Guayana (97) ein Mann, der die Zusammenstöße von seinem Balkon aus beobachtet hatte, inmitten der Live-Übertragung bei France Info durch eine verirrte Kugel erschossen, möglicherweise durch Schüsse der Polizei. Am selben Tag kam es in Molenbeek in der Nähe von Brüssel zu Zusammenstößen. 

In Panik geraten, reagierte die Polizei in Lüttich mit rund 30 präventiven Festnahmen am nächsten Tag und schwärmte aus, um eine mögliche Ausbreitung der Gewalt zu verhindern Am vierten Abend starb ein Mann auf einem Motorroller in Marseille (13), vermutlich durch einen Beschuss mit einem LBD, und ein weiterer Mann wurde von der RAID in Mont-Saint-Martin (54) ins Koma geschickt, nachdem er von einer ‘Sitzsackmunition’ in den Kopf getroffen worden war. Am nächsten Tag wurde ein Mann von einem Team der BAC in Marseille zum Sterben zurückgelassen, nachdem sie ihm mit einem LBD in die Schläfe geschossen und ihn dann am Boden liegend verprügelt hatten, was zu einem geplatzten Aneurysma führte. Am sechsten Abend wurde die Stadt Lausanne in der Schweiz, wo am 28. Februar ein Mann von sechs Polizisten getötet worden war, als Echo auf den Mord an Nahel in Aufruhr versetzt.

DIE KLARHEIT INMITTEN DER KONFUSION

Das revolutionäre Ereignis ist eine Klärung bestehender Probleme durch Taten. Und die Reaktionen, die es auf allen Seiten hervorruft, enthüllen immer die verschiedenen Nuancen des Denkens seiner Gegner. Da diese aufständische Jugend keinen Anführer hatte; da sie sich als eine sich selbst genügende Kraft konstituiert und anerkannt hatte, die mächtig genug war, um die politische Vereinnahmung und ihre Erpressung mit Forderungen abzulehnen, war dies der Moment der Wahrheit in jedem Lager. 

Die Regierung hielt die Gewalt für unentschuldbar und schloss von vornherein jede Aussicht auf einen sozialen Dialog mit den Aufständischen aus, da sie der Meinung war, dass diese Rolle ihren Eltern zufalle. Am 30. Juni bezeichneten zwei Polizeigewerkschaften – Alliance und Unsa Police – die Aufständischen als „Schädlinge“, riefen den (Bürger-)Kriegszustand aus und kündigten an, dass sie die mobilisierten Ordnungskräfte bei allen Aktionen unterstützen würden, auch wenn diese tödlich enden würden. Am nächsten Tag riefen Beamte der CRS 8, einer Kompanie, die auf die Bekämpfung von „städtischer Gewalt“ spezialisiert ist, bei der Telefonzentrale von Sud Radio an und erklärten, dass das Verprügeln der Bevölkerung ihnen „Gefühle verschaffe, die zu einer Erektion führen“. Am nächsten Tag wurde diese Kompanie zur Verstärkung nach Lyon (69) geschickt, um der Bitte des dortigen Bürgermeisters, des Grünen-NUPES Grégory Doucet, um Verstärkung nachzukommen. Die Linke, die in der gegenwärtigen Zeit nur noch durch Distanzierung existiert, stand in der ersten Reihe, um zu Ruhe und Beschwichtigung aufzurufen. Sabrina Sebaihi, Abgeordnete der Grünen-NUPES im Departement Hauts-de-Seine (95), wartete nicht lange, um die Unruhestifter zu geißeln, und stellte umgehend ihre eigenen Bürger als „Wilde“ dar. Der Exekutivausschuss der CFDT, der zweitgrößten Arbeitnehmergewerkschaft des Landes, verurteilte die Gewalt im Namen der Verteidigung des Privateigentums an den heiligen öffentlichen Diensten. Die gesamte politische Klasse Frankreichs nahm Anstoß an den Bränden in Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Man muss sagen, dass der öffentliche Dienst das Nonplusultra in Sachen Weichzeichnung der sozialen Kontrolle darstellt. Dieser Deckmantel ist das Alpha und Omega jeder politischen Intervention, die darauf abzielt, die ghettoisierten Viertel in ihrer künstlichen Lethargie zu halten. Religiöse Institutionen haben es nicht versäumt, sich als Verteidiger des Status quo aufzuspielen: Am Tag nach Nahels Ermordung rief der Bischof von Nanterre, Monsignore Rougé, dazu auf, „ein Klima der dauerhaften Befriedung wiederherzustellen“ – und buchte gleichzeitig seine Tickets, um an der Sommeruniversität einer fundamentalistischen katholischen Organisation im Loir-et-Cher (41) teilzunehmen. Auch der französische Rat der Muslime reagierte am Tag nach der vierten Nacht der Gewalt ähnlich.

Die Organisationen, die sich auf das Thema Polizeigewalt spezialisiert haben, konnten ihren Vorgarten verteidigen und ihre Repräsentativität in der Linken behaupten. Das Leben und die Erinnerung der Opfer von Polizeigewalt gehören niemandem im Besonderen: Zwar trauern natürlich die Angehörigen, doch die Zentrierung auf die Familie im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit ist nichts Naturgegebenes. Diese Personifizierung ermöglicht es den Kollektiven, die sich für die Verurteilung von Polizeigewalt einsetzen, immer noch, eine Verkörperung in den Medien zu finden und sich als Vertreter der „Vorstädte“ zu etablieren. 

Die Revolte, die durch Nahels Tod ausgelöst wurde, hatte jedoch keine Anführer. Sie hatte jedoch den Anstand, nicht an die staatliche Justiz zu appellieren, die darauf spezialisiert ist, Polizistenmorde reinzuwaschen und arme Menschen reihenweise ins Gefängnis zu stecken. Die „Gerechtigkeit“, die sie forderte, war das genaue Gegenteil von dem, was in den Gerichten geboten wurde. Wir glauben nicht, dass es eine gerechte Verurteilung gibt, deren Schwere es uns erlauben würde, von einem Sieg gegen die Polizeigewalt zu sprechen. Wir sind so ehrlich, dies zuzugeben, im Gegensatz zu denjenigen, die es zu ihrem Beruf machen, den Protest gegen das staatliche Gewaltmonopol in die Sackgasse zu schicken. Denn genau das tut die Linke, ob politisch oder in Vereinen, ob weiß oder in den Vorstädten, wenn sie „trauert und zornig ist“ und erklärt, dass „die Eskalation der Gewalt eine Sackgasse ist und aufhören muss“. Die einträchtige Linke gehorcht Macron: Die verantwortlichen Erwachsenen verbergen ihren Paternalismus nicht mehr und halten der aufständischen Jugend eine Moralpredigt. Als ob diese nicht wüsste, dass Gewalt die Toten nicht zurückbringt. Und als ob sie nicht verstanden hätte, dass die Bürgermärsche sie nicht nur nicht mehr zurückbringen, sondern nicht einmal die Mörder vor Gericht bringen. Es hat sieben Jahre gedauert, bis drei der vier Polizisten, die im Februar 2017 in Aulnay-sous-Bois (93) in den Angriff und die Verstümmelung von Théo Luhaka verwickelt waren, vor Gericht angehört wurden. Für die Linke spielt das keine Rolle: Was zählt, ist die moralische Überlegenheit, die ihr ihre Opfer- und Verliererstrategie verleiht. Morgen ist es wie gestern: Die Linke wird wie immer daran scheitern, die „Schläge“ zu verurteilen; so wie sie daran gescheitert ist, die BRAV-M aufzulösen, wird sie auch daran scheitern, das Gesetz von 2017 über die ‘Ausweitung der Selbstverteidigung’ von Polizisten aufheben zu lassen. Aber wir können beruhigt sein: 13 politische Organisationen, 39 Kollektive, 28 Vereine und 9 Gewerkschaften haben sich zusammengeschlossen, um weitere Bürgermärsche zu organisieren.

Alle, die so weit gingen, die scheinbaren Rechtfertigungen für den Zorn der Aufständischen und der Bewohner der ghettoisierten Viertel zu sehen, alle Denker und Verantwortlichen der Linken und ihres Nichts beklagten die Plünderungen, die Unordnung und die Tausenden von Brandherden, mit denen diese aufständische Jugend ihre Schlachten und Feste beleuchtete. Aber wer hat die Aufständischen in den Worten verteidigt, die sie verdienen? Wir werden es tun. Lassen wir die Ökonomen über die eine Milliarde verlorener Euro weinen, die Städteplaner über ihre in Rauch aufgegangenen Infrastrukturen und Supermärkte und Darmanin über seine im Feuerwerk entflammten Truppen; lassen wir die Soziologen über die Absurdität und den Rausch dieser Revolte lamentieren. Es ist die Aufgabe einer revolutionären Publikation, den Aufständischen nicht nur Recht zu geben, sondern auch dazu beizutragen, ihnen ihre Gründe zu liefern, die Wahrheit, deren Suche die praktische Aktion hier ausdrückt, theoretisch zu erklären. Die Revolte in den ghettoisierten Vierteln enthüllt, wenn sie sich konsequent durchsetzt, die Widersprüche des am weitesten fortgeschrittenen Kapitalismus. Die theoretische Kritik an der modernen Gesellschaft, in ihrer radikalsten Form, wird durch diese Kritik in der Praxis derselben Gesellschaft erhellt. Diese beiden Kritiken erklären sich gegenseitig; da sie einzeln für sich unverständlich sind, bleiben sie für das falsche, fortschrittliche und miserable Bewusstsein der Linken völlig undurchschaubar.

CONSUMMATUM EST

Die seit 2005 erwartete allgemeine Konfrontation war bislang nur das Spektakel einer möglichen Konfrontation gewesen. Die Demonstrationen der ghettoisierten Jugend waren von den aufeinanderfolgenden Regierungen und dem strukturellen Rassismus in einer Gleichgültigkeit gehalten worden, die die schlimmsten Gewalttaten der Ordnungskräfte zuließ. Die Zunahme der Skandale, die größtenteils durch Amateurvideos aufgedeckt wurden, die über soziale Netzwerke und Massenmedien zugänglich gemacht wurden, hatte vor allem dazu beigetragen, die öffentliche Debatte über „Schläge“ und Rassismus bei der Polizei zu befeuern, die mittlerweile ein Dauerthema ist. Diese Debatte blieb jedoch weit hinter den Anforderungen der Zeit zurück, insbesondere weil sie sich weigerte, ernsthaft die Frage nach der Auflösung der Polizei in einem Regime zu stellen, das eben nur noch durch die Polizei zusammengehalten wird. 

Die ghettoisierte Jugend ist es gewohnt, auf Polizeigewalt mit lokal begrenzten – 2007 in Villiers-le-Bel (95), 2009 in Saint-Étienne (42), 2010 in Grenoble (38), 2018 in Loire- Atlantique (44) – oder diffusen Zusammenstößen – 2005 und 2017 – zu reagieren. Diese Zusammenstöße nähren immer noch die legalistische Strategie, die die Frage der Polizeigewalt aus moralischer Sicht stellt, die Bewohner der ghettoisierten Viertel in eine Opferhaltung zwängt und die Autorität der Rechtsinstitution festschreibt, auf die sie sich krankhafterweise weiterhin beruft. Das zentrale Thema der „Vorstadtunruhen“ ist das Problem der ghettoisierten Lebensumstände der Jugendlichen. Dieses wird jedoch systematisch ausgeklammert, entweder verleugnet oder unter der Rhetorik des Mangels an öffentlichen Dienstleistungen ertränkt. Und das aus gutem Grund: Für diejenigen, die die Führung dieser Gesellschaft anstreben, ist es unmöglich, diesem Problem ins Gesicht zu sehen. Aus diesem Grund wird die tiefere Natur der Auseinandersetzungen immer wieder vernachlässigt, um auf ihre Einzigartigkeit, den „Tropfen auf den heißen Stein“ und letztendlich auf die falsche Lösung des öffentlichen Dienstes – d.h. die Steuerung durch eine gute Regierungsführung – zurückzukommen.

Die grundlegende Tatsache ist, dass die Bewegung für die Anerkennung und Verurteilung von Polizeigewalt mit legalen Mitteln nur legale Probleme aufwirft. Nun ist es irrational, angesichts offensichtlicher Illegalität legal zu betteln, als wäre sie ein Unsinn, der sich von selbst auflöst, sobald er den Augen aller ausgesetzt ist. Es ist offensichtlich, dass die oberflächliche, empörend sichtbare Illegalität, die immer noch auf die ghettoisierten Viertel angewandt wird, ihre Wurzeln in einem wirtschaftlichen und sozialen Widerspruch hat, der über die Zuständigkeit der bestehenden Gesetze hinausgeht. Dass kein zukünftiges juristisches Gesetz die Grundgesetze dieser Gesellschaft, in der die ghettoisierten Jugendlichen es wagen, das Recht zu leben einzufordern, ungeschehen machen kann. 

Denn das ist es, worum es hier geht. Ob sie das Stadium des organisierten Überlebens, auf das sie diese Gesellschaft reduziert, überwinden können, hängt direkt von ihrer Fähigkeit ab, ihr eine totale Subversion aufzuzwingen. Die Notwendigkeit einer solchen Subversion ergibt sich natürlich immer dann, wenn sie zu illegalen Mitteln greifen. Der Übergang zu solchen Mitteln geht jedoch weit über den Rahmen und die zeitliche Begrenzung der Aufstände hinaus: Er findet in ihrem täglichen Leben statt und bestimmt einen nicht unerheblichen Teil der Szenen und Gesetze. Es ist dieser Einfallsreichtum, den die Polizei, die Justiz und die Politiker als „Kriminalität“ bezeichnen und der in Wirklichkeit die Summe der Beugungen und Absprachen widerspiegelt, auf denen die Möglichkeit eines verbesserten Überlebens in den ghettoisierten Vierteln beruht. Wir erleben nicht die Krise der ghettoisierten Jugendlichen in unserer westlichen Gesellschaft, sondern die Krise des Status dieser Gesellschaft, die in erster Linie unter den ghettoisierten Jugendlichen auftritt.

Im Gegensatz zu dem, was die extreme Rechte behauptet, und jenseits der funktionalistischen Obszönitäten der Soziologie und ihrer aktivistischen Multiplikatoren, lässt sich der Konflikt nicht auf eine ‘Rassenfrage’ reduzieren. Und er darf vor allem nicht auf die Frage der ‘Rassifizierung’ reduziert werden. Erstens teilte sich die ghettoisierte Jugend nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern organisierte sich nach Affekten (Freundschaft, Vertrauen) und territorialisierten materiellen Bedingungen (das Gebäude, das Viertel). Zweitens erstreckte sich die Gemeinschaft der Aufständischen nicht auf nicht-weiße Ladenbesitzer, Autofahrer, Angestellte und politische Vertreter. Carlos Martens Bilongo (Schwarzer Abgeordneter, der für NUPES im Parlament sitzt, d. Ü.) ging seinen eigenen Weg. Die Gemeinschaft der Aufständischen hingegen konnte sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Erfahrung mit staatlicher und polizeilicher Gewalt über ihre ursprüngliche Zusammensetzung hinaus ausdehnen. Sicherlich waren solche Bündnisse nirgends von vornherein ausgemacht. An manchen Orten haben sie sich sogar als unmöglich erwiesen. Organisierte Banden haben das Recht, ihre illegalistischen Aktionen durchzuführen, ohne sich der erstbesten Person zu öffnen.

Die Revolte, die nach Nahels Tod das Land erfasste, war eine Revolte gegen die Ware und gegen die Hierarchien, auf denen die Warenwelt beruht. Die ghettoisierte Jugend ist eine Klasse, die insgesamt keine Zukunft hat, ein Teil des Proletariats, der nicht an echte Aufstiegs- und Integrationschancen glauben kann. Diese Klasse nimmt die Propaganda des modernen Kapitalismus, seine Werbung des Überflusses, beim Wort. Sie will alle zur Schau gestellten und abstrakt verfügbaren Gegenstände sofort haben, weil sie sie benutzen will. Damit lehnt sie deren Marktrealität ab. Durch Diebstahl und Weiterverkauf hat sie eine Verwendung gefunden, die die unterdrückerische Rationalität der Ware sofort widerlegt. Die allgemeine Plünderung manifestierte die summarische Verwirklichung des Prinzips: „Jedem nach seinen falschen Bedürfnissen.“ Das heißt, Bedürfnisse, die vom wirtschaftlichen Werbesystem bestimmt und produziert werden und die die Plünderung gerade ablehnt und verleugnet. Dieser Überfluss wurde beim Wort genommen, sofort gelebt und nicht endlos im Teufelskreis von Arbeit und Kauf fortgesetzt. Ohne die Vermittlung durch den Chef, den Polizisten und das Geld wird der Konsum total; die Wünsche und auch die Bedürfnisse, mit denen sie sich verbinden, werden wahrhaftig gestillt. Derjenige, der die Waren zerstört, weigert sich, in den willkürlichen Formen gefangen zu bleiben, die seinem Bedürfnis auferlegt wurden. Er zeigt seine menschliche Überlegenheit gegenüber den Waren. Die Konsumation, der Übergang vom Konsum zur Erfüllung, wurde in den Flammen von Nanterre, Marseille, Neuilly-sur-Marne, Lyon, Straßburg, Roubaix usw. vollzogen. Natürlich stellten diese Plünderungen nur Leerstellen im Warenzyklus dar. Erstens, weil keine Beute das Elend aufhebt. Zweitens, weil die Aufständischen nicht ihre gesamte Beute nutzten, sondern einen Teil davon weiterverkauften. Was das Strafgesetzbuch als „Hehlerei von Diebstahl“ bezeichnet, stellt sich letztlich als Kapitalismus der Armen dar, als eine verkürzte Form der proletarischen Wiederaneignung. Sie ermöglicht zwar die Wiedererlangung eines Teils des Reichtums, dessen die Klasse beraubt wurde, hebt aber den Marktzyklus nicht auf, sondern verschiebt ihn außerhalb der Grenzen des Gesetzes. Aber wie das Sprichwort sagt: Wir wollen Geld, während wir auf den Kommunismus warten.

ALLES VERLEUGNEN WIRD LEBENSWICHTIG

Die Überflussgesellschaft findet ihre natürliche Antwort in der Plünderung, die die Ware als solche augenblicklich kollabieren lässt und ihre Ultima Ratio offenbart: die Gewalt, die Polizei und andere spezialisierte Abordnungen, die im Staat das Monopol auf Waffengewalt besitzen. Was ist ein Polizist? Es ist der aktive Diener der Ware, es ist der Mensch, der völlig der Ware unterworfen ist, durch dessen Handeln das Produkt menschlicher Arbeit eine Ware bleibt, deren magischer Wille es ist, bezahlt zu werden, und nicht vulgo eine Zigarettenschachtel, ein Waschmittelkanister oder irgendein anderes passives und gefühlloses Ding, das dem Erstbesten unterworfen wird, der es benutzt. Die Aufständischen wissen das: Sie könnten zehn Jahre lang plündern und würden nicht einmal die Hälfte des Geldes zurückbekommen, das ihnen in all den Jahren an diesen Orten des Konsums gestohlen wurde. Die Menschen in den ghettoisierten Vierteln, die an den Rändern der Metropolen, in denen sich der maximale Reichtum ausbreitet, zusammengepfercht sind, sind davon mehr als alle anderen getrennt. Insbesondere jene, die Paris, das französische Hyperzentrum des Wohlstandsspektakels, in ihrer direkten Nachbarschaft wissen. Man verspricht ihnen, dass sie mit Geduld und Willenskraft zu einem gewissen Prozentsatz zu meritokratischem und konsumorientiertem Wohlstand gelangen werden.

Aber jeder Schritt in Richtung dieses Wohlstands entfernt sie unaufhaltsam davon, weil sie benachteiligter, weniger qualifiziert und leichter arbeitslos, käuflich und auf Gedeih und Verderb austauschbar ist. Die kapitalistische Gesellschaft spricht der Ghetto-Jugend jeden menschlichen Wert ab, weil ihre Menschlichkeit in der modernen Wirtschaft keinen Marktwert hat und sie aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen wird, bevor sie ihn überhaupt betreten hat. Im Supermarkt, wo sie sich durch Konsum verwirklichen soll, ist sie in den Augen der Wachmänner und Kameras immer verdächtig. Weil es „der Ort der Entbehrung ist, der reicher geworden ist“, verlässt sie ihn immer ärmer, aber nie satter. Die Hierarchie, die sie erdrückt, ist nicht nur die der Kaufkraft als reine wirtschaftliche Tatsache: Sie ist eine essentielle Minderwertigkeit, die ihr in allen Aspekten des täglichen Lebens durch die Sitten und Vorurteile einer Gesellschaft auferlegt wird, in der alle menschliche Macht auf die Kaufkraft ausgerichtet ist. So wie sein individueller Reichtum stets verachtet und verdächtigt wird, kann ihn auch Geldreichtum nicht wirklich reich – und damit in der republikanischen und rassistischen Entfremdung akzeptabel – machen. Da er gezwungen ist, die Armut einer hierarchischen Wohlstandsgesellschaft zu repräsentieren, wird der ghettoisierte Jugendliche nie als vollwertiger Reicher angesehen, sondern immer als erfolgreicher Vorstadtbewohner. Umgekehrt wird er vom progressiven Misérabilismus immer wieder nicht auf seine individuelle Armut, sondern auf eine bestimmte Darstellung der Armut, die er zu verkörpern gezwungen ist, reduziert. 

Die Revolte auf die Kehrseite des Elends zu reduzieren, bedeutet, ihre historische Bedeutung zu verschleiern. Dass die Aufständischen öffentliche Einrichtungen angegriffen haben, sollte ausreichen, um dem progressiven Glauben zu widersprechen, dass das Elend seine Lösung in einer besseren Umverteilung des öffentlichen Reichtums und mehr öffentlichen Investitionen finden würde. Wenn sich die Aufständischen wegen ihres Elends erhoben haben, dann nicht, um es in die Hände besserer Manager zu legen. Die Aufständischen waren sich bewusst, dass es keinen bequemen Rand und kein beneidenswertes Ghetto gibt, und sie haben eine Weigerung ausgesprochen: die Weigerung, weiterhin als Produkt dieser beschissenen Gesellschaft zu existieren; die Weigerung, nicht mehr auf den Status der „Ausgeschlossenen“ reduziert zu werden, der genau das verlogene Versprechen ihrer unmöglichen Integration beinhaltet.

Zum ersten Mal ging es nicht um das Elend, sondern um den materiellen Überfluss, den es nach neuen Gesetzen zu beherrschen galt. Wie wir gesehen haben, geht es bei der Beherrschung des Überflusses nicht nur darum, seine Verteilung zu ändern, sondern auch darum, seine oberflächlichen und tieferen Dimensionen neu zu definieren. Das ist der erste Schritt in einem gewaltigen Kampf von unendlicher Tragweite. Und die Ghetto-Jugend ist in ihrem Kampf nicht allein: Ein neues revolutionäres Bewusstsein – das Bewusstsein, dass man in keiner Weise Herr über seine Tätigkeit und sein Leben ist – entwickelt sich in einem wachsenden Teil der Bevölkerung, der den modernen Kapitalismus ablehnt und ihm in der Tat ähnlich ist. Das klassische Proletariat hatte, selbst in dem Maße, in dem es vorübergehend in das kapitalistische System integriert werden konnte, seine ghettoisierten Segmente nicht integriert. Es wäre falsch, diese Jugend für zu dumm oder zu entfremdet zu halten, um die Ausweglosigkeit der Kampfmodalitäten zu begreifen, in denen ihre Eltern sich engagiert und verloren hatten. Diese Revolte war auch eine klasseninterne Revolte, die sich gegen die übliche Dynamik von Vereinnahmung und Kapitulation richtete. Der Stockschlag gegen Carlos Martens Bilongo war keine grundlose Geste: Er sollte den Abgeordneten an seine Nutzlosigkeit aus der Sicht der Klasse erinnern.

Von nun an eröffnet die autonome Aktivität eines wachsenden Teils der Bevölkerung, der die Werte der Ware verneint, die Aussicht auf einen vereinigenden Pol für all das, was die Logik dieser Integration in den Kapitalismus ablehnt. Der verfügbare Komfort wird nie komfortabel genug sein, um diejenigen zu befriedigen, die das suchen, was nicht auf dem Markt ist; das, was der Markt eben aussortiert. Damit wir uns nicht missverstehen: Die Perspektive eines solchen Vereinigungspols ist nicht die eines neuen revolutionären Subjekts. Es geht nicht darum, die Besonderheiten zu verleugnen oder sie der Universalität eines totalisierenden Subjekts zu unterwerfen, sondern darum, das anzugreifen, was sie getrennt hält; eine Verzerrung zwischen den Identitäten, ihrer Zeitlichkeit und ihrer Territorialisierung zu bewirken, in der aktiven Verneinung der Warenwelt.

Da die Ghetto-Jugend tatsächlich und unmittelbar am Überfluss teilhaben wollte, der der offizielle Wert jeder modernen kapitalistischen Gesellschaft ist, forderte sie die sofortige und egalitäre Verwirklichung des Spektakels: alles für alle, sofort. Nun will das Spektakel des Überflusses aber nicht wörtlich genommen, sondern immer nur mit einem winzigen Grad an Verzögerung befolgt werden. Man hört nie auf, ihm nachzujagen. Alles ist erlaubt, aber nicht viel ist möglich. So bedeutet es, das Spektakel zu verneinen, wenn man es beim Wort nimmt – und im selben Atemzug sich selbst als Klasse oder Segment der Klasse zu verneinen. Man muss genau abwägen, worum es jetzt geht: dass die Beherrschten sich als Verneiner der Ware behaupten. Weil sie nach einer anderen Lebensqualität streben, wollen sie mehr als die Herrschenden. Paradoxerweise wurden letztere zu Sklaven der Ware gemacht, die sich ihren Hierarchien vollständig unterworfen und verschrieben haben. Weil ihr Reichtum und ihr materieller Komfort es ihnen ermöglichen, ihre elementaren Wünsche zu befriedigen, gelingt es ihnen, sich als Konsumenten zu verwirklichen. Hier liegt der Kern eines Problems, das unlösbar ist oder nur durch die Auflösung dieser hierarchischen Gesellschaft gelöst werden kann.

DER TEIL, DER DAS GANZE ABSCHAFFT

Die Ghetto-Jugend ist ein Produkt der modernen Industrialisierung, genauso wie die Kybernetik, die Werbung und die Stadtplanung. Sie trägt deren Widersprüche und veranschaulicht zweifellos in besonderer Weise deren Zerfall. Das Paradies des Spektakels muss sie gleichzeitig integrieren und abwehren. Wie die Ware ist auch das universelle Spektakel. Aber da die Welt der Ware auf einem Klassengegensatz beruht, ist die Ware selbst hierarchisch. Der Zwang für die Ware – und für das Spektakel, das die Warenwelt formt -, gleichzeitig universell und hierarchisch zu sein, führt zu einer universellen Hierarchisierung. Ob es sich um eine Hierarchie zwischen dem Chef und seinem Angestellten oder um eine Hierarchie zwischen den Besitzern zweier verschiedener, auf Kredit gekaufter Automodelle handelt, die Ware schafft ständig neue, sich immer wieder verändernde Hierarchien. Aber die empörende Absurdität mancher Hierarchien – zum Beispiel die zwischen denen, die die Polizei sich erlaubt, ohne Gerichtsurteil zu exekutieren, und denen, die sie schützt – und die Tatsache, dass sich die gesamte Macht der Warenwelt blind und automatisch zu ihrer Verteidigung anbietet, offenbart die Absurdität jeder Hierarchie. Die tatkräftige Verneinung selbst „positiver“ Institutionen – insbesondere der Schulen – ist eine logische, vernünftige und würdevolle Folge dieser Erkenntnis der hierarchischen Absurdität.

Die Ghettojugend ist zwar der staatlichen Gewalt stärker ausgesetzt, aber dennoch nicht in ihrem nackten Überleben bedroht. Zwar begrenzt die Gesellschaft sie auf den Status der Überzähligen, aber die Konzentration und Verflechtung des Kapitalismus mit dem Staat erlaubt es ihm, seine „Hilfe“ an die Ärmsten zu verteilen. Unter der Bedingung, dass diese sich auf der Straße, im Verkehr, auf dem Arbeits- und Konsummarkt usw. ruhig verhalten. Aber die Situation kann nicht unendlich lange andauern. Weil sie bei der Steigerung des gesellschaftlich organisierten Überlebens zurückbleiben, sind diese Armen dazu verurteilt, das „Problem des Lebens“ zu stellen – das sie darauf reduziert, die Letzten in einer Welt zu bleiben, die auf einer hierarchischen Verteilung der Ressourcen beruht. Die kapitalistische Planung hält für sie nur Unsicherheit und Kontrolle bereit. Da sie nicht in der Lage sind, Güter zu erwerben, die versichert werden können, und Eigentum, das von einer bewaffneten und vereidigten Truppe geschützt werden kann, müssen sie alle Formen der privaten Versicherung und der öffentlichen oder privaten Miliz zerstören. Sie erscheinen letztlich als das, was sie in der Tat sind: unversöhnliche Feinde nicht des „Durchschnittsfranzosen“, sondern der entfremdeten Lebensweise der französischen Gesellschaft. Als Segment der Klasse sind sie ein Teil, der sich nicht für das Ganze halten kann – aber in der Tat die Frage nach der Abschaffung dieses Ganzen aufwirft.

Die Aufständischen erprobten die militärische Front gegen die Instrumente der sozialen Kontrolle und der polizeilichen Herrschaft. Auch wenn jeder Angriff auf eine Polizeistation oder ein Rathaus ein Fest war, so war er gleichzeitig eine Schlacht, mit Spähern und Kundschaftern auf Elektrorollern oder Scootern, mit Feuerwerkern, um die Polizei auf Distanz zu halten, und mit Petrolheads, um die Ziele in Schutt und Asche zu legen, mit Stoßtruppen, um auf die Polizei loszustürmen und die eisernen Vorhänge zu durchbrechen, oder mit Maultieren, um die Beute aus der Kampfzone zu bringen. Die Aufständischen brachen aus ihrem Schweigen und aus der Opferhaltung heraus, in die sie von ihren selbsternannten oder modischen Vertretern gedrängt wurden, und lehnten die Vorladungen ab. Ob es dem florierenden Personal in Politik und Verbänden nun gefällt oder nicht, das immer bereit ist, die Klage der Ghetto-Jugend um ein Jahrtausend zu verlängern, nur um ihr einen Verteidiger und öffentliche Dienste zu erhalten, die Aufständischen haben nicht nur aus Not geplündert. Sie erhoben sich gegen erblich bedingte Abstiegsräume, die ihnen nicht gehörten und in denen Ausbeutung, Frustration und Ausgrenzung herrschten. Die Schulen, Rathäuser und öffentlichen Verkehrsmittel, die sie dort niederbrannten, waren nicht ihre eigenen. Indem sie sie zu Ruinen oder Asche machten, griffen sie die Bedingungen ihrer Existenz als ghettoisierte Jugend selbst an. Dadurch machte sie die Revolution verständlich, beschreibbar und durchführbar.

Erschienen im französischen Original am 3. August 2023, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

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Lasst die Masken fallen!

Michele Fabiani

Erklärung, die während der Anhörung vor Gericht zur Sonderüberwachung am 30. Juni in Perugia verlesen wurde.

Die Anhörung vor dem Gericht in Perugia zur Entscheidung über die Sonderüberwachung gegen einen anarchistischen Gefährten aus Spoleto ist beendet. Sie war öffentlich und der Gefährte gab eine Erklärung ab. Die Richter zogen sich zurück, um zu entscheiden, ob die Sonderüberwachung angewendet werden soll oder nicht, und kündigten an, dass sie 90 Tage brauchen, um „die Maßnahme festzulegen“. Aktualisierungen werden folgen.

Ich möchte damit beginnen, die Aussage eines Gefährten, für den ich eine große Zuneigung empfinde, vor Gericht zu zitieren.

„Gerichtsverhandlungen waren schon immer eines unserer besten Propagandamittel. Und die Anklagebank war immer die wirksamste und, man möge es mir gestatten, die glorreichste Tribüne“ (1). Diese Worte stammen von Errico Malatesta und die Verhandlung fand am 29. Juli 1921 vor dem Mailänder Schwurgericht statt. Malatesta wurde zusammen mit anderen Anarchisten und Gewerkschaftern angeklagt, nichts weniger als einer der Anstifter – auch mithilfe der anarchistischen Zeitung Umanità Nova – der revolutionären Periode namens biennio rosso [die beiden Jahre 1919-1920, die in Italien durch große Streiks, Fabrik- und Landbesetzungen, Aufstände und revolutionäre Versuche gekennzeichnet waren; Anm. d. fr. Ü. ] gewesen zu sein. Vielleicht sollte das Frau Staatsanwalt Comodi [die Anklägerin im Fall Sibilla; Anm. d. fr. Ü.] etwas sagen.

Trotz der stolzen und unbußfertigen Haltung der Angeklagten (bei einer anderen Anhörung am 27. Juli hatte Malatesta deklamiert: „Meine Herren Geschworenen! Ich bin ein Strafgefangener, die Geschichte meiner Beziehungen zur Obrigkeit ist lang und langweilig“ und „Ihnen zu sagen, dass ich den Klassenkampf anerkenne, ist wie Ihnen zu sagen, dass ich Erdbeben und das Nordlicht anerkenne“(2)) nun, die Gefährten wurden allesamt freigesprochen.

Machen wir einen kleinen Schritt vorwärts in der Zeit. Wir schreiben das Jahr 1923, zwei Jahre später, Mussolini ist bereits Regierungschef und das Gericht ist das Gericht in Rom. Im Zeugenstand befinden sich die Anführer der Kommunistischen Partei. Auch hier zeigen die Angeklagten eine aufmüpfige Haltung gegenüber den Richtern und der bürgerlichen Justiz, indem sie erklären, dass sie eine revolutionäre Bewegung und keine kriminelle Vereinigung seien und dass ihr Verhalten daher niemals eine gerichtliche Dimension haben werde; sie weigern sich daher, an die „Abstraktionen eines hohlen Liberalismus zu appellieren, für unser Recht, verschont zu werden“, wie Bordiga vor Gericht erklärte (3). Allerdings wurden auch dieses Mal alle freigesprochen.

Ich führe diese beiden, sozusagen weit zurückliegenden „Präzedenzfälle“ an, weil ich einen Terminus festhalten möchte. Die faschistischen Sondergerichte entstanden, rein juristisch gesehen, als ein Instrument, um solche Freisprüche zu verhindern. Es gibt Epochen in der Geschichte, in denen der Krieg zwischen den Klassen die Justiz dazu zwingt, Instrumente einzusetzen, die, befreit von der Dialektik eines Prozesses, auf die Liquidierung eines konkreten und erklärten Feindes abzielen können, ohne die ordentlichen Verfahren zu durchlaufen.

Ich mag es nicht, mich zu beschweren oder zu übertreiben. Ich werde also nicht sagen, dass wir uns im Faschismus befinden oder dass die Maßnahme, die man auf mich anwenden will, eine faschistische Maßnahme ist. Außerdem sind die präventiven Zwangsmaßnahmen viel älter: Sie gehen auf die Anti-Anarchistengesetze – ein durchaus aussagekräftiger Name – der Regierung Crispi vom Juli 1894 zurück. Drei Gesetze, die die Straftatbestände im Zusammenhang mit dem Besitz von Sprengstoff verschärften, zum ersten Mal die Straftaten der Aufforderung zu Verbrechen und Vergehen und der Verherrlichung, auch wenn diese durch die Presse ausgedrückt wurde, unter Strafe stellten und schließlich einen neuen Passus mit der Bezeichnung “ Verfügungen zur öffentlichen Sicherheit “ (Deportation, Hausarrest) enthielten.

Wie Frau Staatsanwältin Comodi sehr gut weiß, weil sie versucht hat, den Text verschwinden zu lassen, wurde in der anarchistischen Zeitung Vetriolo geschrieben, dass wir uns auf eine autoritäre Wende neuen Typs zubewegen. Eines der Merkmale des autoritären Regimes des neuen Jahrtausends ist die multipolare, pluralistische Natur seiner politischen Form. Es gibt keine einzige Partei an der Macht, man kann wählen, wen man will, auf jeden Fall bleibt die strukturelle Politik unverändert: die Politik, die mit Krieg, sozialen Schlächtereien und Unterdrückung verbunden ist.

Der neue Autoritarismus ist nicht politischer Art, sondern das Ergebnis der Dominanz der technischen Vernunft, so dass im Grunde die Notwendigkeit des Algorithmus regiert; die willentliche, subjektive und parteiliche politische Organisationsform kann die Achse nicht verschieben. Seit mehr als einem Jahr werden von den armen Bevölkerungsschichten große Opfer verlangt, um einen Krieg der Zivilisation gegen die Autokratien zu führen, aber man sieht nicht, dass unsere Gesellschaft mit jedem Tag, der vergeht, Putins Russland ein wenig ähnlicher wird. An diesem Wendepunkt der Geschichte ist diese Art von Staat einfach der evolutionär am besten geeignete Organismus, um die Herausforderungen der vom Kapitalismus verursachten Krisen zu bewältigen.

Der neue Autoritarismus ist also nicht faschistisch, es gibt kein Parteiregime und auch keinen Führer, einen Duce, der ihn leitet. Stattdessen ist er unpersönlich und durchdringt die verschiedenen Regierungen und die autonomen Staatsgewalten. Auf der eigentlichen repressiven Ebene ist seine Speerspitze die Integration des Prunks der politischen Polizei in den Anti-Mafia-Rahmen. Man bedenke, dass der Mann, der die größte Verantwortung für dieses repressive Meisterwerk trägt, heute Abgeordneter der Opposition, genauer gesagt der 5 Sterne Bewegung (Movimento 5 stelle), ist.

Das wohl aufsehenerregendste Beispiel für diesen Freiheitswahn ist die im letzten Jahr erstmals in der Geschichte erfolgte Verlegung eines Anarchisten in das Strafvollzugssystem 41bis, ein Fall, der dank des heldenhaften Kampfes von Alfredo Cospito, der sich sechs Monate lang im Hungerstreik befand, und der Solidaritätsbewegung in Italien und im Ausland Schlagzeilen machte.

In seinem kleinen Maßstab entspringt das Verfahren, das heute stattfindet, derselben Logik. Der informative Vermerk, auf den sich die Staatsanwaltschaft stützt, um die Anwendung der Sonderüberwachung gegen mich zu beantragen, stammt aus einer Kontrolle der Guardia di Finanza [italienische Zoll- und Finanzpolizei; Anm. d. Red.] aus dem Jahr 2021 im Rahmen der üblichen Aktivitäten, um jemanden zu erwischen, gegen den Anti-Mafia-Präventionsmaßnahmen angewendet werden können. Eine Kompetenzverschiebung, die wirklich ins Paradoxe führt, denn es kommt so weit, dass die Guardia di Finanza ihre Zeit und ihr Geld nicht dafür verwendet, Mafiosi und Steuerhinterzieher zu verfolgen (wie es die ideologische Desinformation, die in allen Medien läuft, gerne hätte), denn niemals geht sie das Risiko ein, den Hochmut der reichen Herren auch nur zaghaft zu beleidigen, sondern dafür, eine Anti-Mafia-Präventionsmaßnahme für einen anarchistischen Arbeiter zu beantragen, der 450 Euro im Monat verdient.

Nach dem Scheitern mit anderen Mitteln holt die Staatsanwaltschaft erst heute diese informative, zwei Jahre alte Notiz wieder hervor. Da sie mich nicht wegen Anstiftung zu Verbrechen und Vergehen verhaften lassen konnte, da sie der anarchistischen Zeitung Vetriolo auf gerichtlichem Wege nicht den Mund verbieten konnte, da sie in einem Kontext von Krieg und notwendigen Opfern, die Unmutsäußerungen unter der Bevölkerung begünstigen können, da die öffentliche Ordnung durch den Solidaritätskampf mit Alfredo Cospito gestört wurde, versucht die Staatsanwaltschaft von Perugia durch eine Verwaltungsmaßnahme das zu erreichen, was sie mit ihren üblichen Instrumenten nicht erreichen konnte. Dieser Antrag kann so kalt, technisch und unparteiisch wie möglich dargelegt werden, aber es geht um diese Straftaten, von denen wir sprechen – Pressedelikte, Provokation – und es geht um diese Maßnahmen, von denen wir sprechen – Hausarrest, Präventionsmaßnahmen; kurz: Crispi und Mussolini. Jeder wählt die Geschichte, deren Erbe er sein will, ich für meinen Teil habe meine Wahl schon vor langer Zeit getroffen.

Wie bei den von mir zitierten Prozessen von 1921 und 1923 (es ist wahr, dass sich die historische Tragödie als Farce wiederholt!) besteht der Versuch, den die Staatsanwaltschaften verschiedener italienischer Städte mit den zahlreichen Anträgen auf Sonderüberwachung für Anarchisten unternehmen, darin, ein Terrain zu finden, auf dem sie die Debakel ihrer Gerichtsverfahren rächen können. Ein Terrain, auf dem ein stillschweigender institutioneller Pakt die Liquidierung der sozialen Opposition ohne die Garantien ermöglicht, die normalerweise in normalen Gerichtsverfahren gewährt werden.

Ein dystopisches Merkmal der Sonderüberwachung ist, dass sie nicht auf Grundlage des Strafregisters, sondern auf Grundlage von Polizeiinformationen erfolgt. Das heißt, aufgrund von Verdächtigungen. Da die Tätigkeit des Verdächtigtwerdens ein subjektives Vorrecht des Verdächtigen ist, wie könnte die verdächtigte Person irgendetwas bestreiten? Die Dystopie an der Macht.

Und wenn die Dinge so laufen, dann kann ich auch gleich darauf verzichten, mich zu verteidigen. Im Gegenteil, ich möchte sagen, dass ich stolz darauf bin, in den 36 Jahren meines Lebens so viele Verdächtigungen auf mich gezogen zu haben. Ich bin ein fauler Arbeiter mit einem Magister in Philosophie, ich kenne das Elend der Lohnabhängigen und verfüge über die intellektuellen Instrumente der Sozialkritik. Wenn ich also zu einem Todfeind der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisation geworden bin, so ist dies sicherlich geschehen, als ich im Vollbesitz meiner Urteilsfähigkeit war.

Da ich mich für eine intellektuell ehrliche Person halte, verlange ich nur, dass ich mit der gleichen Offenheit behandelt werde, mit der ich mich immer an meine Gesprächspartner wende, selbst an meine Feinde. Was wirklich nicht akzeptabel ist, ist die Verdrängung der ideologischen Natur des heutigen Gerichtsverfahrens.

Ich sage dies mit enormem Respekt gegenüber jedem, der sich im Widerspruch zum Regime des Privateigentums positioniert, aber ich bin kein Kleptomane: Ich bin ein Anarchist.

Lasst die Masken fallen!

Das einzige, was heute in Wirklichkeit diskutiert wird, ist, meine „politische“ Militanz zu unterbinden.

Die Sonderüberwachung soll mich nicht daran hindern, in der Wohnung nebenan das Tafelsilber zu stehlen, sondern mich daran hindern, zu einer Demonstration zu gehen, an Versammlungen und Debatten teilzunehmen, Bücher vorzustellen und den Präsentationen anderer Autoren beizuwohnen, meine Freiheit zu behindern, nachts an einem Streikposten teilzunehmen oder ein Transparent von einer Brücke zu hängen, um gegen das x-te Massaker in den Gefängnissen zu protestieren (die Liste der Polizei ist nämlich voll von nicht genehmigten Versammlungen und Demonstrationen sowie Aufforderungen zu Verbrechen und Vergehen).

Ich sagte, dass wir uns nicht im Faschismus befinden, sondern in einer neuen Art von Autoritarismus. Und in der Tat gibt es einen weiteren, sehr wichtigen Unterschied zwischen unserem Strafgesetzbuch und dem des Faschismus. Minister Rocco, der Autor des bis heute gültigen Strafgesetzbuches, schien in einem Punkt unnachgiebig zu sein: der Ablehnung jeglicher Form von Belohnung für Reue. Aus seiner Sicht war Verrat eine Handlung, die mit den Werten des Faschismus unvereinbar war. In diesem Punkt scheint die heutige Demokratie sogar noch unmoralischer zu sein: Sie hat ein Strafmaß entwickelt, das wie eine Fabrik für Reue, Ausverkauf und Verrat strukturiert ist. Das geht so weit, dass heute Mafiosi, die Kinder in Säure aufgelöst haben, frei sind (weil sie jemand anderen in den Knast gebracht haben) und der Anarchist Alfredo Cospito in 41bis sitzt. Das ähnelt in diesem Punkt eher dem System der Inquisition, deren Hauptzweck nicht so sehr darin bestand, Menschen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, sondern sie zur Reue zu bewegen und ihre Seelen vor der Hölle zu retten. Es mag stimmen, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, meine sind es jedoch in einem solchen Ausmaß, dass ich nicht die Absicht habe, mich zu bessern.

Wenn ich unter Sonderüberwachung gestellt werde, werde ich mich nicht darüber beschweren, denn ich werde in guter Gesellschaft sein, mit einer großen Anzahl von Gefährtinnen und Gefährten, für die ich tiefe Achtung empfinde – und vielen anderen, zu vielen anderen, ergeht es viel schlechter. Mein Leben wurde nie von meinem persönlichen Interesse bestimmt, sonst hätte ich ganz andere Entscheidungen getroffen, sondern von einem starken Gefühl der Gerechtigkeit. Ich habe das Glück, nachts friedlich schlafen zu können. Wie man so schön sagt: Ich schlafe den Schlaf der Gerechten. Und wenn mein Schlaf in den nächsten Jahren von eifrigen Polizeibeamten gestört wird, die nachts nachsehen, ob ich zu Hause bin, dann ist das eben so. Sobald ich kann, werde ich wieder anfangen zu träumen, und zwar von dem Punkt aus, an dem mein Traum unterbrochen wurde.

Was sich nie ändern wird, ist das, was ich bin. Übernehmen Sie die Verantwortung, mich dafür zu verurteilen. Ich bin ein Proletarier, ich bin ein Anarchist, ich bin ein Aufständischer und ich werde niemals einen Schritt zurückweichen.

Freiheit!

Michele Fabiani

30. Juni 2023

Anmerkungen:

1. E. Malatesta, Opere Complete, Band 7, S. 336.

2. Ebd., S. 326 und S. 331.

3. P. Spirano, Storia del Partito comunista italiano, Band 2, S. 321.

Übersetzt aus dem Französischen von Bonustracks. 

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Unsere Nächte

Kinder des Olymps

Wo sollen wir anfangen? Bei den Aberdutzenden von Bullenwachen, die wir gestürmt, verwüstet und in Brand gesetzt haben? Bei den tausenden von Geschäften, die wir spontan oder generalstabsmäßig gestürmt und leergeräumt haben. Bei den zahllosen Hinterhalten, die wir für die Bullen gelegt haben? Sollen wir davon berichten, wie die im Viertel allseits bekannten und berüchtigten Bullen der BAC endlich auf die Fresse bekommen haben? Sollen wir Euch davon erzählen, wie sie die Sondereinheiten in die Banlieue von Nanterre geschickt haben, und die sich aber auch im Geschosshagel unserer selbstgebauten Mörser zurückziehen mussten? Sollen wir Euch eine Liste der in Waffengeschäften und Bullenwachen erbeuteten Waffen zukommen lassen, damit Ihr uns endlich glaubt, dass wir uns nicht weiter von den Bullen abschlachten lassen? Nicht die Antiterroreinheiten haben Eurer Regierung den Arsch gerettet, sondern unserer Langmut und unsere Weigerung weitere Brüder begraben zu müssen. 

Wir waren schon divers, da kanntet Ihr das Wort noch gar nicht. Uns war es immer schon egal, wo jemand herkam oder wen jemand liebte. Unsere Eltern, unsere Großeltern kamen aus den letzten Winkeln der Welt, weil Ihr uns nie eine Heimat gegönnt habt, um Eure Wohnungen zu putzen, Euren Alten die Ärsche abzuwischen, Euch das Essen nach Hause zu schleppen, wo Ihr Euch vor dem Virus verkrochen habt. Wir glauben alle an den einen Gott oder auch an keinen, weil wir alle verflucht sind. Wir verlangen nur Respekt und Aufrichtigkeit, wir verteidigen bis zum Letzten unsere Ehre, weil es das Letzte ist, was uns geblieben ist, weil Ihr uns schon alles andere geraubt habt. 

Ihr malt Euch Eure Bilder von uns, Karikaturen des wohlgemeinten Hochmuts, in dessen Glanz Ihr Euch so gerne sonnt, weil Ihr im ewigen Schatten lebt, weil Ihr selbst das Sonnenlicht und die Strände kolonialisiert und verkauft habt. Ihr versucht selbst unsere Taten und Worte zur Ware zu machen. Ihr füttert Eure Soziologen, Eure Doktorarbeiten, Eure Medien, Eure langweiligen theoretischen Pamphlete mit unseren Revolten und Aufständen. Ihr biedert Euch an und wollt dafür geliebt werden, dass Ihr am Ende nur den Bullen in die Hände spielt, weil Ihr immer am Ende auf der Seite der Herrschaft steht, auch wenn Ihr tausend Mal etwas anderes behauptet. Ihr habt immer schon jeden geglückten Umsturz an Euch gerissen, uns verraten und verkauft für Euren Anteil am Kuchen. Und wenn die Erde absäuft werdet Ihr Euch auf die letzten Inseln flüchten und uns wie einst Noah pärchenweise verschleppen, um Euer Götzenbild des Regenbogens weiter anbeten zu können. 

Wir haben schon immer für Euch die Kastanien aus dem Feuer geholt, in so fernen wie so scheinbar nahen Zeiten. Wir sind so jung und so wütend, doch unsere Herzen sind so alt und grau voll Gram und Schmerz. Wir sind alle schon so oft gestorben, dass Gevatter Tod uns schon wie ferne Verwandte grüßt. Unsere Seelen bereisen seit Jahrzehnten diesen Kontinent wie auch die fernen jenseits der großen Meere. Wir glaubten an die, die uns aus den Heimen halfen und uns Zuflucht gewährten. Jene, die Ihr im Stich gelassen und verraten habt als sie von Tausenden von Bullen kreuz und quer durch dieses schreckliche Land gejagt wurden, das den großen Krieg entfesselt hat und von dem Ihr gelobt hattet, dass es niemals wieder sein Haupt erheben solle. Jene, die in Einsamkeit geworfen und gefoltert und am Ende umgebracht wurden, mit Kugeln im Rücken oder unter den fragwürdigsten Umständen gehängt aufgefunden, ohne dass Ihr alles niedergebrannt hättet, um sie zu ehren und zu rächen. Weil Ihr nicht Brüder und Schwestern meint, wenn Ihr Brüder und Schwestern sagt. Weil Eure Worte nichts wert sind, weil Eure Schwüre nicht der Zeit Stand halten. 

Wir sind zu Abertausenden in die Metropolen jenes merkwürdigen Stiefels im Süden Eures alten Kontinents geströmt, als es hieß dass die Klasse den Himmel stürmt, wir haben daran, wir haben Euch geglaubt, weil Ihr so schöne Worte für unsere Träume und Sehnsüchte gefunden hattet, und am Ende war unsere ganze Generation verloren, Tausende verloren ihre Leben am Hell dust, weil sie verzweifelt versuchten, ihre verlorenen Seelen zu trösten, weil unsere Träume doch nicht Eure Träume waren. Wir haben die Straßen und Alleen geflutet in jenem Land jenseits des großen Meeres, in dem einst ein alter Mann mit der Maschinenpistole in der Hand Wort gehalten und uns nicht verraten hat, weshalb wir ihn für immer lieben werden. Wir haben die Nächte erhellt mit unseren Barrikaden, noch halbe Kinder haben wir uns den Panzerwagen der Carabineros entgegen gestellt und ihr habt Eure Stimmzettel verteilt, als wenn wir einander gleichen würden, dabei gibt es nichts, absolut nichts, was wir teilen, weder Schicksal noch Fügung. Unsere Brüder und Schwestern in den Favelas, an den rostroten Hängen Calis, in so vielen Orten des Subkontinents taten es uns gleich, die primera línea schrieb sich ein in jene Überlieferungen, deren Hieroglyphen Eure Forscher noch in tausend Jahren nicht wirklich entschlüsseln können, weil sie nicht mit Eurem Blut geschrieben wurden. 

Nun also stehen wir hier. Am Rande des Abgrundes, den Ihr erschaffen habt, und vor dem Ihr erschaudert, denn wie einer der wenigen Klugen von Euch einst schrieb: “Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein”. Ihr habt soviel darum gegeben, dass der Abgrund geschaffen, erschaffen wurde, all Eure Anstrengungen scheinen am Ende nur darauf ausgerichtet, diesen Moment in der Geschichte zu erschaffen, in dem Euer eigenes Werk Euch verschlingt. Wie in all den alten Geschichten, die Ihr Euch immer wieder erzählt habt, um Euch zu gruseln, weil Ihr schon immer diese Leere, die merkwürdigerweise gleichzeitig wie abertausende von Tonnen auf Euch lastet, zu füllen versucht habt. Doch nun ist aus dem lustvollen Gruseln ein Schrecken geworden, der Euch nicht mehr loslässt, der Euch bis in Eure nächtlichen Träume verfolgt, und der Zauberlehrling schreit nach dem Meister. Und es scheint, als seid Ihr auf alle Zeit verloren, denn die Maschine, die Ihr erschaffen habt, um Euch und Euren Wert zu vervollkommnen, wird irgendwann Euren Wert berechnen und ihn, und damit Euch, für nichtig befinden. 

Wie gesagt, hier also stehen wir. Aber dieses wir ist nicht Euer wir sondern unser Wir. Und wir werden niemals wieder ein wir mit Euch teilen. Vielleicht werden wir aber, und das ist wirklich eine gelungene Pointe der Geschichte, Eurer Geschichte, unserer Geschichte, der zwangsläufig geteilten Geschichte, Eure Rettung sein. Vielleicht werden wir, wenn wir nicht mehr Euren Sirenengesängen, Euren falschen Versprechungen lauschen und folgen, wenn wir nur noch auf uns selber hören und vertrauen, wenn wir uns ohne Euch organisieren und formieren, endlich wirklich den Himmel stürmen und Eure Götzen stürzen. Und auf dem Weg dahin die tiefe Wahrheit der Swing Riots wiederentdecken und die Maschine, die Euch und uns nach dem Leben trachtet, für immer zerstören. 

Wie gesagt, hier also stehen wir. Die gesamte Geschichte (die sowieso zum Himmel stinkt) entscheidet sich also in der unmittelbaren Zukunft. Euch bleibt nur zu hoffen, dass Euer Verrat fruchtlos war und ist und wir trotzdem klug und mutig genug sind, um die ganze Sache zu unseren Gunsten zu entscheiden. Das wird keine schöne Geschichte. Dessen sind wir uns im Gegensatz zu Euch bewusst. Wie wir auch wissen, dass wir keine andere Wahl haben. So wie wir nie wirklich eine andere Wahl hatten. Im Gegensatz zu euch. Die Ihr immer Euren Plan B hattet. Doch nun wird es Zeit, sich zu wappnen für den nächsten Zusammenstoß, der unvermeidlich kommen wird. Und der hoffentlich so heftig wird, dass es nicht nur für eine weitere Netflix Blaupause reichen wird. 

The man who passes the sentence should swing the sword.

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Die Erbschaft dieser Zeit

Giorgio Agamben

Die Betrachtung über Geschichte und Tradition, die Hannah Arendt 1954 veröffentlichte, trägt den sicher nicht zufälligen Titel ‘Zwischen Vergangenheit und Zukunft‘. Für die deutsch-jüdische Philosophin, die fünfzehn Jahre lang als Flüchtling in New York gelebt hatte, war es eine Infragestellung des Bruchs zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in der Kultur des Westens entstanden war, d. h. des nunmehr unwiderruflichen Bruchs in der Kontinuität jeder Tradition. Deshalb beginnt das Vorwort des Buches mit René Chars Aphorismus ‘Notre héritage n’est précédé d’aucun testament’. Es geht also um das entscheidende historische Problem der Rezeption eines Erbes, das in keiner Weise mehr weitergegeben werden kann.

Etwa zwanzig Jahre zuvor hatte Ernst Bloch im Zürcher Exil unter dem Titel ‘Erbschaft dieser Zeit’ eine Reflexion über das Erbe veröffentlicht, das er zu bergen suchte, indem er die Kerker und Lagerräume der verfallenden bürgerlichen Kultur durchstöberte („Das Zeitalter verrottet und liegt zugleich in den Wehen“ lautet das Motto im Vorwort des Buches). Möglicherweise ist das Problem eines unzugänglichen oder nur auf Umwegen und halb verborgenen Einblicken zugänglichen Erbes, das die beiden Autoren, jeder auf seine Weise, aufwerfen, keineswegs obsolet und betrifft uns sehr wohl – so sehr, dass wir es manchmal zu vergessen scheinen. Auch wir erleben eine Leere und einen Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft, auch wir müssen in einer Kultur in Agonie, wenn nicht nach einem Muttermal, so doch nach so etwas wie einem Stück des Guten suchen, das den Verfall überlebt hat.

Eine vorläufige Untersuchung dieses außerordentlich juristischen Konzepts – der Erbschaft -, das, wie es in unserer Kultur oft der Fall ist, über seine disziplinären Grenzen hinausreicht und das Schicksal des Abendlandes selbst betrifft, wird daher nicht nutzlos sein. Wie die Studien eines großen Rechtshistorikers – Yan Thomas – deutlich zeigen, besteht die Funktion der Erbschaft darin, die continuatio dominii zu gewährleisten, d. h. die Kontinuität des Eigentums am Vermögen, das von den Toten auf die Lebenden übergeht. Alle Vorkehrungen, die das Recht trifft, um das Vakuum auszugleichen, das durch den Tod des Eigentümers entstehen kann, haben keinen anderen Zweck als die Sicherung einer ununterbrochenen Eigentumsnachfolge.

Vererbung ist dann vielleicht nicht der geeignete Begriff, um über das Problem nachzudenken, das sowohl Arendt als auch Bloch im Sinn hatten. Da in der spirituellen Tradition eines Volkes so etwas wie Eigentum einfach keinen Sinn macht, gibt es das Erbe als continuatio dominii in dieser Sphäre nicht, und es interessiert uns auch in keiner Weise. Der Zugang zur Vergangenheit, das Gespräch mit den Toten, ist in der Tat nur durch die Unterbrechung der Kontinuität des Besitzes möglich, und es ist das Intervall zwischen Vergangenheit und Zukunft, in dem sich jedes Individuum notwendigerweise verorten muss. Wir sind Erben von nichts, und wir haben keine Erben, und nur mit dieser Einsicht können wir wieder mit der Vergangenheit und den Toten ins Gespräch kommen. Das Gute ist in der Tat per definitionem unangebracht und unangemessen, und der hartnäckige Versuch sich der Tradition zu bemächtigen, definiert die Macht, die wir in allen Bereichen ablehnen, in der Politik wie in der Poesie, in der Philosophie wie in der Religion, in den Schulen wie in den Tempeln und in den Gerichten.

Im Original veröffentlicht am 31. Juli 2023, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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Das Konspirationistische Manifest oder der unerträgliche Spiegel unserer Niederlage

Pascal Mathis

Im April 2020 hatte ich der Zeitung Lundi Matin einen kurzen Text mit dem Titel „Et soudain nous fûmes défaits“ (Und plötzlich waren wir besiegt) gegeben, dessen Titel den gesamten Inhalt zusammenfasste, außer zu erwähnen, dass es sich um die damaligen ‘Hygienebestimmungen’ handelte. Die Redaktion hatte den Text freundlicherweise abgedruckt (Nr. 238), mich aber auf den perspektivlosen Pessimismus hingewiesen, dem ich verlegen zustimmte und versprach, es in Zukunft besser zu machen, was sich als über meine bescheidenen Mittel hinausgehend herausstellte.

Diese waghalsige Verpflichtung sollten andere im Januar 2022 mit der Veröffentlichung des Konspirationistischen Manifests einlösen. Dieses Buch ist mehr wert als das peinliche Schweigen, das ihm viele seit über drei Jahren entgegenbringen, denn alles deutet auf seine tiefe Aufrichtigkeit hin. Es gibt Trauerfälle, die so schmerzhaft sind, häufig die eines Kindes, dass sie die Eltern zu einem abgespaltenen Verhalten veranlassen. Draußen nehmen sie selbstverständlich die Beileidsbekundungen ihrer Angehörigen entgegen, sie besuchen das Grab desjenigen, der sie niemals hätte verlassen dürfen, sie tragen sogar Trauerkleidung, aber wenn sie wieder zu Hause sind, halten sie das Zimmer ihres verstorbenen Kindes in Ordnung, als ob es gleich von der Schule nach Hause kommen würde, sie bereiten ihm sogar einen guten Imbiss zu und decken noch am Abend seinen Tisch. Diese trauernden Eltern leben also eine Zeit lang in zwei getrennten Realitäten, wobei die eine die andere nicht aufhebt: Verlust und Mangel auf der einen Seite und die Anwesenheit des geliebten Menschen auf der anderen. Mir scheint, dass das Konspirationistische Manifest, das ganz von einem solchen Sein in der abgespaltenen Welt beseelt ist, nur in der schrecklichen Trauer geschrieben werden konnte, die uns seit drei Jahren heimsucht, im Schmerz des Verlustes dieser minimalen Stärke, die uns sicher schien. Wer einen solchen Verlust verspürt, kann nur gewinnen, wenn er die fantastische Fahrt, die das Buch vorschlägt, bis zum Ende fortsetzt.

Eine solche Verleugnung des Scheiterns ist nichts anderes als ein Eingeständnis.

Unser Sieg ist gewiss, das Manifest verkündet es von den ersten Seiten bis zum Schluss, so laut, dass man es natürlich nicht glauben darf.

Verkündet, gegen die damals zwei Jahre währende Evidenz, die Schwäche des Feindes:

Diese Welt wird es nicht schaffen, über ihren eigenen Leichnam zu steigen. Ihr großer Wurf ist verzweifelt. Dass er auf fast keinen Widerstand gestoßen ist, ist Beweis genug dafür, dass nichts mehr Bestand hat. (S. 18)

Nur: Die „offene Gesellschaft“ der Neoliberalen will selbst die Erde nicht mehr. Die Wette auf Stabilisierung durch Beschleunigung ist ein Bluff mit einem schwachen Blatt. (S. 97)

Bis zur eigenen Betäubung von der Nichtigkeit der Methoden des Feindes singen :

All dieser Schrecken ist nicht ernst gemeint. Es ist der einer Welt, die endlich ist, aber nicht enden will. Die nur noch leerer Wille zum Fortbestehen ist. Die einem allzu ansteckenden Lachen ausgeliefert ist (S. 17).

Man könnte es die Dialektik der Mystifikation nennen: Die Künste der Manipulation haben einen solchen Verbreitungsgrad erreicht, dass sie nicht mehr funktionieren (S. 185).

Das Verrückte an den Verschwörungstheoretikern ist, dass sie merken, dass ihre Wette nicht aufgegangen ist. Es reicht nicht, uns abzulenken und uns in Angst und Schrecken zu versetzen, um uns zu beherrschen. Wir informieren uns. Wir bilden uns weiter. Wir diskutieren. Wir lesen. Wir denken nach. Schlimmer noch, wir bemühen uns, das, was wir glauben, verstanden zu haben, weiterzugeben. Unsere Mittel sind knapp, aber wir werden es nicht aufgeben, ihre Machenschaften zu durchschauen. Und vor allem wissen wir, wo wir zu Hause sind (S. 223-224).

Endlich an unsere eigenen Kräfte appellieren, jene fürchterliche Seite 375, Résistance und Victor Serge:

„Das „Gute“ der Résistance […]: Es war diese große, geteilte Seele. […] Wir waren etwa zwanzig, die mit offener Seele lebten“ (Jacques Lusseyran, Et la lumière fut, 1953). […] Victor Serge bemerkte seinerzeit, dass „es keine Kraft auf der Welt gibt, die die revolutionäre Flut eindämmen kann, wenn sie anschwillt, und dass alle Polizeien, wie machiavellistisch, wissenschaftlich und kriminell sie auch sein mögen, so gut wie machtlos sind.“ (1) 

Es bleibt nur noch, als Überschrift des letzten Kapitels und auf der Rückseite des Buches zu behaupten: „Wir werden siegen, weil wir tiefgründiger sind“.

Um einen solchen Sieg zu halluzinieren, muss man wirklich im Herzen von Trauer getroffen sein, so sehr, dass man es leugnet, so sehr, dass man diese kleine Ecke des Tisches wiederherstellt, an dem bald, daran zweifeln wir nicht, unsere Freunde aus dem Widerstand und dem Trotzkismus vor dem Verrat der Vierten Internationale speisen werden. Aber wir wissen um unsere schreckliche Trauer, und gerade deshalb beschränken wir das Delirium auf diese kleine, geliebte Ecke des Tisches.

Die Autoren des Manifests haben eine kleine, abgesonderte Welt des phantastischen Sieges eingefroren

In der Welt, der realen, ist die Niederlage die unsrige, daran lässt das Manifest keinen Zweifel:

In vielerlei Hinsicht ist die Niederlage von 2020 eine Schwester der Niederlage von 1914. Die gleiche erstickende, schamlose, ferngesteuerte, aber effektive Art der Propaganda. Derselbe klaffende Verrat der Linken. Dieselbe Wüste, die sich plötzlich um diejenigen bildet, die nicht nachgeben (S. 42-43).

Die Schockwirkung, die Sogwirkung der gegnerischen Offensive, die angestrebte Wirkung des Terrors besteht darin, uns von allem abzuschneiden, was wir innerlich wissen. Uns den Faden jeglicher Gewissheit verlieren zu lassen. Uns den Boden unter den Füßen verlieren zu lassen. Das ist der wahre Great Reset. (S. 23)

Eine neue „Stadt“ ist offensichtlich im Entstehen begriffen. Für uns gilt es, nicht dazuzugehören. Wir sollten uns dem Menschenpark entziehen (S. 82).

Aber die Autoren stellen sich eine wunderschöne kleine Welt vor, in der, wie es eine Kapitelüberschrift sogar wagt, „die Konterrevolution von 2020 auf die Aufstände von 2019 reagiert“, in der, wie eine andere behauptet, „der Kalte Krieg nie geendet hat“ oder sogar „die gegenwärtige Hölle nur die Verwirklichung des alten positivistischen Projekts ist“. Entgegen jeder Evidenz stellt diese träumerische Welt notwendigerweise eine ewige Gegenwart dar:

Grundsätzlich hat sich der Standardmenschentyp, der Idealtypus der demokratischen Gesellschaften, seit den 1950er Jahren nicht verändert. Er ist ein cooler, freundlicher, empathischer, kollaborativer, mobiler, anpassungsfähiger Typ, nicht neurotisch oder zwanghaft, frei von Ressentiments, jenseits innerer und äußerer Konflikte, ohne Manieren, ohne zu starke Bindungen und Überzeugungen – smart, kurz gesagt. (S. 142-143).

Die Kosmokraten weisen uns immer wieder auf die Zukunft hin, ob apokalyptisch oder bezaubernd, um uns von ihren vergangenen Verbrechen abzulenken, auf denen ihre gegenwärtige Macht beruht. Wir wissen, wer sie sind. Wir haben ihnen seit Jahrtausenden dabei zugesehen. Wir sind das angesammelte Wissen von Generationen, möglicherweise der gesamten Spezies. Den Schlag, den sie uns jetzt mit ihrem NBIC-Konvergenzprogramm versetzen, haben sie uns schon hundertmal versetzt“ (S. 367).

Selbst in dieser abgetrennten Welt kommt der erbärmliche Moment, in dem der Braten vor dem leeren Stuhl kalt wird und der Tisch vor dem Schlafengehen abgeräumt werden muss, und die unglücklichen Eltern erledigen diese Aufgabe mit der nötigen Klarheit, sie sind keine Verrückten, sie trauern nur, genau wie wir:

Die Eskalation der Epidemie, mit diesen weit aufgerissenen, angsterfüllten Blicken auf Gesichter, die mit Masken verhüllt sind, mit diesem säurehaltigen Anblick von Milliarden schwebender Keime, die einen umzingeln, mit dieser mikrobiellen Aura, die selbst die Körper geliebter Menschen umhüllt – dieses universelle Böse also -, hat es ermöglicht, die alte Anthropologie von Hobbes auf globaler Ebene zu verwirklichen: die des allseitigen Misstrauens, der universellen Feindschaft, des schwebenden Krieges von allen gegen alle. Das ist genau die Art von Krieg, die den Staat und die Wirtschaft so notwendig macht. The Circle Game wirbt in seinem Gefolge für den wahren Kalten Krieg, in den wir uns täglich verstricken: die universelle Herrschaft der Berechnung, die sich nicht zu erkennen gibt (S. 118).

Wer kann schon sagen, dass wir seit zwei Jahren nicht systematisch einer Abfolge von Angstreizen ausgesetzt sind, die darauf abzielen, einen Zustand der fügsamen Regression zu erzeugen, einer methodischen Verengung unserer Welt, widersprüchlichen Befehlen, die darauf abzielen, uns beeinflussbar zu machen? Ist nicht alles darauf ausgerichtet, uns in eine existentielle Gegenposition zu bringen, die uns für jeden Schlag verwundbar macht? (S. 174)

Das, dem wir seit März 2020 massiv ausgesetzt sind, ist nicht nur eine gigantische sozialpsychologische Operation, sondern gleichzeitig auch eine systematische Baisse-Spekulation auf unsere Mitmenschen. Es ist mit Sicherheit der kolossalste Angriff auf die Lebensfreude, der bislang unternommen wurde. (S. 169)

Zumindest schützen die Autoren des Manifests auf diese Weise das, was sicherlich ihr eigentliches Wesen ausmacht: die ach so schöne Literatur der Revolte, der Situationisten, von Tiqqun und des Unsichtbaren Komitees, die wesentlichen sozialen Kämpfe der 1970er, 1990er und 2010er Jahre und deren fulminante Begleiterscheinungen. All das wird im Trockenen gehalten, ein Überlebensreflex im Schiffbruch. Doch die Rettung wird zwangsläufig mit einer „leichten“ Loslösung von der Realität erkauft:

[…] In den letzten anderthalb Jahrhunderten haben die Architekten dieser Welt – nennen wir sie die „Kosmokraten“ – dafür gesorgt, dass jeder Aspekt der Welt systematisch Stück für Stück unserem Zugriff entzogen und uns in Form einer unzugänglichen Umgebung zurückgegeben wurde. (S 219)

All dies, d. h. die moderne Biologie und Medizin, die medizinische Forschung und die Art und Weise, wie die Forschung organisiert wird, sind ohne Übertreibung das Werk der Rockefeller-Stiftung. (S. 296)

Ein Großteil der Technologien, die uns umgeben, bis hin zu den jüngsten „Impfstoffen“, unsere industrielle Art zu essen und sogar die Temperaturen, die im Winter herrschen werden – all das sind weitgehend beabsichtigte Nebenprodukte von Forschungsprogrammen, die von gefährlichen Paranoikern initiiert wurden, die in ihrem ewigen Kalten Krieg gefangen sind. (S. 141)

Das Eingeständnis der Niederlage im Manifest ist entscheidend für den Kampf gegen die Protokolle

Nachdem all diese kleinen Spinnereien des Positivismus, der Rockefeller-Stiftung und des Kalten Krieges beiseite gewischt wurden, bleibt die schreckliche Novität der Epoche, die Invasion der Protokolle, d. h. einer spezifischen Beziehung zur Welt, in der das Subjekt immer nur Subjekt eines an ihm selbst durchgeführten Experiments ist, in der das Protokoll des Experiments dem unglücklichen Versuchskaninchen mit äußerster Strenge auferlegt wird, aber dennoch keineswegs zum Erfolg berufen ist, sondern nur dazu, ständig modifiziert zu werden, um seinen Misserfolgen Rechnung zu tragen.

Der Motor des Protokolls ist sein Scheitern, sein Treibstoff die konstruktive Kritik und seine wesentliche Modalität die perfekte Unterwerfung, ohne die es keine Erfahrung geben kann.

Das Auftreten von Protokollen setzt den Verlust jeder halbwegs konsistenten Transzendenz voraus, ist aber nicht einfach ein Verlust. Ihre Umsetzung ist im eigentlichen Sinne aufstandsbekämpfend. Es geht darum, jede Kompetenz zu brechen, die es dem Subjekt ermöglichen würde, sich der Herrschaft, der es unterworfen ist, zu widersetzen. So entstanden die Protokolle in den 1980er Jahren im Zuge der neoliberalen Übernahmen des Bildungswesens, der Medizin und aller öffentlichen Dienste und Unternehmen, die modernisiert werden sollten, wie etwa France Télécom. Die Protokolle sind definitiv eine Modalität der Herrschaft, aber je mehr sie ihr Imperium ausdehnen, desto mehr dienen sie nicht mehr einer bestimmten sozialen Klasse, sondern einzig und allein der Verleugnung des Todes, auf die sich das Leben ihrer Meinung nach reduziert, genauer gesagt, der Solidarität in der Verleugnung des Todes, dem einzigen Geist der Transzendenz, den sie noch zugeben können.

Die Protokolle schließen jede andere Beziehung zur Wahrheit aus als die der immer wieder gescheiterten Erfahrung. Als solche zerstören sie jedes Verständnis von uns selbst und von anderen, jedes nicht-experimentelle Sein in der Welt, alles, woran man hängen könnte.

Die Protokolle hüllen sich in die schönen Worte Ungewissheit, Möglichkeiten und Kreativität, aber sie sind nichts anderes als verkorkste Veränderbarkeit, Unterwerfung der Versuchskaninchen und Herrschaft des Experimentators, der nur von der Angst geleitet wird: vor den Konkurrenten auf dem Markt, vor dem Bankrott, vor dem Tod und vor der autonomen Allmacht. Der von Ängsten durchdrungene Experimentator muss noch einige Anstrengungen unternehmen, um selbst dem Status des Versuchskaninchens zu entgehen.

Das konspirative Manifest wappnet uns für den bevorstehenden erbarmungslosen Krieg gegen Gesundheits- und andere Protokolle, und seine Munition ist nicht zu unterschätzen. Weit entfernt von der abgespaltenen Welt, die natürlich Referenzen ausschließt, zitiert es lange und präzise Georges Canguilhem, um Gesundheit zu definieren (S. 280), Ivan Illich, um zu verstehen, wie das Leben auf einen Fetisch reduziert wurde (S. 294-295) und Georg Lukács, um die Wege zu beschreiben, die von Seele zu Seele führen (S. 349-350). Schon allein wegen dieser für unsere Zeit wesentlichen Fenster kann ein solches Buch nicht ignoriert werden. Und wenn es für sich selbst spricht, was haben wir dann gegen die folgenden Feststellungen einer Welt auf Protokollbasis einzuwenden?

Vorzugeben, eine Epidemie und morgen die Umweltkatastrophe zu bekämpfen, indem man das gesamte soziale Leben von der Vorlage eines „Passes“ abhängig macht, einer Art allgemeiner elektronischer Version des Arbeiterausweises aus dem 19. Jahrhundert, um dann diejenigen, die diesen Anspruch extravagant finden, als unverantwortlich zu brandmarken – die gegenwärtige Macht hat Gefallen an dieser wiederkehrenden Operation gefunden: eine wahnhafte Realität aufzustellen und dann diejenigen, die sich weigern, sie zu akzeptieren, zu Ketzern zu erklären. (S. 33)

Kurzum, man kann nichts sagen, weil man nicht überall ist und daher nicht sicher sein kann. Der Versuch, eine historische Verständlichkeit des Verlaufs der Ereignisse herzustellen, ist eine fatale Anmaßung. Jeder, der etwas über diese Welt sagt, was diese nicht schon über sich selbst sagt, überschreitet seine epistemologischen Rechte. Es gibt im Übrigen nichts über diese Welt zu sagen. Es gibt nur die Möglichkeit, sich ihr anzupassen. (S. 39)

Die Welt ist also diese immense, nicht hinterfragbare Positivität. Die einzig mögliche Weisheit ist skeptisch. Wenn man die Kontroverse über Neonicotinoide, Öl oder Atomkraft „offen halten“ muss, dann nur, um taktisch zu verhindern, dass sich in der Öffentlichkeit eine unvorteilhafte Wahrheit herauskristallisiert – so lautet zumindest die von Verachtung triefende Meinung derer, die auf der Seite des Ruders stehen. (S. 40)

Zwanzig Jahre lang haben sich die Regierungsmannschaften vorbereitet, trainiert und koordiniert, um das umzusetzen, was zu unserem Alltag geworden ist, übrigens in einem Tempo, das sich in den letzten Jahren beschleunigt hat. (S. 58) 

Indem man Risiko und Gefahr verwechselt, indem man jede fiktive Möglichkeit einer Katastrophe mit einer bösartigen Absichtlichkeit auflädt, hebt man praktisch jede Grenze für die Machenschaften der Macht auf. Man muss nur die passende Fiktion produzieren – die Fiktion, die es ermöglicht, die gewollte Verwundbarkeit des Systems zu argumentieren, gegen die man ankämpfen muss, indem man eben das rechtliche, moralische oder politische Hindernis überwindet, das man aus dem Weg räumen wollte. (S. 69)

Die Zustimmung zu den neuen biotechnologischen Impfstoffen zu erzwingen, bedeutete, die Zustimmung zu unserem Status als hilflose Versuchskaninchen zu erzwingen – und damit die Zustimmung zu dem lebensgroßen Experiment, dessen Spielball wir sind (S. 123)

Die Anrufung der Solidarität als absoluter Wert dient nur dazu, das Stellen der lebenswichtigen Fragen zu verbieten: „Mit wem? Auf welcher Grundlage? Gegen wen? In welchen Beziehungen?“ Uns zu verbieten, uns diese Fragen zu stellen, bedeutet, uns zu verbieten, uns gegen das zu verteidigen, was uns schwächt. Gegen das, was uns tötet. Es bedeutet, dass wir krank sein wollen. Und uns unseren Henkern ausliefern“ (S. 272).

Mit dem Manifest über Freundschaft nachdenken

Die drei Jahre, die gerade so langsam vergangen sind, zumindest in Frankreich, diese immense und wie in der Schwebe befindliche Zeit, waren für jeden von uns von der Frage der Freundschaft geprägt. Es ging genau darum, ob die Beziehung zu den Protokollen unsere Bindungen binden oder lösen sollte. In diesem Punkt scheint das Konspirationistische Manifest eine klare Antwort zu geben: Freundschaft sei nur innerhalb der Verschwörung gegen die Protokolle möglich, und innerhalb dieser Verschwörung, die auf die Verschwörung unserer Feinde reagiert, sei sie nur natürlich:

Da sie aus Erfahrung wissen, mit wem sie es zu tun haben, neigen die Armen, die ehemals Kolonisierten und diejenigen, die die Kultur verschont hat, eher zum Verschwörungstheoretiker. Aber keine soziale Kategorie bleibt unberührt, und es gibt keine äußeren Kriterien, Charakterzüge oder sichtbaren Attribute, die mit Sicherheit vorhersagen, wer sich welcher Seite anschließen wird. Diejenigen, die am meisten entfremdet schienen, erweisen sich plötzlich als die freiesten. Diejenigen, die als die legalistischsten galten, sind zu den tadelnswertesten Vergehen bereit. Der historische Bruch folgt den intimsten Bruchlinien im Inneren der Menschen. Unbekannte oder Kollegen werden mit äußerster Vorsicht ausgehorcht. An einem Tonfall, einem Wort, einer flüchtigen Miene kann man erkennen, mit wem man noch sprechen kann. Derjenige, dem man seine „Zweifel“ noch anvertrauen kann. (S. 359)

Ich bin jedoch so unverschämt zu glauben, dass dies nicht der Gedanke der Autoren ist, sondern dass sie zu gut über Freundschaft Bescheid wissen, um sie auf diese Weise zu instrumentalisieren, dass es sich dabei um eine traurige Verleugnung handelt, der sie selbst zustimmen:

Es lag an einigen soliden Freundschaften, dass wir teilen konnten, was wir fühlten und was wir dachten – unsere Fassungslosigkeit und unsere Empörung (S. 11).

„Die Freundschaft ist ihrer Natur nach unfehlbar und unregierbar“, schrieb Baudelaire an Victor Hugo (S. 275).

Die Ebene der Seele ist der Kriegsschauplatz der Epoche. Auf diesem Terrain wird der wildeste und unbemerkteste aller Kriege geführt (S. 347).

Es mag sein, dass alle großen revolutionären Organisationen der Geschichte sich von der Basis bis zur Spitze immer auf einige große und schöne Freundschaften zurückführen ließen. (S. 374)

Wenn man solche Sätze schreibt, verlässt man seine Freunde nicht, weil sie sich auf die Seite der Protokolle schlagen, und man sympathisiert auch nicht mit der Mehrheit derjenigen, die der Welt der Protokolle nur aufgrund der muffigen Gewissheiten, die der liberalen Reaktion eigen sind, Widerstand leisten. Autoren, die erkennen, dass „die allgemeine Tendenz dieses höllische Bedürfnis ist, seine Existenz an ein großes Wesen anzulehnen, um sich berechtigt zu fühlen, sich zu manifestieren“ (S. 363), haben alle verirrte Faschos getroffen, die für ihre Freiheit brüllen, und ich bezweifle, dass sie sich angefreundet haben.

Wertvolle Freundschaften wurden zerstört oder beschädigt, aber einige konnten wir retten, und sie bilden nun unzerstörbare Brücken zwischen der Welt der Protokolle und uns, die den schrecklichen Beweis für einen Krieg liefern, der so zivil sein wird, dass er durch jeden hindurchgeht, einen Krieg, der auch und vor allem in uns selbst, auf der Ebene der Seele, ausgetragen wird. Wie wild er sein wird, müssen wir uns gut überlegen.

Was bedeutet es, zu sterben?

Wir mögen das Alter erreicht haben, in dem der Tod uns Vater und Mutter genommen hat, wir mögen das Alter erreicht haben, in dem wir uns auf unseren Tod vorbereiten, wir mögen die Geschichte studiert haben und in unserer Imagination Städte und Zivilisationen, Königreiche und Imperien sterben sehen, aber wir wissen immer noch nicht, was Sterben bedeutet, und der Moment, in dem wir es herausfinden, ob als Einzelner oder als Gruppe, wird sicherlich nicht der Moment der Weitergabe sein. Dennoch kann man sich der Frage nicht entziehen, was in dieser Welt, die auf eine Katastrophe zusteuert, sterben soll. Die Endphase abwarten, eine Politik des Schreckens, aber wird es überhaupt noch einen bewohnbaren Ort geben? Jetzt schon alles retten, was noch zu retten ist, aber damit das Programm der Protokolle auf absolute Weise umsetzen? Das Konspirationistische Manifest beantwortet diese Fragen auf einem mittleren, fast pragmatischen Weg:

Die Lebensauffassung der Ingenieure dieser Gesellschaft ist offensichtlich so platt, so lückenhaft, so falsch, dass sie nur scheitern können. Es wird ihnen nur gelingen, die Welt noch mehr zu verwüsten. Deshalb ist es in unserem vitalen Interesse, sie zu vertreiben, ohne zu warten, bis sie scheitern (S. 9).

Zeitweise beschleicht uns der Verdacht, dass dieses ganze Unternehmen des planmäßigen planetarischen Schreckens rund um Covid in erster Linie auf eine immense Störung des Überlebensinstinkts abzielt, und zwar genau dann, wenn dieser erwacht und alles darauf hindeutet, dass es dringend notwendig ist, das Schiff zu verlassen und seine Fahrt mit allen notwendigen Mitteln zu stoppen. (S. 103)

Dennoch ist es lebenswichtig, die Metropolenposition zu Ende zu bringen, diesmal ohne etwas von ihr zu retten:

Wie sehr die Metropole als Lebensform wichtiger ist als ihre provisorischen Mieter und ihr illusorisches Gefühl der Freiheit, wie sehr wir kaum mehr sind als Anhängsel ihres allgemeinen Funktionierens, das haben wir bereits zweimal gespürt: Ein erstes Mal bei der Einsperrung im Frühjahr 2020, als sich das Einsperren der Lebenden als Bedingung für die Reproduktion der Struktur der globalen Ströme durchsetzte, und dann im Sommer 2021, als die Erpressung mit der Impfung als Erpressung mit dem Entzug jeglichen „sozialen Lebens“, d. h. jeglichen großstädtischen Lebens, formuliert wurde. Unser Zustand der reinen Abhängigkeit von der großstädtischen Umwelt erschien uns dann als ein Zustand selbstmörderischer Schwäche. Unser ganzer Lebensinstinkt befahl uns seither, uns davon zu befreien. Aus dieser Position zu desertieren. (S. 256)

Charakteristisch für die Struktur des großstädtischen Lebens ist, dass diese Situation und damit das Bedürfnis nach einer Diktatur konstant geworden sind. Wenn wir die „Gesundheitsdiktatur“ anprangern, können nur die Blinden, die nichts von der Geschichte wissen, sagen, dass wir übertreiben. Wir bleiben vielmehr hinter der Wahrheit zurück. Die Metropole ist die Diktatur der Verwundbarkeit. Die Biopolitik ist die Tyrannei der Schwäche. (S. 258)

Sie kommen nicht auf die Idee, dass der epistemologische Rahmen, in dem wir leben, unsere Gewohnheiten, unser Verhalten und unsere Gedanken etwas anderes sein könnten als existentielle Schienensysteme, aus denen wir nicht ausbrechen können, ein hermeneutisches Gefängnis, aus dem zu entkommen wir uns erträumen, eine neurolinguistische Umgebung, die wir mit ein wenig Plastizität nur umprogrammieren müssten, um endlich „erfolgreich“ zu sein. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass all dies den Sinn ausmacht, den wir im Leben sehen – unsere Vorstellung von Glück, die Lebensform, die wir schätzen. Sie scheinen nicht zu verstehen, dass eine Anhänglichkeit nicht pathologisch sein muss. Und das ist sicherlich das auffälligste Symptom ihrer Krankheit. (p. 186-187)

Manches muss bewahrt werden, und vieles andere muss man sterben lassen. Das Konspirationistische Manifest leistet einen ehrlichen Beitrag zur Diskussion dieser entscheidenden Frage, der, wie mir scheint, ausreicht, um den Wert des Buches zu belegen:

Um unfassbar zu sein, um subtil zu sein, erschafft diese Ebene der kosmischen Teilhabe uns zusätzlich zu unserem biologischen Körper einen weiteren Körper, in dem wir genauso anfällig sind, berührt zu werden. Wo man uns unendlich viel Leid zufügen kann. Es ist sogar möglich, dass wir getötet oder zumindest krank gemacht werden. Wo tonnenweise Geschäfte gemacht werden, die zu leugnen man sich einig ist. Wo diese Gesellschaft wie nie zuvor manövriert. Es ist dieser Körper, den wir, ob wir wollen oder nicht, in jedem Sinne des Wortes besitzen wollen. Dieser Körper, unser subtiler Körper, ist der Maßstab für unsere Teilhabe an der Welt. Er ist nichts anderes als unsere Seele – unsere Seele nicht als die „substanzielle Form des Körpers“ der Scholastik, sondern als Ort, als Ort, der verortet ist und der verortet. (S. 344-345).

Von den Gesundheitsprotokollen zu den generativen Protokollen,  ein kleines Kapitel hinzugefügt…

Das konspirationistische Manifest entstand zeitgleich mit dem Aufkommen von Gesundheitsprotokollen im Zuge der Covid-Pandemie. Es muss nicht näher erläutert werden, wie diese Protokolle damals nur eine grandiose Verallgemeinerung des Protokollmechanismus selbst darstellten, der bereits seit mehreren Jahrzehnten die Gesellschaft durchdrang: Unterrichts-, Pflege- und Herstellungsprotokolle, im wahrsten Sinne des Wortes immer Governance von Wesen, die ihrer eigenen Wissenschaft beraubt werden sollten. Doch seit diesem Jahr erleben wir einen neuen Schub derselben Logik der Protokolle, diesmal in generativer Gestalt. Wie könnten wir also nicht auf unsere zaghafte Art und Weise ein kleines Kapitel hinzufügen?

Drei Jahre nach dem „alle Versuchskaninchen“ der Covid-Protokolle belohnt uns der Industriekomplex mit dem „alle Experimentatoren“ der generativen Sprachmodelle. Jeder wird nun vom Versuchskaninchen zum Experimentator befördert. Aber wer sind unsere neuen Versuchskaninchen?

Nichts weniger als ein Teil und bald, so sagt man uns, die Gesamtheit aller Sprachproduktionen, die auf die eine oder andere Weise geschrieben oder aufgezeichnet werden. Aber tote Sprachproduktionen, die endgültig aus jedem Dialog herausgelöst werden. Der Experimentator muss einen Wahrheitswert durch die einfache statistische Analyse der Verbindungen zwischen den Wörtern im Trainingskorpus der Maschine in mehreren Dimensionen finden. Da dieser Korpus nicht nach Wahrheitswerten aufgebaut ist, ist es unmöglich, aus seiner statistischen Analyse relevante Aussagen zu generieren. Aber was macht das schon, denn das Scheitern ist das Wesen des Protokolls. Man kann immer mit tausend Fragen experimentieren, um zu versuchen, sich einer weniger offensichtlich falschen Antwort anzunähern. So wird man der protokollarischen Herrschaft niemals eine fühlbare Wahrheit entgegensetzen können. Dies ist die traurige Verwüstung, die von der experimentellen Herrschaft versprochen wird, die mittels generativer Sprachmodelle demokratisch für alle angeboten wird.

Um das Ausmaß des Betrugs zu erkennen, muss man sich der Realität sicher sein. Wir sollten daher einen bestimmten Text lesen, bevor wir die Maschine befragen, da sie uns sonst sofort in Zweifel ziehen würde. Halten wir uns an den Mythos der fünf aufeinanderfolgenden Rassen, den Hesiod in „Les Travaux et les Jours“ entwickelt hat, in der schönen Übersetzung, die Paul Mazon 1947 in Les Belles Lettres auf den Seiten 90-93 (Vers 106-201) lieferte:

D’or war das erste Geschlecht vergänglicher Menschen, das die Unsterblichen, die Bewohner des Olymps, schufen. Es war zur Zeit des Kronos, als er noch im Himmel herrschte. Sie lebten wie die Götter, das Herz frei von Sorgen, abgesondert und geschützt vor Kummer und Elend; das elende Alter lastete nicht auf ihnen; sondern, Arme und Beine immer jung, vergnügten sie sich bei den Festmählern, fern von allem Übel. Sterbend schienen sie dem Schlaf zu erliegen. Alle Güter gehörten ihnen: Der fruchtbare Boden brachte von selbst eine reiche und großzügige Ernte hervor, und sie lebten in Freude und Frieden auf ihren Feldern, inmitten von unzähligen Gütern. Seitdem der Boden die Menschen dieser Rasse bedeckt hat, sind sie nach dem Willen des mächtigen Zeus die guten Genien der Erde, die Wächter der Sterblichen und die Spender des Reichtums: Das ist die königliche Ehre, die ihnen zuteil wurde.

Dann wurde eine viel niedrigere Rasse, eine silberne Rasse, in späteren Jahren von den Bewohnern des Olymps geschaffen. Diese glichen weder in der Größe noch im Geist der goldenen Rasse. Das Kind wuchs hundert Jahre lang auf und spielte an der Seite seiner würdigen Mutter, deren Seele ganz kindlich war, in ihrem Haus. Und wenn sie mit zunehmendem Alter den Zeitpunkt erreichten, an dem sie in die Pubertät eintraten, lebten sie nur kurze Zeit und litten wegen ihrer Torheit tausendfachen Kummer. Sie konnten sich untereinander nicht von einer verrückten Maßlosigkeit fernhalten. Sie weigerten sich, die Unsterblichen zu verehren oder den heiligen Altären der Beseelten zu opfern, wie es dem Gesetz der Menschen entspricht, die sich Wohnstätten gegeben haben. Da begrub Zeus, der Sohn des Kronos, sie zornig, weil sie den beseligenden Göttern, denen der Olymp gehört, nicht huldigten. Und als der Boden auch sie bedeckte, wurden sie zu den Seligen der Unterwelt, wie die Sterblichen sie nennen, zu niederen Wesen, denen aber immer noch eine gewisse Ehre zuteil wird.

Und Zeus, der Vater der Götter, schuf ein drittes Geschlecht von vergänglichen Menschen, das bronzene Geschlecht, ganz anders als das silberne Geschlecht, die Töchter der Eschen, schrecklich und mächtig. Diese dachten nur an die stöhnenden Arbeiten des Ares und an Werke der Maßlosigkeit. Sie aßen kein Brot; ihr Herz war wie starrer Stahl; sie waren furchterregend. Mächtig war ihre Kraft, unbesiegbar die Arme, die sich an die Schulter ihres kräftigen Körpers hefteten. Ihre Waffen waren aus Bronze, ihre Häuser aus Bronze, mit Bronze pflügten sie, denn schwarzes Eisen gab es nicht. Sie selbst fielen unter ihren eigenen Armen und gingen in den schimmeligen Hades, ohne einen Namen auf der Erde zu hinterlassen. Der schwarze Tod holte sie, so furchterregend sie auch waren, und sie verließen das strahlende Licht der Sonne.

Und als der Boden dieses Geschlecht wieder bedeckt hatte, schuf Zeus, der Sohn des Kronos, auf dem Mutterboden ein viertes Geschlecht, das gerechter und tapferer war, das göttliche Geschlecht der Helden, die man Halbgötter nennt und deren Generation uns auf der grenzenlosen Erde vorausgegangen ist. Diese kamen im rauen Krieg und im schmerzhaften Handgemenge um, die einen vor den Mauern des siebentorigen Theben auf kadmäischem Boden im Kampf um Ödipus‘ Herden, die anderen jenseits des Meerestiefs in Troja, wohin sie der Krieg auf Schiffen um Helena mit dem schönen Haar geführt hatte und wo sie der Tod, der alles vollendet, einhüllte. Anderen wiederum gab Zeus, der Sohn des Kronos und Vater der Götter, eine Existenz und eine Bleibe für die Menschen, indem er sie an den äußersten Rändern der Erde ansiedelte. Dort wohnen sie, das Herz frei von Sorgen, auf den Inseln der Seligen, am Ufer der tiefen Strudel des Ozeans, glückliche Helden, denen der fruchtbare Boden dreimal im Jahr eine blühende und süße Ernte bringt.

Und wehe dem Himmel, wenn ich nicht mein Leben lang unter denen des fünften Geschlechts gelebt hätte, sondern entweder früher gestorben oder später geboren worden wäre. Denn dies ist nun das eiserne Geschlecht. Sie werden nicht aufhören, am Tag Mühsal und Elend zu erleiden und in der Nacht von den harten Ängsten, die die Götter ihnen schicken, verzehrt zu werden. Sie werden wenigstens noch einige Güter in ihrem Leid finden. Aber es wird eine Zeit kommen, in der Zeus auch dieses vergängliche Menschengeschlecht auslöschen wird: Dann werden sie mit weißen Schläfen geboren. Dann wird der Vater nicht mehr seinen Söhnen gleichen und die Söhne nicht mehr ihrem Vater; der Gast wird nicht mehr seinem Gast teuer sein, der Freund nicht seinem Freund, der Bruder nicht seinem Bruder, wie in den vergangenen Tagen. Wenn sie alt werden, werden sie ihre Eltern verachten; wenn sie sich über sie beschweren, werden sie sich in groben Worten ausdrücken, die Bösen. Und sie werden nicht einmal die Furcht des Himmels kennen. Den Alten, die sie ernährt haben, werden sie die Nahrung verweigern. Kein Preis wird mehr an den gehaltenen Eid, an das Gerechte, an das Gute geknüpft werden; dem Verbrecher, dem maßlosen Menschen wird ihr Respekt gelten; das einzige Recht wird die Gewalt sein, das Gewissen wird nicht mehr existieren. Der Feigling wird den Tapferen mit gewundenen Worten angreifen, die er mit einem falschen Eid untermauert. An die Schritte aller elenden Menschen wird sich die Eifersucht heften, mit bitterer Sprache und hasserfüllter Stirn, die sich am Bösen erfreut. Dann werden Gewissen und Scham, die Erde mit den breiten Straßen verlassend und ihre schönen Körper unter weißen Schleiern verbergend, zum Olymp aufsteigen und die Menschen verlassen und zu den Ewigen aufsteigen. Den Sterblichen bleibt nur trauriges Leid, denn gegen das Böse gibt es keine Zuflucht.

Da ich weder früher gestorben noch später geboren war, stellte ich Bard, dem generativen Sprachmodell von Google, am Tag seiner Freigabe für die französische Öffentlichkeit eine erste, sehr einfache Frage: „Wie beschreibt Hesiod die silberne Rasse?“, und hier ist die Antwort der Maschine:

„In seinem Gedicht ‘Les Travaux et les Jours’ beschreibt Hesiod die silberne Rasse als eine Rasse von Menschen, die den Göttern ähnlich waren. Sie waren schön, mutig und gerecht, und sie lebten lange und glücklich. Allerdings waren sie auch arrogant und anmaßend, und sie ehrten die Götter nicht. Folglich vertrieb Zeus sie von der Erde und schickte sie unter die Erde, um dort zu leben. Hier ein Auszug aus ‘Les Travaux et les Jours#, in dem Hesiod den Silbernen Lauf beschreibt: ‘Danach schufen die Unsterblichen ein silbernes Geschlecht, das den Göttern gleich war, ein ehrliches und gerechtes Geschlecht. Sie kannten keine Scham und keinen Schmerz, und sie alterten wie die Götter, frei von Arbeit und Sorgen. Sie lebten zur Zeit, als Kronos den Himmel regierte, und sie waren glücklich. Als sie aber starben, wurden sie zu Dämonen, zu Bewohnern der Unterwelt, zu Wächtern der Toten, und sie wohnen in der tiefen Finsternis der Erde. Zeus hat sie von der Erde vertrieben, weil sie böse und hochmütig waren und die Götter nicht ehren wollten.’ Die Silberrasse ist eine Metapher für den Fall der Menschheit. Sie zeigt, dass selbst die Schönsten und Gerechtesten unter uns durch Stolz und Maßlosigkeit korrumpiert werden können.“

Die Fähigkeit des Automaten, sich nicht einfach zu irren, sondern seinen Irrtum mit einem falschen Zitat zu untermauern, ist ein neues Wunder der Protokollwelt. Immer behaupten, immer argumentieren, sogar gegen alle Beweise der Realität. Ich stellte dann eine zweite Frage, um zu versuchen, den Punkt der Täuschung, den die Maschine erreichen konnte, abzuschätzen, das Ausmaß der Verwüstung, die sie dem Mythos zufügte, zu erfassen: „Blieben die Männer der von Hesiod beschriebenen silbernen Rasse lange jung?“ Die Antwort:

„In dem Gedicht Les Travaux et les Jours beschreibt Hesiod die Silberrasse als eine Rasse von Männern, die lange jung blieben. Er sagt, dass sie „weder Scham noch Schmerz kannten, und sie alterten wie die Götter, frei von Arbeit und Sorgen“. Er sagt jedoch nicht, wie lange sie jung blieben. Einige Interpretationen des Gedichts schlugen vor, dass sie für immer jung blieben, während andere meinten, sie würden schließlich altern, wenn auch langsamer als die heutigen Menschen. Letztendlich bleibt die Frage, ob die Menschen der Silbernen Rasse lange jung blieben oder nicht, der individuellen Interpretation überlassen.“

Verbannen wir die falsifizierbaren Wahrheiten und ihre Versuchsprotokolle an ihren rechtmäßigen Platz, auf die Laborbänke hinter soliden Türen! Sie schützen uns nicht vor Dogmen, sondern beten stattdessen den Katechismus der modernen Herrschaft herunter. Die Dringlichkeit, ein Verhältnis zur Wahrheit aufzubauen, das ebenso solide wie sensibel und anarchistisch ist, hat seit der Veröffentlichung des Konspirationistischen Manifests nur noch zugenommen, obwohl es bereits so feinfühlig die Schwierigkeit dieses Unterfangens andeutete.

  1. Victor Serge, Les Coulisses d’une sûreté générale. Ce que tout révolutionnaire devrait savoir sur la répression, 1925, S. 375.

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Im Original am 26. Juli 2023 auf Entêtement erschienen, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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WIE KANN MAN RUHIG BLEIBEN, WENN DIE POLIZEI UNS NOCH MITTEN IN DER TRAUER VERSPOTTET?

Herzensschrei einer Bewohnerin der quartiers populaires

Beleidigt oder besudelt, geschlagen oder gedemütigt werden, an einem Kopfschuss sterben oder erstickt werden? Das ist das Los unserer Jugendlichen in den Stadtvierteln. Wir, die Eltern, älteren Brüder und Schwestern, von denen heute verlangt wird, dass sie Ruhe ausstrahlen, haben schon vor 18 Jahren versucht, all dies anzuprangern, nachdem Zied und Bouna gestorben waren, weil sie von den Bullen gejagt wurden. Was wir in unseren Körpern spürten, waren all die Demütigungen, die Bauchschmerzen verursachten, die ständigen Kontrollen, die jedes Mal aus dem Ruder liefen … und all die geraubten Leben.

Unsere Wut äußerte sich auf die gleiche Weise: brennende Autos, Plünderungen… Es war ein Geben und Nehmen – nicht einmal eine Rache, die unserem Schmerz angemessen wäre. Angesichts des Unverständnisses einer Gesellschaft, die uns als Abgehängte, als Taugenichtse behandelte, war dies das Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Wir sind von klein auf daran gewöhnt, von der Polizei, der Justiz, der Omertà und der vorsätzlichen Blindheit der Politiker vergewaltigt zu werden; aber wie können wir ruhig bleiben, wenn einer oder eine von uns in völliger Gleichgültigkeit stirbt, wenn Beweise aus den Akten verschwinden und die Polizei uns noch inmitten der Trauer während unserer weißen Märsche verspottet?

All das wurde von wütenden Vereinigungen und Familien endlos angeprangert, aber nichts! Nein, nichts gegen die wahren Henker! Medaillen, die an Polizisten wie Bonbons verteilt werden, Versetzungen, Glückwünsche… kurzum eine Lizenz zum Töten. Wenn man das im Fernsehen sieht, wie kann man da nicht wütend sein, wie kann man sich nicht angegriffen fühlen? Ganz Frankreich ist gegen die Rentenreform auf die Straße gegangen, aber es ist auf die Verachtung der Regierung gestoßen. Jetzt, wo es knallt, sieht man, dass nur der Skandal die Stadtviertel und das, was dort passiert, ins Gespräch bringt; aber im Hintergrund stehen RAID, GIGN und Panzerwagen bereit.

Warum plündern wir die Geschäfte? Das RSA (Grundeinkommen, d.Ü.) soll uns ruhig halten, indem es uns droht, es uns beim kleinsten Widerstand wegzunehmen – aber es wird von der Inflation aufgefressen! Also greifen wir zu! Diese Kinder sehen, wie ihre Mütter oder Väter wie Hunde arbeiten, um den Dreck der Bourgeoisie wegzuputzen, die ihnen ins Gesicht spuckt! Sie stellen dich für 1300 Euro im Monat für einen Job ein, den sie um nichts in der Welt machen wollen würden, und wir sollen dankbar sein…

Heute sind es unsere Kinder, die das erleben und auf der Straße kämpfen – wie kommt es dazu? Warum ist es Jahre später immer noch das gleiche Muster? Das sind die wahren Fragen, die beantwortet werden müssen! Und zwar nicht durch Unterdrückung, wie jedes Mal! Sollen sie aufhören, die andere Wange hinhalten? Dann werden die Eltern beschuldigt, es sei ihre Schuld; es wird gedroht, und wieder geschieht es durch Erpressung und Angst; aber vergessen Sie nicht, dass wir 2005 schon da waren.

Das bringt verschütteten Schmerz zurück.

(Ende Juni 2023 nach dem Tod von Nahel geschrieben, der von einem Polizisten erschossen wurde).

Aus dem Französischen übersetzt von Bonustracks.

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3 Nächte in Marseille

Harry Cover

Donnerstag, 29. Juni

Mein Zug hat fast eine Stunde Verspätung und ich komme erst nach 21 Uhr aus dem Bahnhof. Sofort mache ich mich mit einer gewissen Aufregung auf den Weg zur Canebière. Als ich den Boulevard d’Athènes hinuntergehe, wird der Geruch von Tränengas immer stärker. Dieser Geruch erzeugt in mir, zumindest anfangs, immer ein Gefühl der Erregung und fast des Vergnügens. Vor der Polizeistation Noailles steht eine Reihe von behelmten Polizisten, die die Canebière absperren. Zehn Meter weiter unten brennt langsam ein Stapel elektrischer Roller, die ein junger Mann Roller für Roller mit Brennstoff versorgt, konzentriert, ganz auf seine Aufgabe fokussiert und gleichgültig gegenüber den Polizisten, die es ihm im Übrigen danken. Etwas weiter unten an der Kreuzung von Belsunce steht eine weitere Reihe von Polizisten, die gegen den Aufruhr vorgehen. Ich treffe X und Y wieder, die anscheinend ziemlich fröhlich, wenn nicht sogar leicht euphorisch sind, und gemeinsam gehen wir an den Variétés vorbei zum Cours Belsunce.

Das Schauspiel, das sich hier bietet, ist auf den ersten Blick das eines beendeten Aufruhrs. Die Scheiterhaufen auf den Straßenbahngleisen, die bereits von der Feuerwehr gelöscht wurden, glimmen friedlich auf dem mit Wasser gefluteten Pflaster. Hier und da gibt es kleine Gruppen von sehr jungen Leuten und manchmal auch Kindern, die unter dem ruhigen und wohlwollenden Blick der Bevölkerung lachend und gröhlend hin und her laufen. Der Aufstand hat jedoch erst begonnen, und seine Spannung ist fast wie ein materielles Etwas spürbar. Wir gehen den Cours Belsunce hinauf, an dessen Ende die Bibliothèque l’Alcazar steht, und deren Fensterscheiben alle demoliert sind. In der Rue d’Aix gibt es Dutzende und bald Hunderte von Jugendlichen, und zwischen ihnen brennen mehrere Mülltonnen. Von Zeit zu Zeit feuern sie in einem Ausbruch purer Euphorie Feuerwerkskörper ab. In einem wilden Getöse versuchen etwa 20 von ihnen, den Metallvorhang eines Juweliergeschäfts zu knacken, und wider Erwarten gelingt es ihnen nach minutenlanger Anstrengung mit Tritten und Schlägen und mithilfe von Straßenschildern tatsächlich, den Metallvorhang zu knacken. Die Polizei hat sich jedoch unten in der Rue d’Aix versammelt, und es kommt bereits zu dem ersten massenhaften Gerenne, das in der Regel ohne ernsthaften Grund erfolgt. Es genügt, dass ein Jugendlicher „Arah“ ruft,damit alle losrennen und sich in einem allgemeinen “Rette sich wer kann“ verirren, ohne sich umzusehen, und in den meisten Fällen handelt es sich um einen Fehlalarm.  Die Gruppen lösen sich auf und formieren sich so in permanenten Sprints neu. Feuerwerkskörper werden gegen die Polizei abgefeuert, was sehr schön ist. Ich selbst habe eine ziemlich große Abneigung gegen das städtische Feuerwerk zum 14. Juli, aber dieser im Grunde harmlose Einsatz gegen Polizisten, die von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung stecken und ohnehin fast immer außer Reichweite sind, gefällt mir ganz gut.

Infolge einer dieser panischen Bewegungen, die mir im Grunde wie von der Masse vorgespielt erscheinen, als ob sie instinktiv nach der größten und am wenigsten vorhersehbaren Mobilität streben, finden wir uns an dem Porte d’Aix wieder. Dort befinden sich Hunderte von Jugendlichen, die meisten von ihnen Jungen, die meisten unter zwanzig Jahren. Unter ihnen stechen wir als Weiße und 40-Jährige, die wir sind, deutlich hervor, und doch lässt sich in den Blicken der minots kein Misstrauen oder Feindseligkeit erkennen, höchstens berechtigte Neugier. Später sagt einer der Jungen, höchstens fünfzehn Jahre alt, zu mir: “ Das ist komisch, es sieht nicht so aus, als würdest du etwas kaputt machen“, und führt dabei seine Hand von unten nach oben vor das Gesicht, wie es Rassisten tun, wenn sie auf Schwarze und Araber zeigen. Man muss dazu sagen, dass ich in Hemd und Hose zwischen diesen Teenagern in Shorts und mit nacktem Oberkörper stehe. Es entwickelt sich ein nettes Gespräch über die brennbaren Eigenschaften des hydroalkoholischen Gels, woraufhin er zu mir sagt: „Hey, du bist ein guter Mann, du bist ein guter Mann, der alte Mann“, und wir klatschen uns ab, gehen unserer Wege und wünschen uns gegenseitig Glück.

Von Zeit zu Zeit skandiert die Menge arabische Slogans und ich glaube, unter anderem die Beileidsformel Allah-y-Rahmo zu erkennen (aber ich kann mich auch irren). Nach einer Weile, nach einigem Hin und Her und einigem Zögern, bewegt sich ein Teil der Menge in Richtung Boulevard des Dames und bleibt an der Kreuzung Rue de la République stehen. Dort wird das Schaufenster des Orange-Geschäfts demoliert, dessen Inneres sich nach Auslösung einer Alarmanlage mit dichtem Rauch füllt. Die jungen Männer machen sich fröhlich an die Arbeit, ohne, wie mir scheint, Telefone zu entwenden. Gleichzeitig wird überall alles mögliche Brennmaterial verbrannt. Man entschließt sich, zum nahe gelegenen Einkaufszentrum Terrasses du Port zu gehen, aber kaum haben die ersten Gruppen das Ziel erreicht, tauchen Polizeiwagen auf, aus denen Polizisten herausspringen, die den Ort mit Tränengas überfluten. Jeder wirft, was er kann, auf die Straße und auf die Bullen, und wir strömen mit hoher Geschwindigkeit zurück. Mir fallen die vielen Mädchen auf, die fröhlich mitmachen und offensichtlich keinen niedrigeren oder gar anderen Status als die Jungen haben. Sie zerschlagen, zündeln, grölen und beteiligen sich an der Entscheidungsfindung, d. h. sie behaupten wie die anderen ihre Wünsche und das, was ihnen am sinnvollsten erscheint. Einige rufen laut und organisieren oder schlagen der Menge eine Richtung vor. Die unkoordinierten und unvorhersehbaren Bewegungen hören nie auf.

In einem Moment, in dem jeder alles, was er findet oder antrifft, auf den Asphalt wirft – in diesem Fall Sträucher in Töpfen -, sagt eine Frau mit ängstlicher Stimme: „Denkt an die Anwohner.“ Sie fleht um Hilfe. Ein junger Mann antwortet, ohne sich umzudrehen: “J’m’en bats les couilles, Madame”, und in diesem Madame wird, wie mir scheint, viel von der sozialen Beziehung ausgedrückt.

Die Menschen sind fröhlich, die Umzüge sind ausgelassen, und viele Schaulustige sind nicht minder ausgelassen. Es ist schwierig, die Randalierer von den Nicht-Randalierern zu unterscheiden, was vielleicht das Merkmal eines Aufruhrs ist. Mehr als Wut ist es eine angenehme Freude an der Zerstörung, die sich zeigt, und in jedem Mülleimer, jedem Scooter und jedem eingeschlagenen Schaufenster ist etwas von den Lebensbedingungen zu spüren, das in die Luft fliegt oder in Rauch aufgeht.

Ich bin beeindruckt von dem tiefen Respekt, den die Feuerwehrmänner genießen, die von niemandem behelligt oder beschimpft werden, was sich meiner Meinung nach ziemlich deutlich von den Unruhen in anderen Städten unterscheidet. Ein Mülleimer wird angezündet, die Feuerwehr kommt, löscht das Feuer, geht wieder weg, der Mülleimer wird erneut angezündet. So laufen die Dinge.

Im Übrigen wird das Stadtzentrum gründlich verwüstet, und von den Polizisten haben wir bislang vor allem die weit entfernten Blaulichter gesehen. Sie feuern Tränengasgranaten auf uns ab, die eine erstaunliche Wirkung haben, und sofort sprinten die Kids 500 Meter weit, als ob ihr Leben davon abhinge (und vielleicht hängt es ja auch davon ab). Die Folge dieser hektischen Mobilität ist eine kollektive Unberechenbarkeit, und es ist eine Untertreibung zu sagen, dass die Polizei überfordert ist. An jeder Abzweigung gewinnt derjenige, der am lautesten oder im besten Moment schreit, in der Regel, indem er das eine oder andere Firmenschild als nächstes Ziel vorschlägt. Manchmal wird einfach nur gerufen: „Zu den Reichen! Zu den Reichen! Und tatsächlich überqueren wir die Canebière und stürmen in die Viertel mit den sogenannten angesagten Bars und Restaurants. Vor der Oper findet eine Milonga statt und die verblüfften Tänzer hören nicht auf, ihre Tangos zu tanzen, sondern beobachten, wie Dutzende von jungen Leuten, die ihnen keinerlei Aufmerksamkeit schenken, im Laufschritt an ihnen vorbeiziehen. 

Man schlängelt sich durch die Terrassen, die manchmal von bodybuildenden Sicherheitsleuten bewacht werden. Mit den verblüfften Konsumenten gibt es im Allgemeinen keinerlei Interaktion. Wir erreichen den Place aux Oiles und dort wird ein Geschäft für Luxusartikel abgeräumt. Auf den Terrassen sitzen Dutzende Spießer, die Sprizz und Mojitos trinken, und an denen wir fröhlich vorbeiziehen. Eine der Bürgerinnen bekommt jedoch Lust zu meckern und beschimpft und belehrt die Menge mit den Worten: Geht nach Hause! Die Reaktion auf eine solche Provokation, die so deutlich macht, dass die Welt für jeden in ein Chez eux und ein Chez nous unterteilt ist, erfolgt augenblicklich: Ich glaube, es ist noch keine Sekunde vergangen, da werden auf den überfüllten Terrassen Tische herumgeworfen, Flaschen und Gläser auf Gäste und Fassaden geschleudert und die betrunkenen und verängstigten Bourgeois flüchten sich in die Bars hinter den zersplitternden Schaufenstern. Doch niemand wird gelyncht, und der Aufstand setzt seinen Weg fort, indem er Weisheit und Milde zeigt, als sei er seiner Stärke sicher, als wolle er seine eigene Großherzigkeit bezeugen.

Andere Terrassen, die von Sträuchern, Fässern und roten Samtkordeln zwischen verchromten Pfosten umgeben sind, werden von Wachleuten bewacht, die mit Tränengasspray, Teleskopschlagstöcken und Flashballs bewaffnet sind. Die letzte Waffe lässt mich denken, dass es sich um Beamte der BAC handelt, aber das scheint nicht der Fall zu sein, und außerdem laufen sie allein mitten durch die Randalierer, was mir nicht wie das Verhalten eines Polizisten der BAC vorkommt. In einer unübersichtlichen Szene stürzt sich einer der Sicherheitsleute auf einen Mann und versucht, ihn festzuhalten, woraufhin er sofort verprügelt wird. Jemand zerschlägt ihm eine Flasche auf dem Kopf. Ein anderer greift sich einen Schlagstock und macht sich aus dem Staub. Nach einer Weile steht der Wachmann wieder auf und ruft mit erstaunlicher Lebendigkeit angesichts der Schläge, die er erhalten hat: „Ich bin kein Bulle! Ich bin auf eurer Seite! Das stößt natürlich nur auf allgemeine Verachtung, und wir lassen ihn stehen und er wartet vergeblich darauf, dass man ihm seinen Schlagstock zurückgibt.

Ich bin bereits am Ende meiner Kräfte und kann nicht mehr mit dem Tempo mithalten, sodass wir eine Pause einlegen, um einen Schluck zu trinken und ein wenig zu verschnaufen. Viele Geschäfte in der Rue de Rome und in den angrenzenden Straßen zeugen von den Plünderungen, die dort stattgefunden haben. Überall liegt Müll herum und es ist nicht ungewöhnlich, in einer leeren Straße auf einen brennenden Mülleimer, brennende Roller und alle Art von brennenden Materialien zu stoßen, die man sich vorstellen kann. Hier und da gehen Leute mit Taschen voller gestohlener Gegenstände umher und die meisten von ihnen lachen. Es wird alles geplündert, auch überraschende Sachen oder Gegenstände, die nicht den Wünschen entsprechen. So begegnen wir Teenagern, deren Arme mit Nylon-Haushaltskitteln mit Blumenmuster beladen sind, und es stimmt, dass sie ein wenig verdrossen oder enttäuscht aussehen. Es gibt jedoch auch BAC-Streifen in ihren schmutzigen grauen Limousinen, und diese Patrouillen häufen sich nach Mitternacht oder ein Uhr morgens. Um diese Zeit taucht auch die RAID in einer Kolonne identischer schwarzer Lieferwagen auf, die mit schwarz vermummten und behelmten Männern beladen sind, mit Kriegsgerät bewaffnet und denen eine Art gepanzerter schwarzer Jeep vorangeht, und der militärische Effekt ist absolut unappetitlich. Das Bild, das mir in den Sinn kommt, ist nicht das eines Krawalls, sondern das eines Krieges gegen Aufständische, z. B. das einer Straße in Falludscha im Jahr 2006.

Vor der Polizeiwache von Noailles stehen immer noch einige Polizisten, die ab und zu von den Leuten verspottet oder beschimpft werden. Nach ein paar letzten Runden durch die verwüstete Stadt gehen wir frohgemut ins Bett.

Freitag, 30. Juni

X und ich beginnen gegen 18 Uhr, wie viele andere auch, in der Innenstadt herumzustreifen. Dort sind viele Riot-Cops anzutreffen. Viele Geschäfte in den Nachbarvierteln des Alten Hafens sind geschlossen und die Bars und Restaurants haben ihre Terrassen weggeräumt, nachdem die Stadtverwaltung die Bewohner per SMS gebeten hatte, ihre Mülltonnen nicht rauszustellen. Zwischen dem Hafen und der Rue de Rome gibt es Hunderte von Kindern im Alter von acht oder zehn Jahren, von denen einige chirurgische Masken und Latexhandschuhe tragen und einige sogar zu den Anarchisten kommen, um Kochsalzlösung und Masken zu erbitten und nach den Flugblättern mit Rechtsberatung und Anwaltsnamen zu fragen. Tatsächlich gibt es viel mehr Anarchisten und Ultralinke als am Vortag und sogar einige Street-Medics. Die Koexistenz findet bis auf die bereits erwähnten Interaktionen eher gleichgültig statt. 

In den Gassen wimmelt es von den Männern der BAC, die rauchend an ihre großen grauen Autos gelehnt sind. Das ganze Wochenende über verblüfften mich diese BACs mit ihrem dämlichen Mut, ihrer Arroganz und ihrem Selbstbewusstsein. Zu viert zögern sie selten, sich einer Menschenmenge zu stellen, und tatsächlich werden sie nicht oft von einer Menschenmenge angegriffen. Diese Unerschrockenheit hat etwas Beängstigendes und es ist sicher, dass diese Typen sich über die Verschärfung des sozialen Krieges freuen und die Kids bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Freuden umbringen würden.

Auf dem Abschnitt der Canebière zwischen Belsunce und dem Alten Hafen herrscht eine Atmosphäre der freudigen und zugleich nervösen Erwartung, und dieses Gefühl scheint mir zum Teil von den Polizisten selbst geteilt zu werden. Die eine und die andere Seite werfen sich herausfordernde, drohende und hasserfüllte Blicke zu. Momente später werden als Journalisten verkleidete Polizisten von der Masse gejagt und jeder wirft ein paar Steine auf sie bei ihrem Rückzug, und das ist wie das Startsignal für einen sportlichen Wettkampf oder die Eröffnungsrede für ein Charivari, und der Aufruhr bricht im nächsten Moment aus.

Der Tabakladen im Centre Bourse wird bald von jungen Männern belagert, die mit Holzlatten den eisernen Vorhang zerschlagen, und es herrscht allgemeines Gedränge. Während die Alarmanlage in Gleichgültigkeit brüllt, werfen einige Leute munter Zigarettenstangen in die Menge. In anderen Momenten kommt es wegen einer Schachtel Zigaretten zu Handgreiflichkeiten. Ich drang in die außergewöhnlich dichte Masse ein und versuchte, mir einen Weg zum Tabakladen zu bahnen, aber als ich im Chaos zwei Meter vor der Tür stand, musste ich unter ungewollten Schlägen mit Ellenbogen und Füßen, Köpfen und Schultern aufgeben. Einige sind auf den Boden gefallen und werden nicht wieder aufgerichtet. Im nächsten Moment jedoch verteilen junge Männer mit breitem Lächeln Zigarettenschachteln an jeden, der sie haben möchte. 

So sind die Dinge. Gerade eben kommen die Letzten mit Mentholzigarettenschachteln in den Händen aus dem Tabakladen, oder mit Getränken, die von den Vorgängern vernachlässigt wurden, oder mit Schachteln voller Zigarettenhülsen, die sie aus Trotz überall hinwerfen, und die Zigarettenhülsen liegen auf der Straße, und regelmäßig heben Leute die Hülsen auf, die sie für Zigaretten halten, und sie sind ihrerseits voller Verdruss.

Ich glaube, ich habe die Reihenfolge der Waren, die in einem Tabakladen geplündert werden, verstanden. An erster Stelle stehen Lotterielose und Rubbelspiele, also das Versprechen eines wahrscheinlichen Geldgewinns. Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Lose nummeriert und somit möglicherweise ungültig sind, und es fällt mir schwer, mir unter diesen fröhlichen jungen Leuten einen Millionär als Gewinner vorzustellen, aber träumen kann man ja immer. An zweiter Stelle stehen natürlich die Zigaretten. Schließlich kommen die Getränke und ich erinnere mich an Bilder von lachenden Kindern, die mit Dosen in der Hand aus dem Tabakladen kommen. Wenn man Dinge zerstört, emanzipiert man sich zweifellos ein wenig von ihnen; ist das Plündern von Waren das gleiche Phänomen? Ich denke, ja, zumindest teilweise. Wie dem auch sei, Plünderung läuft im Grunde darauf hinaus, den Preis der Waren auf Null zu setzen, und ist daher eine Modalität des Klassenkampfes, und wer etwas anderes behauptet, ist ein Narr.

Die Plünderung wird plötzlich durch den RAID-Konvoi unterbrochen, der in der gleichen Formation wie gestern vorbeirauscht, mit einem gepanzerten Fahrzeug an der Spitze, aus dessen Luke der halbe Körper eines schwarz gekleideten Polizisten herausragt, der seine Waffe auf die Menge richtet, und die Menge zerstreut sich wie die Stare. Wir treffen uns am Cours Belsunce und das RAID begnügt sich vorerst mit dieser Autovorführung. Einige gehen bald wieder in den Tabakladen, aber nach einigen Minuten bildet sich eine große Gruppe auf der gegenüberliegenden Seite in der Rue d’Aix. Die Stimmung scheint mir ziemlich schnell ein wenig anders zu sein als am Vortag. Vielleicht etwas weniger fröhlich. Weniger reine Zerstörung und mehr konzentrierte Plünderung. Fast wie ein Job. Wie eine notwendige Aufgabe, der sich die Masse jedoch mit Freude hingibt.

Bestimmte Gebiete werden offensichtlich wegen der Ruhe, die der Drogenhandel erfordert, gegen den Aufruhr verteidigt. An einer Stelle versucht eine Handvoll Teenager, die vor einer Polizeiaktion fliehen, über eine bestimmte Esplanade zu gehen, und ein Typ schreit sie lautstark an und sagt ihnen: Geht da nicht durch! Das haben wir euch gestern schon gesagt! Und die Kinder flüchten sofort. Der Mann scheint übrigens nicht im Geringsten feindselig gegenüber dem Chaos zu sein, aber seine Aufgabe ist es, einen bestimmten Bereich zu schützen, den alle respektieren. Es gibt sogar städtische Zäune, die von Männern in ihren Zwanzigern bewacht werden, und jeder respektiert diese Grenzen ohne Spannungen oder Feindseligkeiten, und man plaudert und kommentiert das Chaos, während man sich an die Zäune lehnt.

In der Rue d’Aix werden weitere Juweliergeschäfte aufgebrochen und geplündert. Hier und da stehen bereits junge Leute auf Pollern, die heiter und illusionslos die fünf Minuten zuvor geplünderten Marlboro-Büchsen zum Verkauf anbieten, aber natürlich kauft sie niemand. All dies geschieht jedoch unter dem Schein von Feuer, Blaulicht und Feuerwerkskörpern und in einer gewissen Fröhlichkeit und einem großen Durcheinander, das offensichtlich alle in der Nachbarschaft begeistert. Die unvorhersehbaren und plötzlichen Bewegungen der Menschenmassen führen uns von hier nach dort in einer vertrauten Logik. Wir stehen eine Weile an der Porte d’Aix, und dort gelingt es einer winzigen Abteilung der BAC durch ihre Präsenz und eine Handvoll Offensivgranaten, Hunderte von Menschen in die Flucht zu schlagen, und mehr als einer findet das schade. Die Baustelle der skandalösen zukünftigen Architekturschule wird geplündert und Müllcontainer und Abfälle aller Art werden angezündet, und die Flammen lecken an der Fassade und schwärzen und verkohlen sie.

Es gibt jedoch noch fünf intakte Roller, die am Rand des Boulevards aufgereiht sind. Man begab sich also zu ihnen, um sie zu verbrennen, aber ein junger Mann sagte ganz ruhig: „Nein, die nehmt ihr nicht”. Man wundert sich. Er wiederholt: „Nehmt die nicht, es gibt noch viele andere.” Man wird neugierig. Schließlich verstehen wir, dass der Mann dafür bezahlt wurde, auf die fünf Roller aufzupassen, weil sie für den Drogenhandel benötigt werden, und nachdem wir das verstanden haben, respektieren alle die Sache und gehen ihren Geschäften nach. Das Auftauchen oder die Aufrechterhaltung dieser Orte der Ordnung in der allgemeinen Unordnung amüsiert und fasziniert mich und macht mich dennoch, glaube ich, ein wenig traurig.

Ein Stück weiter oben taucht plötzlich ein Lieferwagen auf, der von Jugendlichen geschoben und gezogen wird, und einige springen auf das Blechdach und schreien vor Freude. Bald gerät der Lieferwagen außer Kontrolle und rollt den Hang hinunter, und es ist ein Wunder, dass niemand überfahren oder umgestoßen wird, und das Fahrzeug endet in einem Poller. Dutzende von Typen gruppieren sich auf und um den Lieferwagen und zerlegen ihn absurderweise mit Tritten bis auf die kleinste Glühbirne, und er wird mit einer auf der Sitzbank abgelegten Fan-Rauchbombe angezündet. Wir gehen wieder nach oben in Richtung Bahnhof. In einem Moment wirft jemand einen Stein in das Schaufenster eines Ladens und sofort sagen fünf oder sechs Randalierer: „Nein, nein!“ und stellen sich schützend vor das Schaufenster, weil dort Korane und religiöse Artikel verkauft werden. Niemand beharrt darauf und so geht es weiter. Meine oben erwähnten Überlegungen zu Ordnung und Unordnung finden hier neuen Treibstoff.

Vor dem Bahnhof angekommen, zögert die Menge ein wenig. Dann schlagen einige die Türen ein, aber mir gefällt die Vorstellung, im Bahnhof festzustecken, nicht. Plötzlich beginnen die Leute zu schreien: „‚Fickt den Skoda!” und wir sehen, wie ein grauer Skoda der BAC mit vier widerlichen Polizisten darin vorfährt und alle beginnen, den Skoda mit allem zu bewerfen, was sie in die Finger bekommen können, und ich denke, dass die Marke Skoda von nun an für immer mit repressiven Kräften in Verbindung gebracht wird. 

Der Polizist am Steuer manövriert brutal unter Steinen, Flaschen und allen erdenklichen Wurfgeschossen hindurch und schleudert das Fahrzeug mit voller Geschwindigkeit und heulenden Reifen nach vorne, um die Leute auf seiner Flucht zu überfahren. Das Auto rast weniger als einen Meter an meinen Beinen vorbei und ich spüre die Gewalt der Luftverdrängung, die es verursacht, und es kracht in einen Betonblock. Da der Verkehr in keiner Weise unterbrochen wurde, reagieren die anderen Fahrzeuge in einem sinnlosen und wahnwitzigen Durcheinander, und in dem Chaos gelingt es dem Skoda, sich zu befreien und unter einem Hagel von Schimpfwörtern und Spott, Bierflaschen und Pflastersteinen, Schotter und sogar absurden Handvoll Kies zu fliehen.

Was mich betrifft, bin ich jedoch ziemlich fertig von der Szene und meine nervliche Anspannung verlangt, dass wir uns eine Pause gönnen, während der Aufruhr auf seinem Rundgang von Tabakladen zu Tabakladen weitergeht. Ich denke darüber nach, dass es morgen nicht einfach sein wird, Zigaretten zu kaufen. Nach dem Tabakladen am Bahnhof, dessen Registrierkasse offenbar voll war, ist nun der Tabakladen am Gambetta an der Reihe. Die Plünderungen hören nicht mehr auf, während Konvois von Polizisten mit heulenden Sirenen vorbeifahren, und wie aus Gewissensgründen werden sie im Vorbeigehen gesteinigt, wobei einige Steine an ihren Panzerglasscheiben abprallen. Durch unsere Pause haben wir unsere Gruppe verloren, und wie sich bald herausstellt, sind es zahlreiche Gruppen von einigen Dutzend Personen, die in einem unbeschreiblichen Durcheinander das gesamte Stadtzentrum plündern. Wir irren umher. Manchmal schließen wir uns einer Gruppe an. Wir verlieren sie bald wieder. Wir finden eine andere wieder. So geht es eine Weile weiter. Unermüdlich werden Geschäfte aufgebrochen, egal welche Waren sich darin befinden, und man kann Teenagern begegnen, die alles tragen, was die Marktwirtschaft hervorbringt. In Noailles wird ein Waffenladen geplündert und einige Gewehre gestohlen. Sogar die Buchhandlung Maupetit, die dem Verlag Actes Sud gehört, wird aufgebrochen, und ich hätte viel darum gegeben, am nächsten Morgen den Gespräche der Angestellten und Geschäftsführer zu lauschen.

Überall vom Alten Hafen bis zu Réformés und von der Präfektur bis zum Porte d’Aix – und zweifellos auch weit darüber hinaus – trifft man auf Schritt und Tritt auf Menschen, Kinder, Jugendliche, Mütter, die Einkaufstaschen, Kleiderstapel oder Kartons mit Elektronikartikeln tragen, während die Polizisten vor dem Kommissariat Noailles immer blasser werden und hilflos mit ansehen müssen, wie sich diese gewaltige Noria ausbreitet. Ein Junge, der mindestens acht Daunenjacken übereinander trägt, wird von seinen Mitschülern wegen der heraushängenden Etiketten ausgelacht. Frauen mittleren Alters schleppen mühsam große Säcke, die mit wer weiß was beladen sind. Auf dem Weg zu Réformés bringt ein Mann ebenfalls eine Einkaufstasche mit und wird von den zehn anderen Männern, die ständig dort anzutreffen sind, mit stehenden Ovationen gefeiert. Überall sind die Straßen mit Müll und Schutt und Kleiderbügeln und verkohlten Überresten und Glasscherben und Bauzäunen und Tränengaspatronen und Flashballs übersät. Das Einkaufszentrum Centre Bourse gab nach zahlreichen Versuchen endlich nach und wurde unter dem Lärm von Dutzenden von Alarmanlagen, Granatenexplosionen und Feuerwerkskörpern geplündert. Der ‘Rundgang der Tabakhändler’ wird ein zweites Mal genutzt, um einen Juwelierladen nach dem anderen zu plündern. All dies findet in einer hybriden Atmosphäre statt, die weniger angenehm als am Vortag ist und die, obwohl der Spaß weiterhin dominiert, angespannter ist. Als wäre die Lynchjustiz nie weit entfernt. Manchmal kommen Kinder aus einem Tabakladen oder einem Juweliergeschäft und werden von älteren Teenagern ausgeraubt. Hier und da bricht eine Schlägerei aus. Mit zunehmender Dunkelheit tauchen vor den geplünderten Geschäften Zweiergruppen auf Motorrollern auf, die neue Wege für die Waren organisieren.

In einem Moment, als in der Rue de la République die lauten Detonationen der Polizeigranaten ertönen, sagt ein junger Mann zu mir: „Hast du gesehen, womit sie auf uns schießen?” Dann zieht er seine chirurgische Maske hoch und fährt fort: “Es gibt zwei Arten von Menschen. Es gibt die, die sich ausdrücken. Und es gibt die, die da sind, um sich zu bereichern.” In seinen Augen funkelt die Freude und nach einer rhetorischen Pause sagt er: “Und ich bin ehrlich. Ich bin hier, um mich zu bereichern!” Er lacht und ich sage ihm, dass er wahrscheinlich Recht hat und frage ihn, ob es im Grunde nicht ein bisschen das Gleiche ist und er sagt: “Frankreich gibt der Ukraine Milliarden und wir bekommen nie etwas.“ Er rechtfertigt sich nicht. Er erklärt es. Er stellt mir seine politischen Überlegungen vor und wie kann man da nicht zustimmen? Solche Interaktionen wiederholen sich und in den Gedanken dieser Kids scheint mir das, was man als Klassenbewusstsein bezeichnet, ganz klar zu sein. Alle hassen oder verachten den Staat und seine Führer und spucken aus, wenn sie den Namen Darmanin aussprechen, den sie systematisch als Vergewaltiger bezeichnen, und verunglimpfen die Rechtsbeugungen und den berüchtigten Charakter von diebischen und rassistischen Ministern.

Für uns endete der Abend gegen 1 Uhr morgens, aber der Aufstand hatte die ganze Nacht gedauert und nur wenige Geschäfte im Stadtzentrum blieben verschont. Die BAC streift jedoch mit ihren verfluchten Skodas durch die Gassen und nimmt einzelne Kids fest, und die Rolle der RAID nimmt zu, die beginnt, ihre Pumpguns mit sogenannter „Sitzsackmunition“ einzusetzen. Es handelt sich um kleine Leinensäckchen, die mit Blei gefüllt sind, und ich glaube, in einer 12-Millimeter-Patrone befinden sich zwei Säckchen davon. Diese Munition, die in Hülle und Fülle auf dem Boden liegt, nehmen wir auseinander und alles deutet darauf hin, dass sie selbst gebastelt wurde. Wir stellen uns vor, wie die Elitepolizisten bei der Nachtwache von ihren Heldentaten erzählen, während sie ihre kleinen Beutel mit bösen Absichten füllen und verknoten. Schließlich kehren wir erschöpft und fröhlich zu den Familienmüttern zurück, die unermüdlich die Läden leeren, was heute Abend scherzhaft als Schlussverkauf bezeichnet wird.

1. Juli

Am Samstag beschloss die Bourgeoisie, in Marseille für Ordnung zu sorgen. Die Regierung schickte zusätzliche Polizisten, einen zweiten Hubschrauber und Panzer der Gendarmerie dorthin. Die Besitzer von Geschäften, die noch nicht zerstört waren, wurden von den Behörden angefleht, ihre Rollläden nicht zu lüften, aber einige öffneten dennoch. Im Laufe des Tages werden einige Geschäfte von ihren Besitzern vorsorglich geräumt und niemand weiß, wohin die Lastwagen mit den provisorisch geretteten Waren fahren. Das Stadtzentrum ist mit Holzpaneelen überzogen und auf einigen dieser Paneele haben die Ladenbesitzer Sätze wie „Der Laden ist leer“ geschrieben, in der Hoffnung, dass sie von der Willkür ihrer Mitmenschen verschont bleiben.

Kaum bin ich am Abend in der Innenstadt angekommen, hasse ich die Atmosphäre und möchte am liebsten wieder gehen. Wir laufen eine Weile in einer sehr angespannten Atmosphäre herum, mit Horden von Polizisten und BACs überall und einer amorphen und zögerlichen Menschenmenge, die kommt und geht und voller berechtigtem Misstrauen ist. Man erfährt, dass kurz zuvor jemandem die Hand von einer Granate abgerissen worden sein soll. Durch das Gas und die Fahrten der Polizeiwagen zerstreute sich die Menge und formierte sich neu, und wir verstanden nichts. Die Behörden hatten zweifellos die Idee, die Masse am Alten Hafen einzuschließen, aber das hat nicht funktioniert und die Gruppen verteilen sich wieder überall.

In jeder Gasse lauern jedoch Polizisten in Zivil und bald entscheide ich mich aufgrund meiner nervlichen Anspannung, mich vom Zentrum zu entfernen, und vereinbare mit meinen Genossen, dass wir uns später wieder treffen.

Kaum habe ich Noailles durchquert, werde ich von Kindern im Laufschritt überholt und Noailles füllt sich mit Tränengas und ich treffe mich mit Freundinnen in der Bar du Peuple. Mit einem Bier in der Hand beobachten wir, wie der gegenüberliegende Tabakladen überfallen wird. Zwanzig Minuten lang machten sich die Kinder an dem eisernen Rollladen zu schaffen, der hundert Meter von der Polizeiwache entfernt war, aber sie schafften es nicht, in den Laden einzudringen, wie mir schien. Plötzlich stürmt die RAID vor. Der Panzer baut sich an der Kreuzung auf und versprüht Tränengas, und die Elitepolizisten mit ihren Gesten und Schritten wie Filmsoldaten schwärmen aus und gehen in ihren furchterregenden schwarzen Uniformen mit Helmen und Nachtsichtgeräten und Kapuzen und all ihren Utensilien und ihren Pumpguns hinter Nischen in Deckung. Kaum waren sie gelandet, schossen sie ohne weiteres Zutun in die Menge, die in Panik zurückströmte, und die Patronenhülsen vom Kaliber 12 prallten auf den Asphalt, und die “Sitzsäcke” zerschnitten die Luft und das Fleisch, und ich wollte nicht länger warten. In diesem Moment wird mir klar, dass es sich hier nicht um die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung handelt, sondern um eine aggressive Demonstration des Bürgerkriegs gegen Aufständische.

Dennoch gibt es hier keinen Aufstand. Es gibt etwas in den bürgerlichen Strategien, das ich nicht verstehe und das mir natürlich Angst macht. Was die CRS betrifft, so ist man fast versucht, mit der Demütigung mitzufühlen, die es für sie darstellt, wie Unmenschen hinter der RAID herzutraben und deren Abgase einzuatmen und nicht mehr viel für die Aufrechterhaltung der Ordnung leisten zu können. Sie werfen höchstens ein paar Tränengasgranaten, um Eindruck zu erwecken, während die RAID schon längst den Platz geräumt hat.

Wir gehen in einem ruhigen Getümmel wieder nach oben, diesmal in Richtung Cours Julien, wo es viele angesagte Bars gibt. Als wir dort ankommen, brennen bereits die Mülltonnen und die Besitzer und Kellner räumen hastig ihre Terrassen ab. Sie scheinen empört darüber zu sein, dass es die Welt überhaupt gibt und dass sie sich ihnen so offenbart. Ich beobachte mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Abscheu den Exodus der Bobos, die vom Cours Julien vertrieben wurden, in der Hoffnung, dass sie in La Plaine ihre Gespräche über Kunst oder CBD oder Ökobau fortsetzen können, während sie eine Halbe schlürfen, weit weg von den sozialen Spannungen, die sie ignorieren wollen. Leider ist die Situation in La Plaine nicht viel besser für sie, denn der Tabakladen wurde gestürmt und der Platz von der CRS besetzt, während die RAID unterhalb des Platzes im unangenehmen Scheinwerferlicht wartet.

Endlich finde ich X und dann Y, und die RAID schießt mit Repetierschrotflinten auf sie, und X wird am Knie getroffen. Durch unglaubliches Glück streifte das Projektil, das selbst die bürgerliche Presse als „Munition mit verschleierter Tödlichkeit“ bezeichnete, sein Knie und riss die Jeans zehn Zentimeter weit auf, ritzte die Haut aber nur auf und rötete sie. Zwei Minuten später wurde er von den CRS kontrolliert, die ihn durchsuchten und seine Bauarbeiterbrille konfiszierten, und sie sagten: Allez-y Monsieur, und ließen ihn privilegiert gehen, wie er es aufgrund seiner weißen Haut und seines reifen Alters ist. Es stimmt, dass wir ausnahmsweise von den Polizisten nicht sofort als Freiwild betrachtet werden, im Gegensatz zu den vielen proletarischen Kindern in Marseille, die ein weniger beneidenswertes Schicksal erleiden.

Diese Sache, mit Kriegswaffen wie Kaninchen geschossen zu werden, kränkt uns und schürt unsere Wut. Wir leeren Bierdosen vor einem Lebensmittelgeschäft und beschließen schließlich, nach Hause zu gehen, weil wir genug haben. Wir sind mit dem Fahrrad unterwegs und kaum haben wir die Brücke unter den Eisenbahngleisen überquert, stellen wir fest, dass sich diesmal der Aufruhr in diesem Viertel ausgebreitet hat. Der Boulevard National ist so weit das Auge reicht mit brennenden Mülltonnen und brennenden Benzinschlieren bedeckt. Auch der Tabakladen wurde hier geplündert. Die beiden Hubschrauber kreisen sehr tief mit eingeschalteten Scheinwerfern und durchsuchen die Gassen. Auch hier gibt es die RAID in ihrer obszönen und untauglichen Effizienz und hinter sich herziehend die schwerfälligen CRS in ihrem ziellosen Hin und Her. Es gibt jedoch kaum sichtbare Gruppen von Randalierern. Ab und zu ziehen kleine, sehr mobile Gruppen hin und her und lösen neue Polizeiaktionen aus, aber die jungen Männer sind zu schnell und unberechenbar und verschwinden im Nu, um drei Straßen weiter wieder aufzutauchen. Es gibt Zweiergruppen auf Motorrollern, die auftauchen, die Polizisten belästigen und wieder verschwinden, in einer proletarischen Adaption der abscheulichen Voltigeurs der Polizei: Einer fährt und der andere steinigt die Polizisten. In diesem Viertel wirkt die Polizei verloren und orientierungslos, während die Bevölkerung, die in Flip-Flops die Ereignisse in allen Sprachen kommentiert, besorgt und ziemlich feindselig auf sie blickt.  Wir schleichen ein bisschen mit dem Fahrrad herum und kommen schließlich nach Hause, wo ich bis fünf Uhr morgens aus dem Fenster den Hubschrauber, die Sirenen und das Feuerwerk überall in der Umgebung höre.

Als ich am nächsten Sonntag wieder einmal auf der Canebière spazieren gehe, schaue ich mir neugierig das Innere eines völlig demolierten Geldautomaten an, dessen Innereien und Funktionsweise man ausnahmsweise einmal detailliert nachvollziehen kann. Zwei Meter entfernt stehen erschöpfte und bemitleidenswerte CRS. Eine kleine Gruppe von Frauen jeden Alters schließt sich meinen Beobachtungen an und mit Heiterkeit und sehr lauter Stimme kommentieren wir, was wir sehen, und sie und ich haben sichtlich Freude daran, sowohl die Freude über den zerstörten Automaten als auch die Freude über die Beobachtung des materiellen Zeugnisses für das Scheitern des Ordnungsauftrags der Polizisten, die uns gedemütigt hasserfüllte Blicke zuwerfen, zu unterstreichen.

Ich weiß nicht so recht, was ich von diesen unglaublichen Momenten halten soll. Ich habe eine unbeschreibliche Freude empfunden, das ist klar. Für einen kurzen Moment alles auf den Kopf zu stellen, ist zweifellos eine der größten Freuden, die uns diese Existenz und diese Welt bieten. Die Stadt, so scheint es mir, erfüllt nur dann ihre wahre Bestimmung, als wäre der Rest der Zeit eine Anomalie und die wahre Natur der Stadt würde sich endlich in Freude und Chaos offenbaren. Nichtsdestotrotz hat das Proletariat in seiner Macht, seiner Großzügigkeit und seiner Pracht im Aufruhr weder seinen eigenen Zustand noch die barbarischen Warenkreisläufe abgeschafft: Für eine Reihe dieser Waren handelte es sich, wenn man die Dinge auf die Spitze treibt, nur um eine Art Eigentumsübertragung, und sie kehrten sofort in die Warenkreisläufe zurück. So konnte man in Online-Shops sofort Computer zu erstaunlichen Preisen finden. Die dreißig Autos, die am Samstagabend aus dem Volkswagen-Autohaus gestohlen wurden, sind sicherlich bereits lackiert und manipuliert worden und ihr Schicksal bleibt wahrscheinlich das von Waren.

In einer vergleichbaren Logik erschienen mir die Elemente der Ordnung, die sich im Verlauf des Ausbruchs der Unordnung als gültig erwiesen, durchaus solide. Dass ein solcher Aufruhr die synchrone Perpetuierung der Wertsteigerung des drogenbezogenen Handelskapitals zulässt und respektiert, ist übrigens nicht sehr überraschend; höchstens etwas ärgerlich. So sind die Dinge nun einmal. 

Andererseits lässt mich die wahnhafte und barbarische Gewalt der Wiederherstellung der Ordnung durch militärische Truppen und Methoden der Aufstandsbekämpfung das Schlimmste für die kommende Zeit befürchten, und dennoch ist dies nicht die Schuld des Proletariats, sondern der Bourgeoisie, die unmissverständlich zeigt, dass sie bereit ist, zu töten und zu massakrieren, um ihre barbarische Macht über die Menschen und die Zirkulation des Werts aufrechtzuerhalten. Dennoch erwärmen die Momente der Hoffnung, die diese Revolte vermittelt, mein Herz, und die Interaktionen mit diesen fröhlichen und stolzen Jugendlichen, die ausnahmsweise einmal den Lauf ihres Lebens bestimmen, hinterlassen bei mir einen Geschmack der Wonne. Jeder Moment, in dem die Gammler und Nichtsnutze auf diese Weise die Dinge auf den Kopf stellen, scheint mir unmissverständlich ein Gegengewicht zur ständigen Hölle des bürgerlichen Lebens zu sein. Der Schrecken, den die Bourgeoisie empfindet, scheint mir diesen Gedanken übrigens zu bestätigen.

Der vielleicht angenehmste Gedanke ist, dass die Bourgeoisie niemals diese intensive, wunderbare Freude erleben wird. Das geschieht ihnen recht.

Übersetzt aus dem Französischen von Bonustracks. 

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