Wir trauern um die Opfer der Massaker in Israel und Palästina

Revolutionäre Juden und Jüdinnen (Frankreich)

Am Samstag, den 7. Oktober, sind wir mit dem Schock des Hamas-Angriffs aufgewacht, mit erschreckenden Zeugenaussagen, für manche mit der Angst um ihre Angehörigen dort und für alle mit der Angst um die Juden hier. Ein Teil der politischen, gewerkschaftlichen, dekolonialen und antirassistischen Linken hat sich für die Unterstützung der antisemitischen Mörder entschieden und übernimmt manchmal wörtlich die Kommunikation der Hamas. 

Wir sind wütend auf diejenigen, die sich hier über das von der Hamas vergossene Blut freuen. Wir sind wütend über das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entmenschlichung des israelischen Lebens. Wir sind erstaunt, wie wenig sie sich um das Leben der Palästinenser kümmern, da diese Unterstützer der Hamas nicht zu verstehen scheinen, welche Auswirkungen dies bereits auf die Situation im Nahen Osten hat. Die aktuelle Bilanz weist über 900 Tote und 2.616 Verletzte in Israel während dieser Angriffe aus, von denen die große Mehrheit unbewaffnete Zivilisten waren und sind.

Wir möchten an eines erinnern: Es gibt keine Rechtfertigung für die absichtliche Tötung von Zivilisten, weder von Israelis noch von Palästinensern.

Keine. Man kann nicht „seine Unterstützung für die Kampfmittel, die die PalästinenserInnen gewählt haben, um Widerstand zu leisten“ (Kommuniqué der NPA vom 7. Oktober) zum Ausdruck bringen, wenn diese Mittel Massenmorde an Zivilisten, Entführungen und die Ermordung von Männern, Frauen, Kindern und alten Menschen sind. Noch weniger, wenn diese Morde in Form glorreicher Spektakel von Enthauptungen, Zurschaustellung von Leichen, Misshandlungen und Erniedrigungen, die leblosen Körpern zugefügt werden, inszeniert werden. Dies ist das makabre Ergebnis einer wahllosen Operation gegen Juden und alle, die sich ihnen in den Weg stellen, ohne dabei auf strategische, militärische oder wirtschaftliche Ziele abzuzielen. Unter den Opfern sind Jugendliche, die an einer Rave-Party teilnahmen, Friedensaktivisten, Anarchisten gegen die Mauer, thailändische Gastarbeiter und viele andere.

Die Reaktionen zur Unterstützung der Hamas klingen wie eine niederträchtige Rechtfertigung antisemitischer Kriegsverbrechen, die an Opfern begangen werden, deren ziviler Charakter sowohl von der Hamas als auch von ihren Unterstützern in einem Teil der westlichen Linken verleugnet wird. Die Leugnung des zivilen Charakters der Opfer ist der ideologische und argumentative Dreh- und Angelpunkt der Hamas, die alle israelischen Juden und Jüdinnen als Siedler und damit als legitime Ziele betrachtet.

Diese verhängnisvolle Gleichsetzung von Juden und Jüdinnen mit Israelis und Siedlern macht jeden Mord und jede Entführung akzeptabel. Scheich Jassin, der Gründer der Hamas, sagte in diesem Zusammenhang: „Jeder Jude ist ein Ziel und kann getötet werden“. Die von der Hamas betriebene Vernichtungslogik hat nur ein Ziel: die Israelis in die Flucht zu schlagen. Die Botschaft der Hamas ist klar: „Geht nach Hause“. Aber wo ist dieses vermeintliche „nach Hause“? Es ist doch klar, dass niemand diesen Teil des Nahen Ostens verlassen wird, selbst wenn er in Flammen aufgeht: Israelis und Palästinenser haben keinen Ort, an den sie gehen können. 

Diese Gewalt, die von einem Teil der Linken gerechtfertigt wird, hat Konsequenzen für alle Juden in der Diaspora.

Seit der zweiten Intifada im Jahr 2000 wird jeder Ausbruch von Spannungen im Nahen Osten von einem Import von Feindseligkeiten gegen die (jüdische) Identität hierzulande begleitet, was sich in einer Welle antisemitischer Akte niederschlägt. Manche Menschen verzichten schweren Herzens darauf, ihre religiösen Zeichen wie Kippa, Davidstern und Mezuzah vor der Haustür zu tragen. Seit dem Wochenende wurden bereits Dutzende antisemitische Vorfälle gemeldet, während die Atmosphäre in den sozialen Netzwerken, wo Posts, die die Massaker verherrlichen, Hunderttausende Likes erhalten, unerträglich ist. Jeder konsequente Antirassist sollte darüber alarmiert sein und den Juden und Jüdinnen zur Seite stehen.

Man kann und sollte die Politik der israelischen Regierung und ihre Verbrechen an den Palästinensern verurteilen, ohne die Kriegsverbrechen der Hamas zu entschuldigen. Man kann die Unsichtbarmachung des palästinensischen Leidens anprangern, ohne das Leiden der zivilen israelischen Opfer auszulöschen und zu leugnen. Das ist möglich. Und es ist der einzige Weg, der für eine Linke ehrenhaft ist. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die klare Stellungnahme des LFI-Abgeordneten Rodrigo Arenas. Alle, die die Hamas verherrlichen, ohne sich für die antisemitischen Schandtaten in ihrer Charta zu interessieren, ohne ihre kriminellen Methoden, auch gegenüber der palästinensischen Bevölkerung unter ihrer Kontrolle, zu berücksichtigen, bekräftigen eher eine pseudopolitische Radikalität, als dass sie sich für den Kampf für eine Welt einsetzen, die von all ihren Unterdrückungsformen befreit ist.

Schließlich sei daran erinnert, dass internationale Regeln wie die Genfer Konvention keine bürgerlichen Launen sind, sondern wichtige soziale Errungenschaften, die darauf abzielen, in Kriegszeiten diejenigen zu schützen, die sie am meisten brauchen – Zivilisten und Gefangene – und von denen es absolut nicht wünschenswert ist, sie zu ignorieren. Die Unterstützung der Hamas, des Islamischen Dschihad oder der Hisbollah, die alle vom Iran der Ayatollahs finanziert werden, ist keine heldenhafte Unterstützung der leidenden Palästinenser, sondern eine äußerst fatale Botschaft an alle jüdischen Menschen, dass sie und ihre nahen oder fernen Mitmenschen, die die Schande des Atmens auf sich genommen haben, es nicht verdienen, weiterhin zu atmen.

In Israel lebt eine Mehrheit von Menschen, die Flüchtlinge sind oder aus Flüchtlingsfamilien stammen. Ob Zionisten oder nicht, es ist die elementare Notwendigkeit, irgendwo zu leben, die sie dorthin gebracht hat.

Flüchtlinge nach der Shoah, als die meisten Länder ihre Grenzen für sie geschlossen hatten. Flüchtlinge, die nach dem Krieg von 1948 und den Vertreibungen aus Ägypten, dem Irak, Syrien, dem Libanon, dem Jemen usw. zu Staatenlosen wurden. Alle Israelis auf Siedler zu reduzieren, um ihre Ermordung zu rechtfertigen, ist eine Vereinfachung der Geschichte des Antisemitismus, der jahrtausendealten Verfolgung der Juden und ihrer Folgen. Die meisten Israelis sind heute Sabra, in Israel geboren, es ist ihr Land und sie haben kein anderes. 

Ja, die Gründung Israels war auch das Ergebnis kolonialer Praktiken und hatte die Nakba für die Palästinenserinnen und Palästinenser zur Folge. Ja, sie ist auch durch die Kolonisierung und die brutale Besetzung des Westjordanlandes und die Blockade des Gazastreifens gekennzeichnet, noch dazu unter der derzeitigen rechtsextremen Regierung. Aber das kann keine Rechtfertigung für eine Entmenschlichung der israelischen Bevölkerung sein. Wenn man der Verantwortlichkeit des Antisemitismus, egal woher er kommt, für die aktuelle Situation ins Auge sieht, muss man sich von vereinfachenden Schemata lösen. Der einzige Weg zur Gerechtigkeit ist es, all diesen Realitäten ins Auge zu blicken, den Unglücken, die sich addieren und nicht gegenseitig aufwiegen. Die Israelis zu entmenschlichen ist ebenso wenig akzeptabel wie die Palästinenser zu entmenschlichen. Hinter den Toten stehen Familien und Angehörige, die jeden Tag trauern. Und hinter den Parolen und eingängigen Slogans verbergen sich unerhörte Gewalttaten, die nur durch Zuhören und Demut verstanden werden können.

Traumata heben sich nicht auf, sondern häufen sich nur an.

Auch wenn die Ereignisse für viele Menschen, insbesondere für die jüdische Minderheit, traumatisch sind, bleibt es notwendig, eine solidarische Haltung auch gegenüber den Leiden des palästinensischen Volkes zu bewahren, das seit Jahrzehnten Opfer von Besatzung, Kolonialismus und Krieg ist. Traumata heben sich nicht auf, sondern häufen sich nur an. Sich über das andauernde Massaker in Gaza zu freuen oder es zu rechtfertigen, ist nicht akzeptabel und wird es auch nie sein. Die aktuelle Bilanz weist 687 Tote und 3727 Verletzte auf.

Die israelischen Bombardements machen alles dem Erdboden gleich, wir dürfen nicht blind sein, es sind Leichenberge von Palästinenserinnen und Palästinensern, die darunter liegen. In den letzten Jahren wurden Tausende von Palästinensern getötet, darunter viele Kinder und Zivilisten, die es auch nicht verdient hatten zu sterben, sondern frei und in Frieden zu leben, weit weg vom Krieg, den Panzern der israelischen Armee und den Mördern der Hamas. Und allzu oft hat ihr Tod in Europa nur Schweigen und Gleichgültigkeit hervorgerufen. Heute leben zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser unter unzumutbaren Bedingungen in Gaza, einer Stadt, die ein einziges Gefängnis unter freiem Himmel ist. Wir können auch ihre Enthumanisierung nicht hinnehmen. Die militaristische Flucht nach vorn und die Aufrechterhaltung des kolonialen Status quo sind keine Lösung, sondern eine Albtraumvision, die nur zu einer noch schlimmeren Hölle führen kann.

Viele Angehörige von Opfern trauern in diesem Moment, jüdische Angehörige, palästinensische Angehörige, israelische Angehörige, und wir sehen nicht, was es angesichts ihrer Trauer zu feiern gibt. Das gesamte politische Spektrum ist von einer tödlichen Logik geprägt, die diese Todesfälle als notwendiges Übel darstellt. Ein echtes linkes Projekt besteht darin, über Deeskalation und das Recht auf Gleichheit für alle Menschen, die diese Erde bewohnen, nachzudenken. Im Gegensatz dazu hoffen die faschistischen Rechtsextremen auf einen Krieg der Zivilisationen und freuen sich über die laufenden Massaker. Unser Judentum und unser linkes Engagement bringen uns dazu, das Leben zu feiern.

An diesem Schabbat während des Kiddusch und bei anderen Gelegenheiten werden wir Le’haïm (Auf das Leben) wiederholen. Mit unseren Gefühlen und Reaktionen, so aufrichtig und schmerzhaft sie auch sein mögen, müssen wir uns von dieser nihilistischen Fantasie des Aufeinanderprallens der Zivilisationen distanzieren. Verwechseln wir nicht den Impuls zum Leben, der von denjenigen ausgedrückt wird, die in Israel und Palästina für Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen, mit dem von der Hamas und der israelischen extremen Rechten gewünschten Impuls zum Tod. 

Revolutionäre Jüdinnen und Juden, Dienstag, 10. Oktober 2023

Erschienen auf Le Club de Mediapart, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Wir trauern um die Opfer der Massaker in Israel und Palästina

Khaled

Rasha Abbas

Ich durchsuche die Fotos, und wenn ich einen Verdacht hege, versuche ich mich an Details zu erinnern, an ein Muttermal auf der Wange, eine Wunde am Knie. Aber die Suche nach den Ertrunkenen oder den Toten und das Warten auf die Rückkehr der Verhafteten sind sinnlose Unterfangen, genauso sinnlos, wie in jenen Städten auszuharren, die nur darauf warten, als nächstes zerstört zu werden.

Khaled Khalifa

Wie lächerlich, wie unangemessen ist es, dir eine Grabrede zu schreiben.

Die vielen Liebesbekundungen für dich mögen überraschen, aber Tatsache ist, dass du immer nach klaren, tief empfundenen und unerschütterlichen Prinzipien gelebt hast. Du hattest ein Gespür für die angeborene Schönheit und beherrschtest sie wie kein anderer. Deshalb ist es nur angemessen, dass wir dich auf eine wirklich schöne Art und Weise ehren, z. B. durch eine Tätowierung auf der Handfläche, durch aufrichtige Worte inmitten verstreuter Rosenblätter oder durch einen Abend voller tiefer Gefühle und offener Geständnisse gegenüber unseren Liebsten.

Abschiede fühlen sich oft kalt an, ein erwartetes Ritual, das wir unzählige Male wiederholen müssen, eine bittersüße Norm unseres Lebens. Nehmen wir zum Beispiel jene vorhersehbare Nacht in Berlin, in der wir zum letzten Mal, während des Höhepunkts aller Klischees zusammenkamen – einer Techno-Party. Meine Sicht war verschwommen, vernebelt von Nebelmaschinen oder vielleicht Zigarettenqualm. Doch da warst du, standest an der Wand und beobachtest die Tanzfläche aus der Ferne. Ich bahnte mir den Weg durch den Nebel und sah deine leuchtenden Augen, die im schwachen Licht schimmerten. Die Musik war ohrenbetäubend, doch wir sprachen miteinander. Als du auf meinen Drink deutest, halte ich meine Wasserflasche hoch und erkläre dir, dass ich nur das trinke, um meine Figur zu halten. Du hast süffisant gelächelt. Du hattest diese Macht über mich, mich lächerlich zu machen, was ich seit dem Beginn meiner Freundschaft mit dir – vor sechzehn oder siebzehn Jahren – all die Zeit akzeptiert hatte. Es war gegen deine Prinzipien, so etwas zu tun, sein Temperament im Zaum zu halten, Diät zu halten, sich zu zensieren, sich um sein öffentliches Image zu sorgen.

Dies waren einige der intuitiven Weisheiten, die dein Leben geprägt haben. Jede Andeutung von Selbstbeschränkung, selbst wenn sie als Zuneigung getarnt war, hat dich schnell frustriert. Als wir in meinen frühen Zwanzigern miteinander zu tun hatten, hast du mich immer wieder ermutigt, Selbstvertrauen und Selbstachtung in den Vordergrund zu stellen, ohne Rücksicht auf äußere Kritik oder Spott. Du hast oft über vergangene Kritik nachgedacht, mit der du konfrontiert wurdest, und hast Kritikern gesagt: „Du wirst alle möglichen Geschichten über mich hören, sowohl gute als auch unangenehme, und die meisten davon sind wahr. Aber ihr solltet euch mit der Person beschäftigen, die ihr vor euch seht.“

Das Schreiben war nicht etwas, das du so leicht genommen hast wie diese spielerischen Sticheleien. Oft sah man dich in Cafés, wo du stundenlang in deine Arbeit vertieft warst. Du hast nicht gezögert, die Werke angehender und erfahrener Autoren zu rezensieren und warst immer bereit, deine Erkenntnisse mit ihnen zu teilen, sie aufzumuntern oder sie sogar für ihre vermeintliche Faulheit zu tadeln. Diese Beziehungen waren unkompliziert, frei von jeglicher Zweideutigkeit oder Nachsicht. So konnte es vorkommen, dass man aus heiterem Himmel eine spitze Botschaft von Khaled Khalifa erhielt mit der Bemerkung: „Ich habe heute etwas gelesen, das du geschrieben hast und das mir nicht gefallen hat.“

Ich habe eine solche Offenheit selbst erlebt. Deine Verachtung für Zurückhaltung und Schüchternheit war spürbar, nicht nur in deinen Schriften, sondern auch in der Art, wie du gelebt hast. Deine selbstbewusste Präsenz in unserem Leben war unverkennbar, du hast nie um Erlaubnis gebeten und immer die Führung übernommen. Viele von uns aus meiner Generation, die sich schon früh für das Schreiben und die Künste begeisterten, nannten dich bei unseren regelmäßigen Treffen in Cafés und Bars liebevoll „Onkel“. Es ist schade, dass du wahrscheinlich nie begriffen hast, wie viel Dankbarkeit wir für diesen unkonventionellen Mentor empfanden, den du für uns verkörpert hast. Du hast die Rolle des rebellischen Onkels gespielt, hast uns geholfen, der Schule und der elterlichen Aufsicht zu entkommen, warst unser Alibi für die heimlichen romantischen Ausflüge und hast uns gleichzeitig Werte vermittelt, die unsere Unabhängigkeit förderten. Du hast uns beigebracht, uns von gesellschaftlichen Fesseln und Traditionen zu befreien, familiäre und akademische Normen in Frage zu stellen und unsere Liebesaffären und Eskapaden furchtlos zu meistern.

Mit dir abzuhängen bedeutete, das Unerwartete zuzulassen – Gespräche mit Fremden am Nachbartisch, ein geplantes kurzes Treffen, das sich zu einem nächtelangen Streifzug durch die Stadt entwickelte, und spontane Übernachtungen bei dir, wenn es zu spät wurde, um die zahllosen Kontrollpunkte auf dem Weg nach Hause zu überwinden. An diesen Treffen nahmen oft Leute teil, die wir kannten, Neuankömmlinge, die wir gerade erst kennengelernt hatten, oder sogar ausländische Journalisten, die in unsere Mitte gestolpert waren und ursprünglich vorhatten, bei Tageslicht ein kurzes Interview mit dir aufzunehmen.

Ich erinnere mich an ein frühes Morgengrauen im Jahr 2012, als die Umgebung von Damaskus voller Kontrollpunkte war und ich vor der Kasabji Bar stand und hoffte, ein Taxi zu bekommen. Zufällig fuhr dein Auto vorbei, und als du mich erkannt hast, hast du angehalten und mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Da ich keinen Ausweis bei mir hatte, war ich angesichts der drohenden Kontrollen beunruhigt. Du hingegen trugst einen bandagierten Arm von einer Verletzung, die du dir am Tag deiner Verhaftung auf dem Friedhof von Dahdah zugezogen hattest. Als wir uns dem ersten Kontrollpunkt näherten, und bevor ich meine Nervosität verraten konnte, lehntest du dich an mein Fenster und riefst dem Soldaten entrüstet zu: „Erkennen Sie sie nicht? Das ist die bekannte Schriftstellerin Rasha Abbas!“

Der Wachmann nickte, obwohl er sich nicht sicher war, und murmelte, dass er den Namen schon einmal gehört habe. Das wiederholte sich auf unserem Weg mehrmals, aber dank dir schaffte ich es problemlos nach Hause.

„Ich bin zu spät zur Party gekommen, weil ich abgelenkt wurde.“

Als ich kürzlich einige Notizen und Zitate durchblätterte, stieß ich auf eine zufällige Notiz, die ich während der Lektüre deines Romans “Keiner betete an ihren Gräbern” gemacht hatte: „Kühne Figuren, die das Leben in vollen Zügen genießen – die Voreingenommenheit des Autors ist offensichtlich. Von Anfang an ist eine Wertschätzung für die mutigen Seelen zu spüren, die noch deutlicher wird, wenn von einem Raum im Schloss die Rede ist, der für diejenigen reserviert ist, die über Selbstmord nachdenken.“ Wie so viele Dinge, die ungesagt und unvollendet bleiben, blieben auch diese Gedanken unveröffentlicht, und wir haben sie nie diskutiert.

In der intuitiven Weisheit, die du geteilt hast, waren unzählige Lektionen versteckt. Durch dich habe ich gelernt, wie man mit Meinungsverschiedenheiten anmutig umgeht und wie man echte Wärme zeigt. Ich lernte, dass Menschen sich auseinanderentwickeln, sich vielleicht sogar fremd werden können, ohne dass einer von ihnen im Unrecht ist. Wann immer wir uns trafen, ob nach Streitigkeiten oder einfach nach Jahren des Schweigens, war das erste Gebot der Stunde immer Freundlichkeit und das Festhalten am Prinzip der „Güte“ – aber nicht an diesem erdrückenden Prinzip, gegen das du oft gewettert hast.

Das Leben hat dich reifer gemacht. Während die Jahre des Aufruhrs vergingen, wurden wir beide reifer. Die längste Zeit, die ich in letzter Zeit mit dir verbracht habe, war während einer kurzen Reise in die USA im Jahr 2016. Du nahmst an einer literarischen Konferenz in Boston teil, und ich besuchte dich. Als ich ankam, hattest du einen riesigen Topf mit gefüllten Zucchini für mich zubereitet, obwohl du, als ich ankam, schon vor Erschöpfung in den Schlaf fielst. Wir konnten nur ein kurzes Gespräch führen, in dem du erwähntest, wie sehr du Damaskus vermisst hast, das du überall, wohin du gereist bist, wieder aufleben lassen wolltest. Bald darauf zogst du dich für die Nacht zurück. In den nächsten Tagen hast du die Rolle eines Onkels übernommen, der sich plötzlich um eine Nichte kümmern muss. Trotz deiner eigenen Verpflichtungen hast du dich um mich gekümmert und oft unsere gemeinsamen Freunde in Boston, Taha und Muhammad, angerufen, damit sie mich in ihre Ausflüge einbeziehen, ähnlich wie jemand, der Spielkameraden für ein Kind findet. Schließlich hast du deinen Aufenthalt abgebrochen und bist nach Damaskus zurückgekehrt, einem Ort, den keine noch so zufälligen Treffen oder Gäste im Exil ersetzen können. Du kehrtest in dein langjähriges Zuhause zurück, wo zufällige Begegnungen auf der Straße an der Tagesordnung waren und du Gastgeber von Versammlungen warst, bei denen du Gerichte serviert hast, die mit so viel Liebe (und scharfem Pfeffer) gewürzt waren, dass den Gästen die Luft wegblieb. Du hast einmal gesagt, dass du ein Kochbuch schreiben willst, hast aber immer darauf bestanden, dass die Leidenschaft in der Küche wichtiger ist als das Fachwissen.

Du bist nach Damaskus zurückgekehrt und bist allem treu geblieben, woran du geglaubt und was du niedergeschrieben hast. Ein Triumph, der die Ideale der Befreiung, der Tapferkeit und der Liebe nicht in Frage stellte. Du hast allen die Hand gereicht und damit deine bedingungslose Liebe zu Syrien und seinem Volk gezeigt. Du hast dich entschieden, denen, die geblieben sind, und denen, die später gekommen sind, beizustehen, indem du deine Zuneigung, deinen Edelmut und deine Freude mit ihnen geteilt hast – vor allem die Freude, die für dich allein schwer zu ertragen war. Bei Deinem herzzerreißend schönen Abgang bist Du als der Geschätzte gegangen, als der liebe Verstorbene, umhüllt von Rosenblättern, Lachen, jubelnden Liedern und Geschichten von Liebenden und galanten Seelen. Selbst in deiner Abwesenheit teilen wir das Vermächtnis deiner liebevollen Erinnerung – ob es nun eine Ewigkeit gibt, in der wir dich wiedersehen werden oder nicht.

Anmerkungen der Übersetzung:

Erschienen am 3. Oktober 2023 auf englisch auf Al-Jumhuriya. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks. Khaled Khalifa war ein syrischer Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor. Er lebte fast sein gesamtes Leben in Damaskus, wo er auch im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Ein Großteil seiner Werke wurden von der syrischen Zensur unterdrückt, während er international wiederholt für sein Werk ausgezeichnet wurde. Auf deutsch erschienen sind „Zum Lobe des Hasses“, „Keine Messer in den Küchen dieser Stadt“, „Der Tod ist ein mühseliges Geschäft“ und “Keiner betete an ihren Gräbern”. Das Zitat von Khaled Khalifa am Anfang stammt aus einem Essay von ihm über Flucht und Bleiben im Angesicht der syrischen Tragödie und wurde von Bonustracks hinzugefügt. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Khaled

Holt Alfredo aus dem 41bis! Lasst uns das 41bis Regime schließen!

19. Oktober: Kundgebung vor dem Überwachungsgericht

Am 19. Oktober findet vor dem Überwachungsgericht in Rom eine Anhörung über den Aufenthalt von Alfredo Cospito im 41bis statt.

Der Fall von Alfredo Cospito ist ein Beispiel für die Rache der Klasse. Der Staat in Gestalt der Turiner Staatsanwaltschaft hat wiederholt eine lebenslange Haftstrafe für einen Anarchisten gefordert. Die Verurteilung des Genossen durch das Kassationsgericht im Juli 2022 wegen „Massaker gegen die Sicherheit des Staates“ (das sogenannte „politische Massaker“, Art. 285 des italienischen Strafgesetzbuches) in Bezug auf ein Massaker ohne Beweise, war das Maß für den andauernden Vernichtungsversuch gegen einen Revolutionär. Nur wenige Monate zuvor, im Mai, war Alfredo Cospito tatsächlich vom Hochsicherheitstrakt in das 41-bis-Regime überführt worden, weil er sich der Pflege von Beziehungen zur anarchistischen Bewegung und insbesondere zu bestimmten Publikationen schuldig gemacht hatte. Wenn die Verurteilung wegen „politischem Massaker“ den Höhepunkt der zunehmenden Bemühungen der Terrorismusbekämpfung und der Staatsanwaltschaft darstellte, das Gespenst des aktiven Anarchismus zu vertreiben, so brachte die Überstellung nach 41bis deutlich die repressive Warnung des Staates gegenüber der anarchistischen und revolutionären Bewegung schlechthin zum Ausdruck.

Diese Mobilisierung hatte das Verdienst, vielen zu verdeutlichen, dass 41bis – ein Kriegsgefängnis in Zeiten des permanenten, weltweit geführten Krieges – staatliche Folter ist. Die Mobilisierung hat somit die Funktion der politischen Repression durch die Nationale Antimafia- und Anti-Terrorismus-Direktion (DNAA) entlarvt und aufgezeigt, wie eine präventive Aufstandsbekämpfungsoffensive gegen Antagonisten und insbesondere Anarchisten in Italien im Gange ist. Ein Angriff, der sich in den ständigen Ermittlungen wegen subversiver Vereinigung, der Räumung besetzter Räume, der Anhebung der Strafen für politische Straftaten, dem ständigen Einsatz von Präventivmaßnahmen (vor allem Sonderüberwachung), der Kriminalisierung und versuchten Unterdrückung der revolutionären Presse und der Wiederbelebung von Meinungsdelikten manifestiert.

Mit der lebenslangen Freiheitsstrafe und der Verhängung von 41bis wollte der Staat den Genossen lebenslang ins Gefängnis stecken. Nach dem Ergebnis der Anhörung vor dem Verfassungsgericht am 18. April, auf die am nächsten Tag der Streikbruch von Alfredo folgte, wurde diese Absicht nicht erreicht. Durch den Hungerstreik von Alfredo, selbst bis zum bitteren Ende, den Streik anderer Gefangener und Inhaftierter und die internationalen Solidaritätsinitiativen konnte die Verurteilung zu lebenslanger Haft abgewendet werden, womit eines der Ziele der Mobilisierung erreicht wurde.

Unser Genosse befindet sich jedoch nach wie vor im Regime des 41bis-Gefängnisses, so dass man nicht sagen kann, dass die Mobilisierung beendet ist.

Während des Hungerstreiks – als es seinen Worten gelang, durch die Abschirmung der Isolation in den Gefängnissen von Bancali und Opera zu dringen – hat Alfredo immer betont, dass er nicht nur für sich selbst gekämpft hat, sondern für alle Gefangenen im 41bis und um die Solidarität mit den inhaftierten Anarchisten, Kommunisten und Revolutionären in der ganzen Welt zu entwickeln. Das Sondergefängnis – in den verschiedensten Formen, die von den Staaten angewandt werden – dient dazu, die als besonders gefährlich eingestuften, am bewusstesten handelnden und am stärksten politisierten Gefangenen vom Rest der Gefangenen zu trennen. Seine Funktion besteht darin, Proteste, Radikalisierungen und Revolten zu verhindern, d.h. die Masse der Inhaftierten daran zu hindern, ein Bewusstsein zu entwickeln und somit einen Kampf in den Gefängnissen zu führen, der integraler Bestandteil einer allgemeineren Bewegung der sozialen Emanzipation ist. Unter den besonderen Haftmitteln dient das 41bis – Gefängnis im Gefängnis – der Vernichtung der Staatsfeinde. Es stellt somit die Spitze des Repressionsapparates dar, ist aber kaskadenartig in alle Repressionsformen eingebunden, die die Klassenherrschaft garantieren: Deshalb ist es wichtig zu verstehen, dass dieses Unterdrückungsinstrument uns alle betrifft.

Europa befindet sich im Krieg. Italien liefert Waffen und Unterstützung an den ukrainischen Staat, und in jedem Krieg gibt es neben einer äußeren Front auch eine innere Front. Diese Situation führt zu einer Zunahme der Repression, die darauf abzielt, die Ordnung und die Aufrechterhaltung der Gesellschaft zu gewährleisten, während die Kosten des Konflikts auf die Ausgebeuteten abgewälzt werden. In Italien manifestiert sich dieser Prozess durch den Rückgang des Arbeitsplatzangebots, die Zunahme der Prekarität, die Verteuerung der Grundbedürfnisse, der Energie und der Brennstoffe, die unerträgliche Relation zwischen den Löhnen und den Mietpreisen.

All dies ist Teil einer seit Jahren andauernden Systemkrise, die von einer politischen Klasse getragen wird, die ganz und gar der neoliberalen Doktrin verhaftet ist, die die Etablierung eines Sozialmodells vorsieht, das auf einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und auf der Umwandlung sozialer Probleme in Probleme der öffentlichen Ordnung beruht. Der Zusammenhang zwischen der Etablierung dieses Gesellschaftsmodells, der Zunahme der Repression und dem Anstieg der Gefängnispopulation ist offensichtlich.

Die gleiche Repression, die Anarchisten und Revolutionäre trifft, richtet sich also auch gegen alle anderen Ausgebeuteten, um sie im Elend zu halten und sie daran zu hindern, für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen. Von den jüngsten Erscheinungsformen des brutalen Klassenkampfes, den die Bosse in diesem Land führen, seien hier nur einige Beispiele genannt.

Das Abschlachten von Migranten im Mittelmeer: Dafür sind die italienische Regierung und die EU-Institutionen verantwortlich, die mit den nordafrikanischen Regierungen unter einer Decke stecken.

Die Kriminalisierung von Minderjährigen und ihren Familien: Mit dem jüngsten „Caivano-Dekret“ wird die reaktionäre Politik der „Nulltoleranz“ verschärft. Ganze Teile der Gesellschaft sind von Geburt an zu Armut, sozialer Ausgrenzung und Inhaftierung verurteilt.

Die Militarisierung des Territoriums: Das Militär wird zunehmend mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut. Die jüngsten Großeinsätze der Polizei in Ghettovierteln zeigen, dass die Antwort des Staates auf das so genannte soziale Unbehagen in der militärischen Besetzung besteht.

Die Etablierung der Gesellschaft der digitalen Kontrolle: Die Möglichkeiten der Bewegung, der Meinungsäußerung und der Wahl werden durch die Einführung technologischer Geräte oder Verfahren (siehe z. B. ZTL, grüne Pässe, Kameras sowie konvergierende Wissenschaften und künstliche Intelligenz) eingeschränkt.

Der Angriff auf die Arbeitnehmer: durch Einschränkung des Streikrechts, Verdächtigungen, Hetze gegen Gewerkschafter, Polizeiangriffe auf Streikposten und Blockaden. Arbeiter werden zum Tode verurteilt, um die Profite zu steigern, wie das Brandizzo-Massaker beweist.

Die Ausweitung der Solidarität unter den Unterdrückten ist unerlässlich, um diese Angriffe abzuwehren.

Alfredos Kampf gegen 41bis war, ist und wird ein Beispiel für die Wiederaufnahme des Kampfes gegen Repression und Inhaftierung sein. Indem er sich weigerte, zu kapitulieren und Kompromisse einzugehen, gab er der klassenmäßigen, internationalistischen und revolutionären Solidarität einen Anstoß.

Angesichts der Repression sind wir nicht daran interessiert, die Bourgeoisie zu trösten und zu bemitleiden, sondern darauf zu reagieren und uns gegen die Feinde zu vereinen: den Staat und das Kapital.

Solidaritätskundgebung: Donnerstag, 19. Oktober, Via Triboniano, Rom, 09:00 Uhr.

Solidaritätsversammlung mit Alfredo Cospito und den revolutionären Gefangenen

Veröffentlicht u.a. auf Il Rovescio, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Holt Alfredo aus dem 41bis! Lasst uns das 41bis Regime schließen!

Die Übelkeit

Noor Or

Die israelische Regierung ist ein todbringendes Gebilde, eine schamlose koloniale und imperialistische Macht, die tagtäglich und seit 75 Jahren grausame Kriegsverbrechen begeht. Die willkürlich Kinder und Zivilisten tötet, erniedrigt und inhaftiert, deren einziges Verbrechen darin besteht, es zu wagen, Palästinenser zu sein. Übelkeit bei jedem Exzess der Regierung, ihrer Armee und ihrer Fanatiker. Wut und Trauer bei jedem palästinensischen Todesfall.

Die israelische Regierung und das Massaker, das sie seit 1948 verübt, ist der eigentliche Feind, der Verbrecher – also muss er vernichtet werden. DIE ISRAELISCHE REGIERUNG.

Jetzt überkommt mich wieder die Übelkeit. Die Assimilierung einer ganzen Bevölkerung, in der Klassenkampf, rassistische Diskriminierung und politische Differenzen wie in jedem Land der Welt existieren, die Assimilierung dieser gesamten Bevölkerung an ihre Regierung, an ihre ethnische Identität ist faschistisches, unheilvolles und mörderisches Gedankengut. Es ist ein rechtsextremer Diskurs, der von Hass und Dummheit trieft.

Den Mord und die Vergewaltigung von gerade mal pubertierenden Jugendlichen zu feiern und sie als Siedler zu bezeichnen, als ob dieser Status alle Schrecken rechtfertigen und ihre Peiniger zu Helden machen würde, ist von unerhörter Brutalität. Die Inkohärenz ist absolut. Wer essentialisiert, wer kaltblütigen Mord verteidigt, kann sich nicht als links bezeichnen. Die Entmenschlichung einer Bevölkerung im Namen ihrer Nationalität oder Ethnizität gehört zur extremen Rechten.

Die Taktik der Hamas ist nicht nachvollziehbar, sie wissen, dass sie gegen die militärische Macht des jüdischen Staates machtlos sind. Die einzige bisher plausible Interpretation ist, dass die Hamas am Vorabend der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien aus Verzweiflung ein Selbstmordkommando startet, wohl wissend, dass die Antwort darauf maßlose Gewalt sein wird (die derzeitige Regierung ist die radikalste und gewalttätigste, die das Land in den letzten 30 Jahren erlebt hat, und zeigt offen ihren Willen, Palästina für immer von der Landkarte zu tilgen). Es ist diese Gewalt, die es der Hamas ermöglichen wird, ihre Unterstützung in der arabischen Welt zurückzugewinnen, und die verhindern könnte, dass es zu einem Abkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien kommt. Es handelt sich also um einen Selbstmordangriff, aber die Selbstmörder sind die Zivilisten in Gaza. Die Menschen in Gaza leiden seit 16 Jahren unter einer unerträglichen Blockade und ihr ohnehin schon unermessliches Elend wird immer größer (die Wüste kann nicht mehr größer werden?). Die Hamas missachtet das Leben, das auf dem Spiel steht, sogar das ihres eigenen Volkes.

Die Revolution sowie die palästinensische Befreiung sind notwendig, und zwar nicht auf abstrakte Weise. Ja, Krieg ist schmutzig, ja es gibt Blut, Ungerechtigkeiten, „Kollateralschäden“ AKA den Tod von Unschuldigen.

Aber die Hamas hat ihre Karten schlecht ausgespielt. Sie schadet der palästinensischen Sache, indem sie der internationalen Gemeinschaft ein Gesicht des Terrors und des Hasses zeigt. Sie entsolidarisiert, wenn die Solidarität mit dem palästinensischen Volk mehr denn je gefordert ist. Es ist schlicht und einfach die Hölle, die die Menschen in Gaza diese Woche erwartet.

Der dekoloniale Kampf ist auch ein Kampf der Medien. Die Bilder, die ich gesehen habe und die von nun an wie ein unaussprechlicher Albtraum in meinem Gedächtnis herumspuken, sind nicht zu rechtfertigen. Weder im Namen der palästinensischen Befreiung noch im Namen der Revolution kann ich das, was ich gesehen habe, gutheißen und weiterhin den Namen „Mensch“ tragen.

Der Anblick des Sicherheitszauns, der mit Bulldozern durchbrochen wurde, ist eine Freude, ein echter Gefängnisausbruch. Die abgebrannten Polizeistationen, die beschlagnahmten Militärstützpunkte. Gut, es gibt einen Zusammenhang, die seit jeher Unterdrückten greifen den Unterdrücker, seine Institutionen, seine Armee und seine Polizei an.

Der Rest ist schlicht und einfach unerträglich. In Wohnungen eindringen, aus nächster Nähe auf ganze Familien schießen, Frauen über den Leichen ihrer Freunde vergewaltigen, um sie dann zu exekutieren oder mit nackten, gedemütigten Körpern wie eine Kriegstrophäe herumlaufen, während eine jubelnde Menge darauf spuckt. Mir ist zum Kotzen zumute. Die „freedom fighters“ lassen sich auf das Niveau der Unterdrücker herab und versinken vielleicht sogar in noch tieferer Finsternis.

Diejenigen, die skandieren: Das sind sowieso Siedler, sie hätten nur nicht zu einer Party an der Grenze zum Freiluftgefängnis Gaza gehen müssen, sollten sich fragen: Verdienen all diejenigen den Tod, die sich abends in ihr Bett legen, während am Fuß ihrer Häuser Obdachlose und Flüchtlinge schlafen? Verdienen all jene, die an den Mauern unserer Gefängnisse vorbeischlendern und an ihren Crush denken, den Tod? Wo beginnt die Schuld? Und sind wir nicht alle schuldig?

Es gibt ein Video, von dem ich wünschte, ich hätte es nie gesehen, und das mich verfolgt. Ich erspare es Ihnen, werde es aber beschreiben, weil es für mich einen Gedankengang aufwirft, der über die aktuellen Ereignisse hinausgeht.

In diesem Video, das von einem Palästinenser in Gaza aufgenommen und dann glorreich über die sozialen Netzwerke verbreitet wurde, gibt es nur einen einzigen weiblichen Körper inmitten einer Menge aufrecht stehender Männer. Dieser Körper hat kein Gesicht, er ist nackt, gedemütigt, mit dem Gesicht nach unten auf der Rückseite eines fahrenden Lastwagens. Fünf Männer um sie herum halten sie am hochgekrempelten Saum ihres Gewandes fest, fuchteln mit ihren Waffen in der Luft herum und jubeln. Die jubelnde Menge – nur Männer – rennt ihnen euphorisch hinterher. Einige klammern sich an den Rand des Trucks und spucken auf den leblosen Körper.

Der Körper dieser Frau ist eine Trophäe. Er ist ein Kriegsbeute, ein Symbol des Sieges. Er ist nackt und sein Gesicht liegt auf dem Boden. Der Körper einer Frau ist immer eine Kriegsbeute, ein Objekt, das man vorführt. Von den antiken Mythen bis heute sind Frauen Tribute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine einzige Frau auf der Welt, die diese Szene sieht, sich darüber freuen kann. Ich kann nicht glauben, dass die Frauen in Gaza nicht spüren, wie ihr weibliches Fleisch angesichts dieser Tortur zerrissen wird. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum sie auf der Bühne völlig abwesend sind. Die Frau hat kein Gesicht, die Frau ist kein Mann.

Die Quelle all dieser Gewalt ist die israelische Regierung, und wir dürfen nicht vergessen, dass die Hamas ihr monströses Kind ist. Ihre Existenzen sind durch Blut miteinander verbunden – und die Zerstörung des Vaters würde die Existenz des Sohnes beenden. Diese beiden Entitäten sind die Feinde des palästinensischen Volkes und aller, die leben wollen.

Aber ich komme zu dem Schluss, dass vielleicht die Wurzel des Problems und all der Gewalt, die die Welt erschüttert, in der Männlichkeit liegt.

Wenn ich daran denke, dass erst vor wenigen Tagen Hunderte von palästinensischen und israelischen Frauen am Marsch von „women wage for peace“ in Jerusalem teilgenommen haben, schaudere ich vor dem Horror, der darauf folgte. Ich zittere vor den Männern, die ihre Waffen wie ein aufgerichtetes Geschlechtsteil durch die Luft schwingen. Ich zittere vor den gedemütigten, in ihrer Männlichkeit verletzten Staatschefs, die ihre Entscheidungen mit nur einem einzigen Gedanken im Kopf treffen werden: zu beweisen, wer den dicksten Schwanz hat.

Ich weiß, dass ich von allen Seiten fertig gemacht werde. Von Pro-Palästina, Pro-Israel, Anti-Feministen, fragilen Männern und verbündeten Frauen. Und zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das alles egal.

Erschienen am 9. Oktober 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Die Übelkeit

DIE KRIEGSLOGIK DER HAMAS

Ivan Segré

Am Samstag, dem 7. Oktober, startet die Hamas im Morgengrauen den größten bewaffneten Angriff auf israelisches Gebiet, der seit dem Jom-Kippur-Tag im Jahr 1973 unternommen wurde.

Die ewigen Stellungnahmen der einen, die den Angriff der Hamas verurteilen und das Recht Israels auf Selbstverteidigung bekräftigen, und der anderen, die den israelischen Siedlungsbau verurteilen und das Recht der Palästinenser auf Selbstverteidigung bekräftigen, sind bereits zu hören.

Es ist also besser, den Ton abzustellen. Und die Augen zu öffnen.

Seit Monaten erhebt sich die Zivilgesellschaft in Israel gegen die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte des Landes. Zunächst konzentrierte sich der Protest auf die von dieser Regierung angestrebte Justizreform, begann sich aber seit mehreren Wochen auch auf die Palästinafrage auszuweiten. Auch hochrangige Armeeangehörige und Tausende von Reservisten schlossen sich der Bewegung an, und zwar in einer Weise, die noch vor wenigen Monaten unvorstellbar gewesen wäre. Eine mögliche Revolution war im Gange.

Nun wollen weder der Iran der Ayatollahs noch die Hamas, die Hisbollah, Assads Syrien usw. eine Revolution, zumindest nicht in dem Sinne, wie wir sie verstehen. Was sie wollen, ist, dass der Konflikt zwischen der arabisch-muslimischen Welt und Israel alle Kräfte und Köpfe in dieser Region der Welt in Anspruch nimmt, damit es keine Revolution in unserem Sinne gibt, sondern nur die Konterrevolution.

Das ist der Sinn des Angriffs der Hamas am Vorabend des Festes Sim’hat Tora (Freude an der Tora), das auf einen Schabbat fällt, an diesem Samstag, dem 7. Oktober 2023.

Sie wählen immer ein symbolträchtiges Datum, egal ob die Angreifer Nationalisten der Konterrevolution sind, wie an Jom Kippur 1973, oder Islamisten der Konterrevolution, wie an Sim’hat Tora 2023, 50 Jahre und einen Tag später.

Nichts wird dem Zufall überlassen. Alles setzt ein Zeichen. Die „Flut von Al-Aqsa“ bricht am Sim’hat Torah über den jüdischen Staat herein. Es soll ein Krieg des Islam gegen die jüdische Präsenz in Palästina, wenn nicht sogar gegen das Judentum als solches sein.

Netanjahu wird also mit dem Finger auf die Hamas zeigen und den Protestierenden sagen können: „Euer Feind ist die Hamas, nicht ich“.

Und er wird Recht haben.

Denn der Angriff der Hamas richtete sich nicht gegen die Politik der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte des Staates Israel. Es war ein Angriff auf die Zivilgesellschaft, die deren Legitimität auf eine Weise in Frage stellte, die es seit Januar 2023 nicht mehr gegeben hatte.

Viele von uns ahnten, dass ein Angriff der Hamas das sofortige Ende der möglichen Revolution bedeuten würde…

Bei diesem Angriff der Hamas geht es kurz-, mittel- und langfristig darum, den Protest zum Schweigen zu bringen, ihn buchstäblich irrelevant zu machen, sowohl innerhalb Israels als auch innerhalb Palästinas, damit nur noch die Waffen das Wort haben, als in Israel das Wort begann, die Oberhand über die Waffen zu gewinnen.

Die Baath-Partei in Syrien, die Hisbollah im Libanon, die Hamas in Palästina, die Ayatollahs im Iran etc.: Sie streben nach der gleichen Welt; sie betreiben die gleiche Politik.

Sich vorzustellen, dass Widerstand gegen die kapitalistische Verwüstung der Welt heute im Namen des „Hauptwiderspruchs“ erfordert, punktuell die Sache dieser tyrannischen Obskurantismen zu umarmen, bedeutet also entweder, sich die Revolution unter grundlegend nihilistischen Begriffen vorzustellen, oder einen Weg gefunden zu haben, den Namen Israel zu hassen, oder beides gleichzeitig, untrennbar miteinander verbunden.

Erschienen am 9. Oktober 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für DIE KRIEGSLOGIK DER HAMAS

ANMERKUNGEN ZU “EINE IDEE VON FREIHEIT” [IN MEMORIAM ALBERTO MAGNAGHI] [2]

Rossana Rossanda 

Es folgt der zweite Teil der Übersetzung eines Artikels von Rossana Rossanda (1995) zu Alberto Magnaghis Buch ‘Un’idea di libertà. San Vittore ’79 – Rebibbia ’82’. Teil l findet sich auch auf Bonustracks. Die zwei Teile des Beitrages wurden dieser Tage auf Machina (wieder) veröffentlicht.                                                    

                                                     * * *

Der dritte Teil des Tagebuchs erzählt, als übersetze er die Beweggründe der bereits bekannten Dokumente, Praktiken und Gruppierungen, die die Gefängnisse in diesen Jahren geprägt haben, und zwar nicht nur die politischen. Es ist der unruhigste und zweideutigste Teil, in dem die Sprache von der Analyse zur Erzählung, vom Geschichtenerzählen zu einer freien und selbstvervollständigten Form wechselt – so wie der zweite Teil der unwegsamste war, aber linear in seiner Art und in der Eloquenz einer selbstbewussten Recherche. 

Der Dreh- und Angelpunkt des Tagebuchs auf den letzten Seiten ist in der Tat die Frage, „wie man die Barriere durchbrechen kann“, wie man verhindern kann, dass die Institution einen in Resignation oder Revolte ihrem eigenen Modell unterwirft. Reife und Unreife der Frage sind eine Sache von heute, verwurzelt in der Vielfalt der Gefängnispopulation, die bis vor kurzem durch die Einzigartigkeit des Abweichenden oder „Kriminellen“ oder seine extreme Marginalität gekennzeichnet war, weshalb der Positivismus ihn sogar für ein genetisches Nebenprodukt halten konnte. Weder die Lumpen noch die klassischen „Affären“ des Geldes oder der Leidenschaft sind heute die Protagonisten der Zellen, sondern Gruppen, Alters- und Bevölkerungsschichten, die im Vergleich zur Vergangenheit stark akkulturiert sind, die durch und für bestimmte Modelle verbunden sind und so eine doppelte Identität aus sich selbst und aus den vergangenen und gegenwärtigen Bedingungen ziehen. Deshalb fürchtet sich das Gefängnis vor ihnen, wird zu einer Festung, panzert sich, trennt sie und führt in dieser im Entstehen begriffenen Gesellschaft heimtückisch zu Prinzipien der Spaltung und Selbstzerstörung – vom Selbstmord bis zum Mord. Deshalb wird heute so viel für den Strafvollzug ausgegeben, und zwei Organe des Staates, die Verwaltung und die Armee, beherrschen den Strafvollzug: Er ist die infizierte und ansteckende Zone einer Gesellschaft, die ihn absondert.

Als unterschiedlich akkulturierte Gruppen – von der Schule oder von den ungeschriebenen Gesetzen der Nachbarschaft und der Borgata oder vom Drogenmodell mit seiner starken, nicht schwachen Ideologie, wenn nicht von den parallelen und ehemals strukturierten und sich rasch modernisierenden Gesellschaften der Mafia und Camorra, und schließlich in den 1970er Jahren von einer akuten und antagonistischen politischen Erfahrung – vollzieht sich auch die Konstruktion des gefangenen Ichs als autonomes Subjekt in unterschiedlichen Formen. 

Das Raster, durch das das Tagebuch diese Strukturierung der Subjektivität liest, ist die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Prinzips der Kontinuität von Vorher und Nachher. Und es wird so verstanden, dass Magnaghis Erfahrung auf politischer Ebene ein Bruch mit den parallelen Formen des alten politischen Handelns und den – repressiven oder nicht repressiven – Mechanismen des Staates ist, und auf persönlicher Ebene ein Bruch mit dem, was vielleicht als Einheit zwischen der Person und dem gesellschaftlichen Handeln gedacht war, als Bedingung für den Zugang zu einer Wiederaneignung des authentischen Selbst. Die beiden Brüche sind nicht genau deckungsgleich, sie führen nicht zur gleichen Neuzusammensetzung der Identität, und nicht in allen, und schon gar nicht in allen Teilen der Gefängnisbevölkerung, stellen sie sich als Notwendigkeit dar. 

Dies gilt nicht für einen Teil der gewöhnlichen Gefangenen, vielleicht die traditionellsten unter dem Gesichtspunkt der Devianz, die das Gefängnis als eine Unterbrechung in einem Leben erleben, das nach all dem Gerangel mit den Barrieren und dergleichen (Justiz, Anwalt, Prozess, Zeitungen) an dem Punkt wieder aufgenommen werden sollte, an dem es unterbrochen wurde. Dies ist nicht der Fall bei der Mafia oder der N’drangheta oder der Camorra, in deren Karriere das Gefängnis als Ort der Initiation vorgesehen ist und genutzt wird, ein Prozess, der strengen Regeln unterliegt und von eisernen Blicken überwacht wird, die nicht die des Gefängnispersonals sind; ein Ort also des Erwerbs und nicht des Verlusts der Identität, des Erhalts und nicht des Verlusts des Ansehens, des Erwerbs und nicht des Verlusts der Kultur. Sie schlagen nicht die Abschaffung der Barriere vor; das Gefängnis ist gegeben, also wird es „dienstbar“ gemacht, es ist keine Struktur der Trennung, der Vernichtung, der Bestrafung; so sehr, dass in letzter Zeit der Versuch, das „organisierte Verbrechen“ zu zerschlagen, eher durch die Schmeichelei des Staates als durch die Drohung erfolgt: es ist die Verhandlung der „Reue“. Während die Politiker bis zu einem gewissen Grad die Kultur der einfachen Leute strukturieren werden (vor allem in den marginalisierten und angrenzenden Gebieten oder von der Drogensucht durchdrungenen Gebieten), wird nichts Vergleichbares mit den Mafiosi oder den Camorrista geschehen:  Sie sind die Stärksten, die Kontinuität zwischen innen und außen wird durch ihre Kanäle gewährleistet, und wenn es zu Kontakten kommt, sind sie es, die die anderen prägen. 

Die Politischen (Gefangenen, d.Ü.) schließlich, die Neuheit des Jahrzehnts, vielleicht einer von zehn Insassen Ende der 70er Jahre, aber proportional mehr zu Beginn, und Träger zusätzlicher Zwänge, die die Gefängnisstruktur betreffen, von Sondergesetzen über die besondere Anwendung von Artikel 90 (der erst kürzlich abgeschafft wurde) bis hin zur physischen und baulichen Umstrukturierung des Sondergefängnisses, ein Sprung in der Technologie des Freiheitsentzugs und in der Automatisierung von Zeit, Raum und Beziehungen, die Konstruktion ihrer Subjektivität impliziert einen zweifachen schwierigen Übergang.

Zunächst einmal die Aufarbeitung der Vergangenheit in einem für einen politischen Akteur noch nie dagewesenen Ausmaß: Sie scheint endgültig abgeschlossen und in gewisser Weise für eine taube Gesellschaft nicht mehr nachvollziehbar. Dahinter verbirgt sich das Ereignis, über das niemand spricht: die Niederlage der Bewegung und nicht nur der bewaffneten Gruppen. Wo ist der politische Gefangene von heute, wie Silvio Pellico, der das Risorgimento hinter sich weiß? Oder der aus den 1930er Jahren, der sogar im Gefängnis sterben konnte, aber mit der konkreten Erkenntnis, dass er nicht nur für eine Partei, sondern für eine Geschichte Zeugnis ablegte, die auch durch sein Opfer weitergehen würde? Selbst der Russe, der Pole, der Jude oder der Kommunist, die in den Lagern der Nazis vernichtet wurden, sind Teile der Geschichte, die zerschmettert werden, wie man den Ast eines Baumes zerschmettert, der nicht gefällt werden kann, als Individuen nichtig, aber mächtig in ihrem Selbstverständnis, das zum Schicksal geworden ist.

Die Politischen der 1970er Jahre in Italien, abgesehen von den „Unverbesserlichen“ (aber auch sie hängen eher an einem Verhaltensstil als an einer bestimmten Politik), scheinen nur eine Geschichte hinter sich zu haben, die sie als Wissen aus Versehen erzählen können, eine Biographie, die zumindest die Moral retten soll. Nicht, dass dies, historisch gesehen, wahr und unausweichlich wäre: während der Verhöre, bei einigen Konferenzen, wird die Erfahrung als Reichtum rekonstruiert: so Turin, die autonome Versammlung in Porto Marghera, der Ansturm von Themen, Kommunikationsformen, Botschaften. 

Aber es ist, als ob das Land, indem es diese Angelegenheit den Gerichten überlässt, sich selbst in den Zustand des Nicht-Hörens, des Nicht-Verstehens, des Vergessens versetzt; und da es weiterhin die Dimension der Niederlage erfährt, lässt der Zweifel an der Überholtheit des bisherigen Denkens oder seiner Formen und Gesten dies als Großes und vor allem Introjiziertes erscheinen, was fast als „verdient“ empfunden wird. Wo ist das, was als sein Bezugspunkt gedacht war, eigentlich gelandet? Wie Magnaghi da San Vittore schrieb, geht die Bewegung nicht mehr unter den Mauern hindurch, die dazu auffordern, einen roten Lappen aus dem Maul eines Wolfes zu halten , um zu rufen: „Du da, ich hier, wir sind zusammen“. Die Bewegung ist in ein Leben zurückgeflossen, das den Teil von sich selbst nicht mehr kennt, der darin geendet ist. 

Man schreibt also nur zögerlich darüber und überlässt die Rekonstruktion dieses Ereignisses den Urteilen der Richter, außergewöhnlichen Dokumenten der repressiven Unkultur unserer Zeit, oder einigen Büchern, die von Journalisten geschrieben wurden, die mehr außerhalb als innerhalb dieses Themas stehen und dem staatlichen Slogan „es war auf jeden Fall Wahnsinn“ treu sind. Und um als Protagonisten darüber zu schreiben, müsste man sich entscheiden zwischen den Modi der entweihenden Ironie (jemand introjiziert seine eigene Niederlage als Grund für die der anderen und versucht, dies zu begründen) und der nicht einfachen Vision von sich selbst als einer von den gegenwärtigen Formen der Modernisierung ausgedörrten Angelegenheit, wobei man in dieser und in ihren spezifischen Merkmalen die endgültige Bewertung dessen, was geschehen ist, der tatsächlichen Rolle, die gespielt wurde, nicht einmal als Residuum, sondern verzerrt für eine unerwartete Gegenwart liest. Welche Subjektivität, die dem Druck der Gefängnisstruktur standhalten kann, lässt sich aus der eigenen Vergangenheit ableiten? Das Ausmaß des Phänomens der pentiti und nicht die Schwäche der psychischen Strukturen und Werte ist wahrscheinlich auf diesen Knotenpunkt zurückzuführen. 

Das Tagebuch und die Arbeit der späteren Keimzellen der Bewegung in San Vittore und dem ersten „homogenen Raum“ in Rebibbia, sind sich dessen bewusst. Diese Geschichte muss bewahrt werden, nicht als Vergangenheit, sondern als lesbare Symptomatik der Gegenwart, des Ursprungs der Bewegung, des Lebens, dem sie entsprach, der Bedürfnisse, die sie zum Ausdruck brachte, wobei die Antiquiertheit oder die Immoralität (das sind nicht immer unterschiedliche Begriffe in der Geschichte) der Formen anerkannt werden muss; die Identität durch „Dissoziation“, das Dokument des Sommers 1982, dem eine lange Tortur vorausging, war dies. In der Verurteilung des Rückgriffs auf die Waffen lag keine Kapitulation, kein captatio benevolentiae, keine Abschwörung: Eher frostig, weniger tröstlich war die Erkenntnis ihrer blutigen Vergänglichkeit. Und das sahen am besten diejenigen, die nicht zu den Waffen gegriffen hatten, aber nicht sagen wollten: die Bewegung, die die Bewaffneten und die Unbewaffneten hervorbrachte, war völlig verschieden, zwei fremde Geschichten – sie waren es und sie waren es nicht. Sie werden, wenn auch missbräuchlich und in entgegengesetzter Richtung, als eine ungebrochene und lineare Kontinuität von der Außenwelt beurteilt, weil die Taten und Auswirkungen der Bewaffneten dazu dienen, diejenigen zu dämonisieren, die nicht bewaffnet waren.

Es ist daher notwendig, gemeinsam eine Subjektivität zu konstruieren, um einen ursprünglichen Stachel wiederzufinden, ihn zu untersuchen und zu einem Teil seiner Konsequenzen Stellung zu nehmen; So entsteht ein Subjekt, das nicht persönlich, sondern kollektiv ist, als Teil einer Geschichte, die historisch in den sozialen Konflikt eingeschrieben ist, das sehen und gesehen werden will, und dessen Vorschlag für einen Dialog nicht so sehr eine „Vermittlung“ als vielmehr eine Kenntnis der beteiligten Parteien, eine erneute Analyse, eine Neuzusammensetzung eines Dialogs, also einer artikulierten Einheit des Sozialen – wie es immer der Fall ist – und nicht eine „Versöhnung“ zwischen Vätern und Söhnen, Wanderern und Nicht-Wanderern bedeutet.

Ausgehend von den Politischen wird sich dieser Weg zur Rückeroberung eines kollektiven sprechenden Selbst, das nicht nur und nicht so sehr die Worte des Protests spricht, unter den Menschen ausbreiten und die nicht neue Vision des Selbst als Frucht der Gesellschaft durch die neue Vision des Selbst als ein nicht völlig überdeterminiertes Subjekt ersetzen, das in der Lage ist, sich selbst zu beurteilen und zu verändern: ein Teil der Gesellschaft, der sich als Reflexion und Vorschlag, als Schmerz und Standfestigkeit sichtbar macht. So wird die Barriere durchbrochen.

Und in der Tat war es nicht die Institution Gefängnis, die die Ausbreitung dieser Subjektivität blockierte, nachdem sie einmal in Gang gesetzt worden war; wenn überhaupt, mutierte sie in bestimmten Teilaspekten des internen Regimes und versuchte, es für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Die Bewegungen von Rebibbia und San Vittore stießen vielmehr auf die äußere „Barriere“, die in der Kultur der politischen Sphäre und eines großen Teils der Zivilgesellschaft verankert ist und die schon vor den Jahren des Ausnahmezustands dem „Zwang zur Einkerkerung“, dem Exorzismus des Abweichenden zugrunde lag. Und welcher Abweichler könnte gefährlicher sein als derjenige, der irgendwie ein Bedürfnis auf sich genommen hat, das alle berührt hat, ein Bedürfnis, über das die Geschichte sinniert hat, die Kälte, der ein für alle Mal entstandene Riss in den Fundamenten der fortschrittlichen und etatistischen Demokratie? 

Und so wie sich die „Barriere“ außerhalb des Gefängnisses bewegt, so bewegt sie sich auch innerhalb, indem sie die unsichtbare Umzäunung der „Uneinsichtigen“ errichtet. Das Dilemma einer nicht verlorenen Identität liegt offenbar zwischen dem oben skizzierten Weg und der Blindheit, dem verzweifelten Festhalten an der Losung des ständigen Krieges als Schutzschild der persönlichen Moral, des vorgetäuschten Protagonismus, des symbolischen Überlebens oder, manchmal wieder, der Andeutung von Blut.

Dies geschieht in einigen Strömungen der Roten Brigaden, vielleicht ist es der Grund für das Schweigen einiger Überlebender der NAP (Nuclei Armati Proletari, d.Ü.). Der Unverbesserliche durchbricht die Barriere nicht, denn sie ist nun fast der einzige Garant seiner Identität, er braucht sie, er muss sich in den Schützengräben fühlen, lebendig, weil er sich im Krieg mit dem ‘Feind von immer’ befindet, für immer fixiert in gleichen Gesten des Konflikts. Er ist der „Japaner“, werden andere sagen, der Kamikaze der nutzlosen Revolte, des Symbols, das nicht mehr kommuniziert. Er durchbricht nur die Barriere, die von der Metamorphose, die das Gefängnis wie die unsichtbare Maschine der kafkaesken Strafkolonie in seinen Körper einschreibt, durchbrochen wird, und befreit sich von ihr, indem er eine Identität konstruiert, die weder diejenige ist, die das Gefängnis betreten hat, noch eine, die von ihm angegriffen werden kann. Es ist die Bewegung, die 1981 als reformierendes Subjekt beginnt, weil sie reformiert wird.

Aber wie vollzieht sich dieser Wandel auf der Ebene des Bewusstseins? Hier geht das Tagebuch von einer Ambivalenz aus, die sich nicht erweisen wird. Er findet nicht statt, scheint es uns zu sagen, ohne eine innere Veränderung, eine Reflexion ab imo; aber wenn dies notwendig ist, damit die Bewegung geboren wird, erschöpft sie sich nicht darin, und in gewissem Maße verabschiedet sie sich von ihr. Es ist die Kluft zwischen dem, was Magnaghi in seiner wiedergewonnenen Zeit schreibt, und der Arbeit, die er in denselben Jahren und Monaten und Tagen verrichtet, zuerst in San Vittore, dann in dem, was das „homogene Gebiet“ von Rebibbia sein wird, oder mit den Dokumenten oder Schriften, die er verschickt – eine Wiederaufnahme seiner Art zu sein und seines Bedürfnisses, in Kommunikation mit anderen zu sein, zuzuhören und Vorschläge zu machen, sich für eine gemeinsame Arbeit zusammenzuschließen, die er zuerst in der politischen Aktion und dann an der Universität eingesetzt hat. Er ist und bleibt ein natürlicher Zusammenführer von Menschen. Aber im Tagebuch erwähnt er es kaum, und fast in einer anderen Sprache als in seinen dichteren Momenten der einsamen Analyse, er skizziert einen Prozess, aber er macht keine Geschichte daraus, er entpersönlicht das Streben nach der kollektiven Wiedererlangung von Rechten, die zuvor nicht nur nicht anerkannt, sondern vielleicht nicht einmal erdacht waren: das Recht auf Affektivität, das von den Kämpfen in San Vittore ausgeht, ein lauter, überzeugender Aufschrei, der das gängige Gefühl der geschlechtlichen Getrenntheit erschüttert; das Recht, sich im homogenen Raum selbst zu bestimmen, in ihm und darüber hinaus eine Arbeit an sich selbst zu verrichten, die nicht die Arbeit des Gefangenen ist, sondern die eines Teils der Gesellschaft an sich selbst, die Reflexion, der Vorschlag, der Dialog. Welche Umkehrung dies in den Gefängnissen mit sich bringt, kann man ermessen, wenn man über den Abstand zwischen den gewalttätigen und verzweifelten Aufständen von Asinara und Trani, die keinen anderen Ausweg als die heftige Repression – das Endergebnis eines separaten Protests – kannten, und der gleichzeitigen Entstehung einer Gefängnispräsenz mit einer anderen Wirkungsweise, die nicht vorhergesehen wurde, die nicht in das repressive Raster passt und daher paradoxerweise wirklich nicht auf dieses reduziert werden kann.

Dieser Teil der Erfahrung, an dem er maßgeblich beteiligt war, wird von Magnaghi ohne übermäßige Verzögerung festgehalten und skizziert; vielleicht auch deshalb, weil die Intuition störend wirkt, die Bewegung sich über das erhoffte Maß hinaus verdichtet, sich in nie gekannten Praktiken ausdrückt, den Charakter des Protests verändert und überschreitet, echte Eingriffe in den äußeren und inneren Rahmen bewirkt. Und in der Tat – trotz der Verschiebung der institutionellen Barriere in zwei unsichtbare und wechselseitige Barrieren, innen und außen, die nicht mehr in der Lage sind, eine totale Herrschaft auszuüben – wenn die Bewegung nicht zu jenem kollektiven und expliziten Dialog des Landes mit jenem Teil seiner selbst geführt hat, der in den 1970er Jahren eingesperrt war, existiert bereits keine totale Trennung mehr, die Mauern haben Risse bekommen, das Gefängnis ist durchlässig geworden und nicht gleichgültige Ränder der Zivilgesellschaft und sogar der Politik werden problematisiert. So sind es im Tagebuch auch die wenigen Seiten, auf denen die Trockenheit der Form in Emotion, Bejahung, Hoffnung übergeht, das nietzscheanische Kamel zum Löwen wird, die Durchquerung der Wüste eine Geburt ist. 

Und doch bleibt für den Teil von ihm, der diese Notizen geschrieben hat, die Wahrnehmung, in der Wüste eine unheilbare Einsamkeit erlebt zu haben, und in ihr eine Begegnung mit sich selbst, die nicht ins Kollektiv übergehen wird. Derjenige, der die Metamorphose und ihre Ermüdung erlebt hat, und den Übergang von der äußeren Zeit zur inneren Zeit und die Zerbrechlichkeit ihrer Konvergenz in einem Zeitquadrat, das im Gegensatz zum leeren Zentrum der panoptischen Institution wie das Einströmen in das Herz des alten Dorfes in den Langhe ist, der trägt in sich ein Endliches, ein Vollendetes, ein Zurückgelassenes, das zu grenzenlos ist, um es ohne Rückstände in ein neues System der Beziehung zur Welt zu verwandeln. Er hat den Ort des Selbst entdeckt, der nicht zerstreut, nicht tributpflichtig ist, und er scheint unvereinbar mit dem gewohnten Beziehungssystem des Menschen – das auf einer anderen Ebene, einer anderen Stufe, unkomplementär bleibt. Man kann nicht vom einen zum anderen übergehen, ohne einen Verlust zu erleiden. 

Im ersten Teil des Tagebuchs, noch in San Vittore, hatte der Architekt einen Gleiter gebaut, ein winziges Objekt, dem intelligente Hände die Möglichkeit des Flugs über die Mauer, eine Idee von Freiheit, aufgeprägt hatten. Aber dann hatte sich der Gleiter, nach einem kurzen Fangen im Wind, am Vordach verfangen und damit die Blicke aller gefangen, gefangen im Moment der Hoffnung und des Falls, die Barriere zu überwinden. Es war noch nicht möglich: wie ein Thema, das kurz am Anfang einer Partitur auftaucht, die Zeichen, die uns das Leben manchmal schickt. Am Ende des Tagebuchs steht die Bewegung von Rebibbia, dessen homogenes Gebiet das Segelflugzeug zum Symbol wird, derjenige, der, nachdem er die Wüste durchquert hat, in der exakten Konstruktion des Segelflugzeugs, in der einzigartigen und innigen Beziehung zwischen den Händen, dem Körper und der Materie, die „anders“ und fähig wird zu schweben, die totale Verwirklichung entdeckt. Nicht in der Befreiung aus dem Gefängnis, nicht im kollektiven Protagonismus, sondern in der begehrenden Spannung zum Anderen, die zwischen den Händen entsteht, einem Moment der Verschmelzung zwischen Sein und Tun, Subjekt und Objekt, der dich widerspiegelt, der Symbiose.

Zeit der Liebe, schreibt er auf den letzten Seiten, der totalen Identifikation, der Unschuld ohne Erinnerung, ohne Geschichte, im Vergleich zu der jede Erinnerung, jede Geschichte, jeder Blick ein sinnloses Eindringen ist, „idiotisch“. In dieser Spannung, die vollkommener Selbstzweck ist, versöhnt sich das authentische Selbst mit sich selbst, die Spaltung ist vorbei, es ist das ganze Wesen, das Göttliche, das Ja zu sich selbst sagt und das mit dir das Fragment des „Anderen“ ist, etwas anderes, das dir antwortet.

So wird das Subjekt des Tagebuchs rekonstruiert, befreit. Viel mehr sogar als von dem Gefängnis, das paradoxerweise der Ort ist, an dem sich die vielen Gefängnisse, die ihn als freien Menschen konditioniert zu haben schienen, nur vereinigen konnten. Darin liegt der Schlüssel zum Schreiben eines Buches, das sich ganz auf das Gefängnis und die in ihm überwundene Zeit bezieht, das nicht als Buch über das Gefängnis definiert werden kann, auch wenn es sagt, was vielleicht noch nie über das Gefängnis gesagt wurde. Es ist ein Buch über die Identität eines Menschen, der die Einheit in der politischen Extrovertiertheit, in der Überschreitung aller Widersprüche, in der Loyalität zu anderen suchte und dabei immer eine Leere wahrnahm, ein ungelöstes Echo, vielleicht den Ton, der durch viele Niederlagen aufgeschoben wurde, den die Niederlagen aber hörbar machen, die ihnen vorausgingen.

Man muss die Einheit zwischen dem Persönlichen und dem Politischen keineswegs mit Leichtigkeit theoretisiert haben, um zu spüren, wenn die siegreiche Spannung des kollektiven Schaffens zerbricht; wie zerbrechlich diese Verbindung ist, wenn es sie nicht gibt. 

Und doch, wenn man das tiefe Selbst erreicht, den „authentischen“ Kern, um den sich die Identität schichtet, geht die Einheit wieder einmal verloren. Denn sie geschieht durch Enteignung und wird – gerade in dem Moment, in dem das ausgelöschte „Ich“ glücklich ergriffen wird – als Verlust eines Teils seiner selbst empfunden, als Reduktion auf das Unschuldige, weil es diesseits der Erfahrung steht, von ihr gerettet wird, zur Animalität als vollkommener Form, weil es von der Unruhe der Vernunft befreit ist. 

Solange das Selbst absolut und unversehrt erscheint, weil es in einer Barriere von unendlicher Tiefe und minimalem Umfang eingeschlossen ist, ist vielleicht unser Durchlauf durch das Netz des Lebens minimal. Fast so, als ob das Bewusstsein unserer Tage entweder in aller äußeren oder in aller inneren Konditionierung zur Ruhe kommen könnte, in verschiedenen Begrenzungen, jede für sich wahrnehmbar, jede in der Ferne die andere als genau das wahrnehmend, was ihr fehlt.

Aber warum schreibe ich das „von heute aus“? Die Introjektion des Übergangs von der einen zur anderen Endlichkeit ist die Akzeptanz des tragischen Zustands im ungelösten Sinn des modernen Bewusstseins. Diese Intuition taucht auf den letzten Seiten des Tagebuchs gewaltsam auf, indem sie sogar die stilistische Kontinuität durchbricht, sie erhellt den Weg und den Übergang der Sprache von der Analyse zur poetischen Erfüllung. Sie macht aus dem Tagebuch eine Geschichte, die sich nicht auf eine politische Geschichte reduzieren lässt.

(Wieder) Veröffentlicht am 8. Oktober 2023 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für ANMERKUNGEN ZU “EINE IDEE VON FREIHEIT” [IN MEMORIAM ALBERTO MAGNAGHI] [2]

Anmerkungen zu „Eine Idee von Freiheit“ [in memoriam Alberto Magnaghi] [1]

Rossana Rossanda 

Alberto Magnaghi ist am 21. September 2023 verstorben. ‘Machina’ veröffentlichte mehrere Werke, um sein Leben und seinen Kampf zu ehren, darunter einen Artikel von Rossana Rossanda von 1995 zu Alberto Magnaghis Buch ’Un’idea di libertà. San Vittore ’79 – Rebibbia ’82’, das erstmals 1985 bei ‘manifesto libri’ erschien und 2014 von ‘DeriveApprodi’ neu aufgelegt wurde. Es folgt die Übersetzung von Rossanas Rezension. 

* * *

Alberto Magnaghi lehrt an der Fakultät für Architektur am Politecnico in Mailand. Er ist vierundvierzig Jahre alt und hat fast drei Jahre davon im Gefängnis verbracht, verhaftet am 21. Dezember 1979 im Rahmen der „7 Aprile“-Ermittlungen. 

Er war in der Kommunistischen Partei, aktiv unter den Studenten und in der Turiner Parteisektion, bis zum Bruch von 1968. 1969 gehörte er zu den Gründern von Potere operaio, nicht die zahlreichste, aber vielleicht die kultivierteste der Gruppen, die sich damals links von der PCI bildeten, genährt von der Kultur der „Quaderni Rossi“ und der „Classe operaia“, mit ihren nicht weitreichenden, aber hartnäckigen Wurzeln in den Kämpfen in den Fabriken, die am Ende jenes Jahrzehnts mit einer anderen Qualität wieder aufflammten und die gesamten frühen 1970er Jahre durchziehen sollten. Von Potere operaio wird er 1970 auch politischer Sekretär werden. 

Potere operaio existierte weniger als vier Jahre, hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Spannungen, die um seinen vitalen Kern herum entstanden: die Intuition, manchmal die Vorwegnahme der Radikalität der Arbeiter und ihres neuen Charakters, die für diesen Zyklus der Konfrontation charakteristisch sein sollten. Aber sie war vielleicht auch die erste „extremistische“ Formation, die den nicht zufälligen Charakter der Kluft zwischen den politischen Strukturen und dem Charakter des sozialen Geistes begriff, und sie übersetzte diese Unruhe in eine Verdichtung von Kongressen, Richtungsänderungen und Spannungen zwischen den Strömungen: den Zusammenstoß in den klassischen jakobinischen Formen einer Machtergreifung beschleunigen oder andere Endpunkte und andere Protagonisten in einer zunehmend antagonistischen und doch immer komplexeren Bewegung aufbauen? Aus diesem Dilemma ergibt sich ein vielleicht noch radikalerer Zweifel an ihrer Existenzberechtigung als Partei unter Parteien. Die Auflösung der Gruppe wurde im Mai 1973 in Rosolina beschlossen, und einige Jahre später versuchten einige Vertreter von Potere operaio in der Autonomia eine radikale und grundlegend andere Form der Politik zu entwickeln. 

Magnaghi war einer derjenigen, der wie viele seiner Genossen aus dem Norden, die mehr an die Erfahrungen in den Fabriken gebunden waren, gegen die Illusion der „Konfrontation“ war. So sah er in der Auflösung von Potere operaio das endgültige Ergebnis der Rolle einer bestimmten Idee von Partei und einer armseligen und palingenetischen Konzeption der Revolution; zugleich ein Residuum und ein Drama, denn sie schienen sich auf unterschiedliche Ruinenlandschaften zuzubewegen. Er verließ daraufhin die Miliz innerhalb einer Organisation und würde niemals wieder an so etwas teilnehmen, auch nicht in den fluiden Formen der Autonomia; er versuchte, die Kultur, die ihn zuerst zur Kommunistischen Partei und dann zu Potere operaio gebracht hatte, und seine persönliche Energie für ein kollektives Tun zu nutzen, indem er unter anderen und mit anderen an der Universität arbeitete. Es war die Zeit der intensivsten Beziehungen zwischen Lehrenden, Studierenden und anderen gesellschaftlichen Persönlichkeiten, die sich um die offenen Universitäten scharten: Das Thema am Politecnico di Milano war vor allem die Analyse des Territoriums zum Zweck der Intervention in einer Zeit, in der unter dem Vormarsch der Linken der alte nominelle Kadaver der lokalen Behörden zerfiel und Männer, Frauen, Bedürfnisse, Kulturen und konkrete Projekte der Selbstverwaltung in die Basisinstitutionen ein- und ausströmten. Selbstverwaltung in einem reicheren Gefüge von Funktionen und Befugnissen.  

In jenen Jahren hilft der Architekt, der Stadtplaner, der über eine fundierte kritische Erfahrung in zwei linken Organisationen verfügt, das Geflecht der Mächte und Bedürfnisse zu entwirren, beleuchtet Entscheidungen und radikalisiert sie, scheint moralische Spannung und Kompetenz zu vereinen: Vor allem entdeckt er die Politik in der Unbestimmtheit der Bewegungen wieder, die sich nur durch eine relativ schwache interne Dialektik und noch schwächere „Fristen“ artikulieren, die im Wesentlichen symbolisch sind und zwischen inneren und äußeren Institutionen schwanken, in spezifischen Protagonisten, die durch spezifische Traditionen und Projekte mit spezifischen Gegenspielern gekennzeichnet sind. Ein weniger ungestümer, aber auch weniger begrenzter Strom, die Ausbreitung einer Bewegung der Gesellschaft in verschiedene Subjekte und verschiedene Konflikte, nebeneinander, synchron.

Für Magnaghi und andere waren dies die Jahre, in denen Universitätskommissionen oder die „150 Stunden“ oder Zeitschriften wie die „Quaderni del territorio“ (Territoriale Zeitschriften) die Lieferanten von Ideen, Kompetenzen und „Administrations“-Personal sein sollten, die nicht die erneuerten lokalen Behörden waren. Aber bald, 1976, werden sie auf eine andere Front treffen. Es sind nicht mehr nur die alten Mechanismen des Besitzes und der Beherrschung des Territoriums, die sich seiner möglichen Rückgabe an die Menschen, die sein Lebensnetz bilden, widersetzen, sondern die zentrale Bedeutung der Vermittlungstechniken zwischen den Parteien, der Aufteilungen auf allen Ebenen im Rahmen der nationalen Solidarität. Die Bahn der Forschung kreuzt diagonal Parteien und Gewerkschaften und kollidiert mit der Regelung des Gleichgewichts der öffentlichen Macht: es ist ein bitterer, schwerer, unklarer Zusammenstoß, eine weitere Tür, die sich schließt. 

In diesem Rahmen ist das Engagement in der Zeitschrift „Quaderni del territorio“ nicht der Rückzug aus der Politik, aber sicherlich aus ihren Formen; eine erworbene Überzeugung, dass die Aktionen großer oder kleiner Parteien, ob reformistisch oder revolutionär, nicht mehr in der Lage sind, irgendetwas zu verändern, und dass die neuen Widersprüche, die sowohl in alternativen Subjektivitäten als auch in der Umstrukturierung der besitzenden Potentaten zum Ausdruck kommen, nicht nur die Definition anderer Ziele, sondern auch die Abnutzung der alten Instrumente und vielleicht der klassischen Konfliktformen nach sich ziehen. Daher sah er, wie viele andere, in der Flucht der jakobinischen Avantgarden einer anderen Epoche nicht etwas nach vorne weisendendes, sondern aus der Geschichte heraus einen fast unausweichlichen und tödlichen Weg – ebenso stur wie entwurzelt, mimetisch, projiziert in reinen Figurationen des Zusammenstoßes oder des sich Verharkens mit den Staatsapparaten, da diese bereit für diesen dramatischen und exklusiven Kriegstyp waren. 

Diejenigen, die die Parabel von Potere operaio durchschritten hatten, wie auch andere Gruppen links von der PCI, sahen inzwischen die Notwendigkeit des Kommunismus in einer zugleich unendlichen Nähe und Distanz, in der Intuition einer Befreiung der Person und einer Autonomie der sozialen Subjekte, die sich inzwischen, sofern sie sich ausdrückten, in anderen Modellen als denen der vergangenen Gesellschaftlichkeit und in anderen Inhalten als denen des vergangenen Operaismus ausdrücken würden. 

Die „Politiker“ verstanden, dass sich ihre Funktion auf diese Weise veränderte; diejenigen, die nicht verstanden, theoretisierten den Verzicht auf Repräsentation, ob links oder rechts, in der Autonomie des Politikers. Denjenigen, die sich weder für die Blindheit der Ewiggestrigen noch für die Absonderung der anderen entschieden, blieb als einzig mögliche Miliz oder Engagement die Suche nach einer Realität, die ihre unmittelbaren Akteure – die Menschen, das Leben, alles, was die Mächte entfremden – befreit und von den Mächten, die da sind, die sich verändernden Mechanismen beobachtet wird. Das wäre immer noch eine totalisierende Idee der Politik gewesen, verbunden mit einer Praxis der strikten Entfremdung von den Organisationen.

In einer Biografie wie der von Magnaghi könnte es dann passieren, dass man in den Modulen jenes spezifischen „Kollektivs“, das sein Dorf im Langhe-Territorium war, zum ersten Mal eine aufkeimende Dimension des Politischen entdeckt, nicht nur eine Gemeinde oder einen Stadtplan, sondern einen Schnittpunkt von Leben, gemeinsamer oder konkurrierender Arbeit, eine Identität zwischen Gegenwart und Tradition, zu der man zurückkehrt wie bei der Wiederentdeckung alter musikalischer Motive oder Rituale oder Feste; um gemeinsam im Lauf der Jahreszeiten zu sein. Und gleichzeitig die Metropole als Stadt-Fabrik zu studieren und dann die Perspektive zu wechseln, den Begriff zu problematisieren, neu zu studieren, zu untersuchen, zu beschreiben, Analysen und die Schriften anderer zu verknüpfen – ein Beziehungsgeflecht, das mit der Inhaftierung nicht aufhört, nur subsumiert und unzusammenhängend bleibt. 

 Die Verhaftung erfolgt unerwartet im Dezember 1979. Unerwartet, weil seit der Auflösung von Potere Operaio im Mai 1973 zu viele Jahre vergangen waren und es unwahrscheinlich schien, dass er in das Komplott verwickelt sein würde, das ein Staatsanwalt in Padua gegen seine ehemaligen Genossen, allen voran Antonio Negri, schmiedete, der am 7. April unter dem Vorwurf verhaftet wurde, das heimliche Gehirn der gesamten italienischen Subversion zu sein, Führer der Roten Brigaden, Auftraggeber und Vollstrecker aller ihrer Anschläge, einschließlich des Moro-Attentats. Im Gegenteil, als im Sommer die Anschuldigung gegen die am 7. April Verhafteten als Anführer der Roten Brigaden und Entführer Moros fallen gelassen wurde, musste man, um das Calogero-Theorem aufrechtzuerhalten, ihre Schuld weiter in die Vergangenheit und in eine abstraktere ideologische und befehlende Sphäre verschieben und sie mit Potere operaio seit dem Kongress 1971 in Verbindung bringen. Diese Operation wurde durch die „Geständnisse“ von Carlo Fioroni ermöglicht, der bereits verurteilt worden war und eine Entführung und einen anschließenden Mord wegen Erpressung gestanden hatte, ein schwacher und frustrierter Charakter, der zu allen Feigheiten und Fantasien der Schwäche fähig war. 

Zu diesem Zeitpunkt ist es notwendig, die gesamte Führung von Potere operaio von 1969 bis 1973 in einer Stadt nach der anderen zusammenzutreiben und den passenden Mann bzw. das passende Symbol auszuwählen; in Mailand schlagen die Drahtzieher nicht nur auf die spätere Autonomia und ihre Zeitschrift „Rosso“ ein, sondern versuchen, in der Universität eine Art zweites intellektuelles Zentrum des Umsturzes zu identifizieren, so wie Calogero in Padua. So wird Magnaghi am 21. Dezember zusammen mit anderen verhaftet. 

„Wenn ich verhaftet werde“, sagte er einmal zu sich selbst, wie wir aus seinem Tagebuch wissen. Wenn. Alles unerwartet und möglich, erwartet, aber unmöglich; aus der Vernunft heraus. Magnaghi fand sich am selben Abend in San Vittore in Einzelhaft wieder. Dort sollte er bis August 1980 bleiben, dann in Rebibbia bis September 1982, als er wegen Zeitablaufs auf Kaution entlassen wurde. Nach seiner Entlassung erwartete ihn eine weitere Tortur: eine Erkrankung. Eine weitere irrationale. Die erste und die zweite werden dafür sorgen, dass der Prozess vom 7. April, der schließlich im März 1983 eröffnet wird, als eine träge, verleugnende, abstrakte Maschine erlebt wird. 

Die Unwahrhaftigkeit der Ermittlungen macht den Prozess unglaubwürdig, unmöglich, sich mit Wahrheit auseinanderzusetzen. Im Gefängnis hatte Magnaghi Dokumente verfasst, über die Gründe für die Nichtbegründung des Theorems nachgedacht, den „sofortigen Prozess“ als Ort für eine Anhörung gefordert, die Licht ins Dunkel bringen würde. Doch schon in den ersten Tagen des Prozesses zeigte sich diese „Garanten“-Illusion, der exemplarische und von den Medien geteilte Charakter eines Prozesses, der nichts mit der tatsächlichen Verantwortung der einzelnen Männer zu tun hatte. Wie andere auch wird Magnaghi im Gerichtssaal seine Unschuld beteuern, er wird seinen Teil der Geschichte mit der Klarheit eines Menschen rekonstruieren, der es gewohnt ist, zu erklären, aber auch mit der Verärgerung eines Menschen, der sich in einem unwirklichen Netz der Kommunikation gefangen fühlt. Es wird viele geben, die auf diese Weise diesen einzigartigen Prozess, den typischsten aller Ausnahmezustände, erleben werden, der der „7. April“ sein wird. 

Kein konkretes Verbrechen wird ihm vorgeworfen. Kein „pentiti“ erinnert sich an ihn und sagt deshalb über ihn aus. Nur der abwesende Fioroni hatte vier Jahre zuvor gesagt, dass er sich an ein Gespräch zu erinnern glaubt, das acht Jahre zuvor, 1971, stattgefunden hat. Magnaghi wird zu sieben Jahren Haft verurteilt, fast drei Jahre hat er bereits in Untersuchungshaft verbüßt, er bleibt auf Kaution frei. Ebenso wie alle anderen Angeklagten in diesem einen Prozess, ob im Monat zuvor oder im Monat danach. Am 7. April verkündet der Staat ein umfangreiches Urteil und lockert dann seinen Griff, ohne ganz loszulassen. 

Wie der Staatsanwalt einigen Journalisten sagte, geht es darum, zu beweisen, dass der Staat in der Lage ist, zu verhaften, anzuklagen und zu verurteilen; danach wird er „Milde walten lassen“. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun. Eine der Gruppen der extremen Linken, nicht extremer als andere, nicht blutiger, vielleicht gerade deshalb störender und suggestiver, wurde ausgewählt, um auf exemplarische Weise – mit Präventivhaft, jahrelangen Prozessen und Bewährungsstrafen, der Unterbrechung des Lebens-, Liebes- und Arbeitsrhythmen – für die Schuld zu büßen, eine Revolution, eine Subversion, einen nicht restaurativen Ausweg zum Umsturz von Strukturen und Werten ausgedacht zu haben. 

All dies muss denjenigen gesagt werden, die die vorangegangenen Seiten gelesen haben, denn in ihnen werden sie es nicht gefunden haben. Aber es findet sich in Tagebuchaufzeichnungen, die erst in San Vittore und dann in Rebibbia geschrieben wurden, in der kurzen Zeit, in der sie sich erholt hatten. Aber nichts in ihnen verweist auf diesen Lebenszweck. Ein paar Hinweise reichen nicht aus, um eine Art Visitenkarte abzugeben. Einmal vermerkt das Tagebuch das Echo der Hymne von Potere operaio in San Vittore, eine zerbrechliche Spur, die sich bald in dem darauf folgenden spöttischen Dialog verliert. Ein anderes Mal antwortet Magnaghi dem gewöhnlichen Gefangenen, der ihn fragt: „Warum sind Sie hier?“, zögernd. Er kann die Wahrheit nicht sagen, die selbst für ihn schwer zu fassen ist: „Wegen einer politischen Fälschung“. Er sagt eine Nicht-Wahrheit, aber eine, die bares Geld wert sein sollte: „Wegen Bildung einer bewaffneten Bande“, so die Anklageschrift. Es überrascht ihn nicht, dass die Kommune sich gelangweilt von ihm abwendet, als wolle sie die Bedeutungslosigkeit dieses „ferrovecchio“ bestätigen, das zur politischen Terminologie geworden zu sein scheint. Bedeutungslosigkeit für die anderen, Vollendung für sich selbst. Zu dieser Vergangenheit wird das Tagebuch nie mehr zurückkehren, als ob es schon lange ein verlorener Grund der Identität gewesen wäre und die Unterstellung ihm keine Substanz geben könnte. Dies ist sicherlich das Markenzeichen dieser Seiten.

In einem Großteil der Gefängnisliteratur wird der Freiheitsentzug als Unterbrechung einer Kontinuität erlebt, die den Ort der Person ausmacht. Das wahre Selbst ist zuerst noch draußen, und man setzt sich mit dieser Verleugnung auseinander. Oder man ringt unaufhörlich um eine Verteidigungslinie. Oder man protestiert, man beschreibt das tägliche Leiden, die unmittelbare Demütigung, den Alltag der Haft. Alle drei Ebenen finden sich in Magnaghis Erfahrung, aber nicht in seinem Tagebuch. Im Gefängnis findet er seine früheren Weggefährten und andere, mit denen er diskutiert, malt, Objekte baut, Unterricht abhält, sobald er kann; er ist ein natürlicher Aggregator. Mit ihnen findet die Aufarbeitung der Vergangenheit statt, die so unterschiedlich ist wie das Bild, das die Anklage und das Gefängnis allen aufzwingt; und er schreibt nicht nur Verteidigungsschriften, sondern Dokumente, Interpretationen des Theorems, er greift in Un sequestro di stato und dann in Dal teorema al sistema die Ermittlungsstruktur und den ihr zugrunde liegenden Vorgang an. Und dann schreibt er nach außen, an Freunde: über das politische Wesentliche, über die unerlässliche Suche nach einem Gesprächspartner, und wenn er mit einer persönlichen Note schließt, dann auf dem Register der Heiterkeit, der Ironie.

Aber schon in den ersten Notizen des Tagebuchs tauchen Spuren der erlittenen psychischen oder physischen Verletzung auf, nicht als Protest, sondern als Anatomie eines unpersönlichen und zerstörerischen Mechanismus, der auf eine Logik reagiert, die „vorher“ absurd erschienen wäre: die Absonderung und ihre unleserlichen Möblierungen, der verweigerte Tisch, die blinde Zerstörung der bescheidenen persönlichen Landschaft der Zellen, die sinnlose Geometrie der Zeit- und Raumabtastungen des Gefängnistages.

All dies wird sogar mit Eleganz gelebt; aber wenn er mit sich allein ist und wenn er schreibt, schaut er auf das Wesentliche, nichts bleibt – weder Reflexionen darüber, warum er da ist, noch ein Loslassen von Melancholien oder Hoffnungen, die auch die innere Zeit durchdringen. Es ist, als ob in der zurückgewonnenen und den Zeilen überlassenen Zeit eine Verschiebung „jener“ Erfahrung auf andere Ebenen, die der gewohnten Kommunikation, stattfindet, während die Konfrontation mit etwas anderem als der Identität erfolgt: mit einem grundlegenden, zerbrechlichen und widerspenstigen Selbst, das durch die abrupte Trennung von der Freiheit ans Licht gebracht wird. Als ob vom ersten Tag an – auch wenn es im Laufe der Zeit und durch Stöße deutlich wird – die Gewissheit gewonnen wurde, dass im Gefängnis ein „Abstreifen“ der Module der vergangenen Identität stattfinden muss, oder zumindest der Aspekte, durch die wir uns präsentieren und kommunizieren. Muss das sein? Zumindest in dem Sinne, dass es so ist, eine Tatsache, gegen die Magnaghi an keiner Stelle protestiert. Man kann fragen, warum. Wegen der Zufriedenheit? Für zu viel Selbsterkenntnis, bereits ausgelaugt in jenen schweren Passagen, die das Ende der Zugehörigkeit zur PCI, dann zu Potere operaio, jenen verlassenen Vätern gewesen sein müssen, vielleicht sogar die Frustration darüber, wie viel Aufklärung in der Hypothese einer politischen Forschungsarbeit steckte – alles Ereignisse, die ihn, Alberto Magnaghi, immer zu einer Grenze, zu einer Sackgasse, zu einem Riss geführt haben? 

Bis hin zu dem Ort/Nicht-Ort, der San Vittore ist, in dieser Architektur aus Mauern und Beziehungen, die alle auf ein Zentrum zulaufen, das leer ist und uns daher nicht nur der Bewegung, sondern auch eines verständlichen eigenen Ortes beraubt.

Wenn er an diesem Nicht-Ort schreibt – in seinem elliptischen Stil, in dem sich die Sprache des Architekten mit der des Politikers vermischt und der immer dem Rhythmus einer Darlegung von Prämissen folgt, die aufgegriffen, umgedreht und wieder aufgegriffen werden, bis hin zu einer Schlussfolgerung, in der die Sprache verfeinert wird und die die Zone der Entdeckung, der erlittenen Bestätigung ist -, taucht die Vergangenheit nicht wieder auf, auch nicht als Erinnerung an eine Versammlung oder ein Projekt oder einen Irrtum; und selten Personen oder Gesichter, die nicht strikt mit dem Moment der Reflexion vereinbar sind. Nicht einmal Zärtlichkeiten, die zum Schweigen gebracht werden. Auch nicht die Orte des Lebens, bis auf einen: die Langhe. Vom ersten Tag an das Schloss von Prunetto, dessen Kerker ihm Jahre zuvor einen Schauer der Vorahnung beschert hatte, der ihn in den Tagen der Isolation erneut überkam, und der ihm wieder ins Gedächtnis kam, als er vom hinteren Teil des Gefängnisses zu den Gemeinschaftszellen, von den Zellen zum Gemeinschaftstrakt hinaufstieg. 

Und später, wenn er aus dem Maul des Wolfes den ersten Schnee auf Mailand fallen sieht, noch weiß und trocken, und es ihm den mütterlichen, einhüllenden Schneefall nachruft, der alles auf dem Lande zum Stillstand bringt, seine Gestalten und Bewegungen verändert, die wenigen Lichter in der Nacht, und er, der darin gefangen ist, ist leise gefangen und getrennt und erlöst von dem ungeordneten Leben der Stadt, in sich selbst und mit seinesgleichen stehen geblieben. Dies sind die einzigen Zeilen, in denen die Distanz, das Verlorene, gefühlt wird, die Nostalgie gewährt wird. Die Metropole ist kein Ort der Erinnerungen, sie bietet dem Gefängnis eine permanente anspielungsreiche Kontinuität, sie ist ein Schlüssel zu ihm und wird durch ihn gelesen. Das Tagebuch ist also eine Reise in das Selbst und in jene Figur des modernen Selbst, die die Suche nach dem authentischen Selbst ist, seiner inneren Ebene, jenseits dessen, was wir „Identität“ nennen. Paradoxerweise, aber vielleicht gar nicht so paradoxerweise, muss diese Reise durch „Verödung“ erfolgen, durch die Durchquerung einer Wüste, wie das nietzscheanische Kamel, das eine ungeheure Last (das Leben bis gestern) auf seinen Schultern trägt, und darüber hinaus in einer Landschaft ohne Merkmale. Verödung als Erfahrung. Die Schnecke bei der Säuberung. Von den ersten Seiten an ist das Gefängnis – und seine anfängliche Auferlegung als totale Isolation – eine unausgesprochene und schwer fassbare Überzeugung, das Sein auf dem Grund der Unfreiheit und das Überleben die Bedingung, um zu sehen und gesehen zu werden in den hauptsächlichen Beweggründen.

Ist es indiskret zu fragen, oder es ist Teil einer Biographie, die über diese Tagebuchaufzeichnungen hinausgeht, warum dies in Magnaghi geschah, und zwar unmittelbar, und dann; wie lange dieser „Rückzug“ in ihm vorbereitet wurde, den eine normale extrovertierte Aktivität ihm nicht erlaubt hätte; warum die Reise in den Zwang im Wesentlichen als eine Prüfung des Selbst und der Erkenntnis einer extremen Ebene erlebt wird. Ein religiöser Mensch, der die Zelle gewählt hat, mag dies wissen; Magnaghi, wenn er es weiß, schreibt nicht darüber.

Sicher ist jedoch, dass der rote Faden des Tagebuchs darin besteht, wie man mit einem Verlust konfrontiert wird, nicht um das Verlorene wiederzufinden, sondern um etwas anderes zu finden. Von San Vittore bis Rebibbia filtriert sich der Mensch über das hinaus, was das Gefängnis ihm auferlegt oder verweigert; und er „überwindet“ es, indem er nicht seine Zugehörigkeit, sondern seine Gesamtheit zum Ort des gereinigten, ungestörten Selbst macht. Es ist eine riskante Wette, sicherlich eine ungewöhnliche, und zumindest bisher ungeschrieben.

Die Dreiteilung des Textes verdeutlicht diesen Weg: zunächst in das Labyrinth (der gesamten Institution oder der Person? oder mehrdeutig von beidem? ), und es ist „die Reinigung“, das Rampenlicht auf ein wehrloses Selbst angesichts der mächtigen und negierenden Unlogik der Institution; dann die Analyse der Gefängnisbedingung als Metamorphose der Sinne und sogar der Funktion dessen, was Kant die apriorischen Synthesen nannte, des „anderen“ Raums und der Zeit; und schließlich die Lehre zu einer Idee der Freiheit als Subtraktion von der Subalternität zum Gefängnis, einer Subalternität, die sowohl gegeben ist, wenn man sie akzeptiert, als auch, wenn man verzweifelt den Kopf gegen die Wand schlägt.

Über dieser Unterteilung (und zwischen dem zweiten und dritten Kapitel, die sich manchmal überschneiden) liegt die zeitliche Abfolge der Anmerkungen und der Rhythmus ihrer Abfolge. Dicht in den ersten Tagen, täglich: der Isolation, das unsichere Selbst registriert mit Angst die Macht der Institution und die Zerbrechlichkeit der Person, die auf äußeren Beziehungen aufgebaut ist, die plötzlich verweigert und unsichtbar werden. Und dann die Lehre der Brutalität am Körper: niemand lehrt dich die elementaren und demütigenden Gegenstände der Zelle, die Tage, die du ohne Waschen und ohne dich zu sehen verbracht hast, wer kennt das Selbstbild des Tieres, das sein Gesicht nicht kennt. Aber vor allem das Gefühl, in der Isolation zu ertrinken, als ob man für sich selbst nicht mehr existiert. Wenn die Verwaltung mit bewusster Verspätung die Telegramme oder das Paket übermittelt, setzen sich alle deine äußeren Identitäten, die auf der Beziehung aufgebaut sind, wieder durch – schon zu viele, schon „andere“. Ein Teil der Wüstenreise ist bereits vollbracht.

Das Tagebuch bricht ab. Es wird zwanzig Tage später wieder aufgenommen, mit dem Aufstieg aus der Einzelhaft in die Gemeinschaftszellen, aus den Kerkern von Schloss Prunetto in den Gruppenraum. Aber die Zeilen dieses Tages tragen den Titel Vernichtung. Als ob nicht in der Einsamkeit, sondern im wiedergefundenen Kontakt mit den anderen der erlittene Verlust des Selbst und die Unmöglichkeit, die Kommunikation von früher zu imitieren, gemessen würde. 

Das zweite Kapitel, das sich in der längsten und ausgedünntesten Zeit ausdehnt, ist auch das kompakteste als Niederschrift. Das wehrlose Ich erhebt seinen Kopf, um das Gefängnis, sich selbst in ihm, zu sehen, spaltet sich, teilt sich, erfährt die spezifische Dimension des Gefängnisses als gelebt und wendet sich gleichzeitig gegen sie, stößt sie ab. Die Bedingung nach den ersten Tagen ist, nicht zu leiden; und man kann nur nicht leiden, wenn man die innere Struktur des Zwangsmechanismus, seine „Metamorphose“ begreift. Auf der Suche nach einer Referenz fällt mir eine Negation ein: Man könnte sagen, „wie man den Zustand von Joseph K. (mit dem der Angeklagte den „Unsinn“ der Anschuldigung teilt) lebt, ohne Joseph K. zu werden“. Man durchquert ihn, indem man ihn betrachtet und sich selbst betrachtet. Und so wie der Körper zu einem kostbaren Gegenstand wird, der für „später“ aufbewahrt werden muss, um so unversehrt und so wenig beschädigt wie möglich „herausgeholt“ zu werden, so ist das Gewissen das Instrument der Distanzierung, die nicht in der Blindheit, sondern in der maximalen Sehschärfe vervollkommnet werden muss.

Was gibt es zu sehen? Die Logik und die Sitten des Gefängnisses. Nicht in seinen Auswüchsen, sondern in seinen Regeln. An einer Stelle, als Magnaghi geistesabwesend seinen Abgang aus dem Sondergefängnis notiert, schreibt er: „Auf die Schrecken, die sich dort ereignen, will ich nicht eingehen, denn sie würden mich in die Irre führen“. Es ist das „saubere“ Gefängnis, das durch die Fähigkeiten der Gefängnisleitung oder des Gefängniswärters gesäubert wurde, das Gefängnis, das sie auch einsperrt, das ihn interessiert, seine Logik und Struktur. Dann sieht man, wie es einen nicht nur seiner Freiheit beraubt, d.h. seines Beziehungslebens, wie es sich im Laufe der Jahre herausgebildet hat, sondern auch der Landschaft, in der sich die Tage immer abspielen, so dass diejenigen, die sich darin bewegen, ohne Hintergrund sind, und ohne Hintergrund zu sein, bedeutet, ohne Geschichte zu sein. Der Gefangene, der diese Entbehrung nicht erleidet, wird nicht lange über vergangene Orte phantasieren, er wird eine Landschaft, die einzig mögliche in seinem Zustand, um die einzelnen Figuren in der Zelle herum aufbauen, indem er die Halluzinationen ihrer Formen und Farben und jener geheimnisvollen, administrativen (Schlüssel, Schritte) oder schrecklichen (Geräusch/Schmerz von jemandem, den man nicht sieht und der kämpft) Geräusche aufnimmt, aber nicht erleidet.

Er lernt zu spüren, dass ihm eine andere Zeit auferlegt wird, die des Anstaltsrhythmus, die keine andere Funktion hat, als ihn seiner eigenen Zeit zu berauben, die dann die Zeit der Erfahrung, des Erhofften, des Erwarteten, des Geplanten ist: die härteste Entbehrung, diejenige, die einen selbst objektiviert in seiner Zelle in Stummheit und Kommunikationsarmut versinken lässt. Er lernt zu verstehen, dass der minimale Lebensraum, der den Architekten des reformierten Gefängnisses am Herzen liegt, nicht existiert: als ob ein lebendiger Körper bis zum Äußersten schrumpfen könnte, der durch eine unüberwindbare Grenze seiner Bewegungen modifiziert wird, die „draußen“ für ihn nicht zu existieren scheint, auch wenn es bis zu einem gewissen Grad immer eine Grenze gibt, aber „draußen“ wird als Unfall erlebt, überwindbar, verschiebbar. 

Dieses Wesen des Gefängnisses, seiner gröbsten Schrecken entkleidet, legt seinen Zwang frei, der über die Aufhebung der Freiheiten des „Tuns“ hinaus bis in die elementaren Weisen des Seins hineinreicht – eben des Seins im Raum, in einem Raum, der lesbar und sinnvoll ist, in der Zeit, einer flexiblen Zeit, der man dienen kann oder glaubt, dienen zu können (hier kehrt das anders geartete Gefängnisbild der modernen Metropole wieder). Angemessen. Um im Gefängnis eine „eigene Zeit“, einen eigenen Raum wiederzuerlangen, muss die Metamorphose der Sinne zunächst kalt registriert, erlitten, aber „beobachtet“ werden. 

Am Ende dieser Erkenntnis durch den Schmerz wird jenes „Gefängnissein“ auftauchen, das weder das Überbleibsel des „Vorher“ noch die von der aktuellen Institution auferlegte Totalisierung ist – es ist das inhaftierte Subjekt, das sich selbst im neuen Zustand sieht, das die von ihm erlebte Metamorphose beherrscht. Er erlebt sich und die anderen als eine Welt, als eine eigene Population, die sich von einem Gefängnis zum anderen oder von der Einzelhaft zur Zelle bewegt, ohne gesehen zu werden – der Weg der Gämse in der Tat, von dem derjenige, der keine Gämse ist, kaum einen Blick auf die Schritte erhaschen kann -, die eine Geographie, eine Landschaft, eine Zeit und eine Art der erzwungenen Bewegung zeichnet, ein Hinterherziehen hinter anderen Wesen, die in dieser Funktion unkenntlich gemacht werden, eine separate Gesellschaft mit ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten, Regeln, Terminen, Wartezeiten, Beziehungen. Eine Gesellschaft, die in der Selbstgenügsamkeit ein prekäres Gleichgewicht findet und in der der Kontakt mit der Außenwelt bald zu einem schmerzhaften Bruch im Rhythmus wird.

Diese Seiten, die nicht vor Terror und Blut triefen (ein paar Flecken an der Wand haben keinen Namen), sind die trockenste Anklage gegen die Inhaftierung, die die Bedeutungslosigkeit jedes Projekts zur Humanisierung des Gefängnisses markiert. Die geordneten Strukturen, sogar harmonisch in ihrer scheinbar perfekten Funktionalität, die in einer Wohnumgebung nie gegeben ist, in der einige Architekten das “humane“ Gefängnis (Räume, Dienstleistungen, Sozialräume) verwirklichen, sind das Scharnier der Inhaftierung, die der begrenzte und abgeflachte Raum und die Zeit sind, wobei ein Spielraum, wie ein bewegliches Teil einer Maschine, gewährt wird. 

Natürlich gibt es verschiedene Formen der Unmenschlichkeit, aber „human“ kann das Gefängnis nicht sein; um eine Strafe zu sein, die lediglich Freiheitsentzug bedeutet, müsste es definieren, „welche“ Freiheiten es einem heute nimmt, und sie in Worte fassen. Aber welche Verfassung würde es wagen zu sagen: der Gefangene hat zwölf Jahre lang nicht seine eigene Zeit, seinen eigenen Raum, die Möglichkeit eines Projekts, die Möglichkeit zu arbeiten (reden wir gar nicht erst von seiner Arbeit), die Möglichkeit der Sexualität, die Möglichkeit der Mutterschaft und so weiter? Nein. Das Gewissen der modernen Gesellschaft nährt sich von dem Phantom des Gefängnisses als einem Ort, der den Menschen einfach die Freiheit nimmt, die Norm zu verletzen, sie zu untergraben, sie anzugreifen; und es sagt sich, dass es nicht „leidvoll“, sondern „heilsam“ sein soll.

Aber wozu, wenn nicht zur zwangsweisen Logik und Introjektion all der Negationen, die es einem auferlegt? Normalerweise erlebt man eine Situation, die so radikal außerhalb der Norm liegt, nicht; das Gefängnis bringt also entweder eine Revolte hervor oder ein Volk, das mit ihm verwandt ist, oder – das ist die Wette der Bewegung dieser Jahre – den Stamm der Gämse, der seine Geheimnisse bis ins Innerste aufnimmt, ohne sie zu introjizieren. Er ist in der Lage – Magnaghi schreibt in der Sprache des homogenen Gebiets – „die Barriere zu durchbrechen“. 

So gesehen offenbart das reine Gefängnis auf bizarre Weise seine Verwandtschaft mit dem modernen Durchbruch in der Geschichte des „Ichs“ als Subjekt, das nicht abstrakt ist, sondern als die Irreduzibilität der Person, es ist ihre Negation. Ohne die Entdeckung dieser Form des Ichs gäbe es das Modell des Gefängnisses vielleicht nicht: Bis vor einem Jahrhundert war die große Persönlichkeit, ob König oder untreuer Feudalherr, im Tower von London oder in den Kerkern einer Festung eingesperrt – das einzige Ich, das es in Zeiten von Identitäten gab, die mehr der Rolle als dem Gewissen anvertraut waren. Es ist kein Zufall, dass die Klosterzelle jenem spezifischen „Ich“ gewidmet ist, das in der Ausnahmesituation des „Rufs“, der „Berufung“, des jenseitigen Seins mit Gott kommuniziert. 

Für die anderen verhängt die Gesellschaft körperliche oder spektakuläre Strafen, sozusagen eine Stichprobe der abweichenden Gruppe, der einen, die für alle oder die anderen genommen wird. Aber wenn der Einzelne, das Individuum, zur Person wird und Bürgerrechte und Sprache erlangt, vervielfältigen sich auch die physischen Einfriedungen, die Strafe muss für alle Normverletzer gelten, und das Gefängnis entsteht, es dehnt sich aus, große Hallen statt Türme, bald mehr als Hallen die strahlenförmigen Bauten mit vielen Zellen.

Das Gefängnis als Gegenstück zur Existenz der Person, als Trennung vom Rest der Welt, oder sogar, wie die Frankfurter Schule es zu rationalisieren versucht, als perverse Fabrik, in der die Arbeitskräfte für die Interessen der Produktion völlig austauschbar sind, sich nicht gewerkschaftlich organisieren können und ihr Lebensunterhalt auf ein Minimum reduziert wird; immer als Ort der Vernichtung der Komplexität der Person, an dem die Gesellschaft ihren geheimen Teil, ihr inneres Potenzial zur Ablehnung, austreibt. Es ist, kurz gesagt, immer die Tötung von etwas, das zu jedem in jemandem gehört. Und das ist vielleicht der Grund, warum das Gefängnis fern, geheim, im Gegensatz zur antiken exemplarischen Strafe möglicherweise unsichtbar ist. Eine lange, unblutige, versteckte Hinrichtung. Dieses „zu Tode bringen“ steht im Tagebuch der Metamorphose; sich ihr zu entziehen, sich zu retten, heißt, zu leben, indem man sich spaltet, darauf wettet, dass die Metamorphose stattfindet, aber nicht in der Gestalt, die sich die Institution vorstellt. 

In dieser Hinsicht ist das Tagebuch datiert, es offenbart seinen Code: es kann nur von einem Intellektuellen und einem Politiker der 1970er Jahre in einer Gefängnisgemeinschaft geschrieben worden sein, die stark von den Veränderungen in ihrer Zusammensetzung während dieses Zeitraums von zwanzig Jahren geprägt war, als sie sich verdoppelte und verdreifachte, mit einer Mischung von Altersgruppen und Hintergründen, die die Merkmale des Gefängnisses von vor dreißig Jahren verzerrten. Dieses Bewusstsein einer verminderten Einzigartigkeit des Zustands und des Missverhältnisses der Kräfte zwischen dem Individuum und der Struktur dringt in der Tat zu den Genossen durch (und Gefangene sind sie alle): Der Gefangene kann sich als Subjekt und nicht nur als Objekt betrachten. Ein Subjekt insofern, als es nicht in den von der Institution vorgesehenen Formen und Spielarten „wiederhergestellt“ wird, wenn sie erziehen oder besser gesagt zähmen will; fähig, ein Prinzip der Legitimation in sich selbst und in seinem Leben zu finden. 

(Wieder-) Veröffentlicht am 6. Oktober 2023 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Anmerkungen zu „Eine Idee von Freiheit“ [in memoriam Alberto Magnaghi] [1]

Die verborgene Quelle der Macht

Alberto Bradanini

Je mehr man einen kritischen Blick in die Labyrinthe der Macht wirft, desto mehr wird man sich der Dominanz einer Erzählung bewusst, die sich sowohl der Logik als auch der menschlichen Erfahrung entzieht. Je mehr man in die Düsternis solcher Labyrinthe eindringt, desto mehr erkennt man, dass das Ziel einer solchen Erzählung die (De-)Formierung des menschlichen Bewusstseins ist. Nur wenige können behaupten, die von der Propagandamaschine wiedergegebenen Ereignisse persönlich erlebt zu haben. Die Darstellung der Welt und das Bewusstsein des Selbst sind Pfade, die außerhalb von uns fabriziert werden. Sie dringen in unseren Verstand ein, nachdem sie Filter, Vorurteile, kognitive Klischees und Verzerrungen passiert haben, und lassen das Wesentliche auf dem Weg zurück.

Nur wenn wir uns dieser gnoseologischen Tragödie bewusst sind, können wir einige Türen öffnen, um die Irrungen und Wirrungen zu verstehen, die die Macht auf eine von Entfremdung heimgesuchte Bevölkerung überträgt.

Der Mensch bewegt sich in einer Prärie aus ungefährem Wissen und metaphysischen Phantasien über Spiegelungen der Wirklichkeit, wandernden Sternenstaub im Weltall, von dem wir nur ein paar Schimmer kennen. Selbst diejenigen, die im Regieraum sitzen, handeln auf der Grundlage einer geringen weltlichen Intelligenz, was sie jedoch nicht daran hindert, sich rücksichtslos für das Streben nach Macht und Reichtum einzusetzen.

Denjenigen, die das Orchester dirigieren, genügt es, von Zeit zu Zeit die Megaphon-Hermeneutik zu verwenden, die für den Schutz ihrer Privilegien am besten geeignet ist, der Rest ist ein Kinderspiel. Durch die Beherrschung der Mechanismen der Überzeugung, sei es verdeckt oder offen, wird das Gewissen eines Volkes geformt und in den Dienst der anderen gestellt. Mächtige, zynische Individuen ohne menschliches Einfühlungsvermögen nutzen dieses Instrumentarium, um Ehre, Geld, Sex und Gehorsam zu erlangen.

Die Macht liegt nicht bei denjenigen, die Geld, Soldaten oder Waffen haben (was alles ein Ergebnis ist), sondern in der Kontrolle des Narrativs. Dies prägt das Bewusstsein und die Handlungen der Bevölkerung, weshalb es von entscheidender Bedeutung ist, die Schieberegler in die Hände zu bekommen, mit denen die Oligarchie die Dienstleistungsklasse – die politische, die Medien- und die akademische Klasse – zusammenstellt. Die scheinbare Dialektik zwischen den Strömungen in der Einheitspartei – ein Produkt der gleichen Selektion – ist eine kosmetische Konstruktion. Die Haupttätigkeit dieser Strömungen besteht in der Organisation von Fernseh- oder Zeitungsunterhaltung, während die Entscheidungen in den Händen eines unzugänglichen Autopiloten liegen, der mit Hilfe von Algorithmen die Objektivität von Akademikern finanziert, Informationen verfälscht oder fabriziert und aufmüpfige Journalisten ins Gefängnis steckt.

Unter der Oberfläche bleiben jedoch auch die Manipulatoren verwirrt, geplagt von geistiger Instabilität und zerstörerischen Geistern. Obwohl sie im Vergleich zu den Beherrschten ein privilegiertes Leben führen, kämpfen auch sie gegen die Unausweichlichkeit ihrer unglücklichen Existenz. Die Quelle des Leidens liegt in der Tat in der Struktur einer dystopischen Gesellschaft, die Gefangene der finsteren Kombination aus dem Absolutismus der Warenförmigkeit und der Ontologie der Unveränderlichkeit ist. Das erste Postulat zielt darauf ab, die menschliche Person zu einer bloßen, auf dem Markt handelbaren Ware zu machen, das zweite darauf, die Spannung zur Ethik der Natur und zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen zu unterdrücken. Die herrschende Klasse bleibt daher auch Sklave düsterer Pathologien, versunken in einer Halluzination der Realität, in der Anmaßung, die tiefen Abgründe der menschlichen Spezies zu kennen. Die Besessenheit, die Freiheit des Bewusstseins zu unterdrücken – mit einigen Ausnahmen, die keinen Unterschied machen – zielt darauf ab, zu verhindern, dass der Widerstand eine kritische Masse erreicht, um den Preis des Überlebens des Planeten, der Zerstörung des Lebensraums oder der nuklearen Vernichtung.

Der Mensch bleibt jedoch Herr seines eigenen Schicksals, er kann in sich gehen, sich bewusst werden und dem entwerteten Abgrund, in den die Gesellschaft gestürzt ist, auf die Spur kommen. Der Weg des Bewusstseins erlaubt es, die ontologische Unhaltbarkeit eines solchen Szenarios zu begreifen, die Hoffnung auf einen sukzessiven Neubeginn zu kultivieren, sich von der Beherrschung durch die erzählende Stimme zu befreien und sich in Richtung Heilung und Freiheit zu bewegen.

Wir wissen nicht, ob unsere Spezies in der Lage sein wird, aus dem Schlaf der Vernunft zu erwachen und sich von der manipulativen Logik zu befreien, die ihre Quelle ist. Aber dieses Ziel liegt in greifbarer Nähe, und jeder kann dazu beitragen.

Erschienen im italienischen Original am 29. September 2023. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Die verborgene Quelle der Macht

„Ein bisschen Angst, Jungs?“ Für eine politische Lesart des Zustands der Jugend

Antonio Alia

“Mit sich selbst im Reinen zu sein, bedeutet heute, gegen die Welt in den Krieg zu ziehen“.

Mario Tronti, Vom freien Geist”

Vorwort: 

Eine ziemlich beschissene Welt, kein Zweifel. Die der Krieg an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt. Oder andersherum.

Krieg. Krise. Ängste. Über die ersten beiden haben wir bereits gesprochen. Die Welt von morgen und das Schicksal der Globalisierung; die Kinder der Krise und die Schule von heute. Jetzt war es an der Zeit, über die Nerven zu sprechen. Angst, Kummer, seelisches Leid. Eine zunehmend verbreitete, fast pandemische Erfahrung. Die vor allem junge Menschen zu ergreifen scheint. Oder die sie – dank ihres Alters, kombiniert mit einem größeren Bewusstsein und einer weniger drängenden Sucht – auf radikalere Weise zum Ausdruck bringen können. Weil sie es müssen, brauchen. Diejenigen, die sich uns angeschlossen haben, trotz der Müdigkeit, des Drucks und der Ängste, die der Alltag im Alter von sechzehn Jahren mit sich bringt, haben dies offensichtlich nicht zufällig getan.

Wir wollten versuchen, eine parteiische Sichtweise zu konstruieren. Die Methode, die uns immer bewegt: ins rechte Licht rücken, einen politischen Diskurs erzeugen, Organisationsformen anregen. Aber vor allem: recherchieren. Fragen identifizieren, zuhören können. Und dabei versuchen, die Antworten zu finden. Wir waren an einer politischen Lesart der Angst interessiert, die mit den Veränderungen in der Produktion, der Individualisierung des Unbehagens und den neuen Logiken des Kommandos zusammenhängt. Zum Psychologen zu gehen, ist schön und gut, aber es kann keine Lösung für politische Probleme sein. Die Katastrophe anzuprangern ist etwas, wozu wir alle fähig sind, das Schwierige ist zu verstehen, wem wir die Schuld geben müssen. Anstatt zu Malaise-Spezialisten zu werden, sollte man den Blickwinkel – den partiellen Blickwinkel derjenigen, die als politische Aktivisten ihr eigenes Schicksal wenden können – zu einer Waffe machen.

Das Unbehagen der Jugend hat es immer gegeben. Woran liegt es, dass die organisierte, kollektive Form heute nicht mehr als Antwort empfunden zu werden scheint? Welche Erwartungen kursieren in der Zusammensetzung der Jugend? Wie sehr unterscheiden sie sich von ihrer jeweiligen Zusammensetzung? Und wenn sich die Erwartungen geändert haben, was passiert dann, wenn sich ein Kriegsszenario auftut, das uns zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aber konkret betrifft? Dies sind einige der Fragen, die uns bewegt haben. Mit dem Wissen, dass die Angst, irgendwie, uns an diese beschissene Welt fesselt, weil wir dysfunktional sind, für das System, das uns hervorbringt. Wir alle haben sie gemeinsam, manche mehr, manche weniger, sicherlich in unterschiedlichen Formen.

Was können wir also damit tun? Wie können wir es gemeinsam nutzen? Wie können wir es den Herren, den Verantwortlichen, denen, die uns schwach, isoliert und resigniert sehen wollen, an den Kopf werfen? Kämpfen, das wissen wir, war schon immer mit Angst und Unruhe verbunden. Aber Genosse zu sein, bedeutet für uns vor allem eines: sich ihr gemeinsam zu stellen, sie in Stärke und Militanz zu verwandeln.

Wir veröffentlichen hier die Rede von Antonio Alia, Pädagoge und Herausgeber der Zeitschrift „Commonware“, mit der die Debatte am 1. Oktober eröffnet wurde. Trotz dieser schönen, beschissenen Welt wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Kamo Modena

Antonio Alia: 

Ich möchte den Kamo-Genossen dafür danken, dass sie mich eingeladen haben, in dieser Debatte zu sprechen. Da wir über junge Menschen sprechen und es ein 40-jähriger Mann ist, der dies tut, werde ich versuchen, einerseits keine jugendliche Haltung einzunehmen, wonach alles, was junge Menschen tun, an sich gut ist, und andererseits einen gewissen Paternalismus zu vermeiden, wonach das, was junge Menschen heute tun, immer falsch ist. Gleichzeitig werde ich versuchen, die schwierige Rolle desjenigen zu meistern, der eine Debatte über junge Menschen einleiten muss, ohne für sie zu sprechen, und versuchen, ihnen nicht zu erklären, was sie wahrscheinlich besser wissen als ich. Daher möchte ich mich darauf beschränken, einige Fragen aufzuwerfen und andere zu problematisieren, um eine Diskussion zu eröffnen und Hypothesen zu testen.

Ich möchte mit der Definition eines Wortes beginnen, das im Einleitungstext dieser Debatte verwendet wurde, nicht weil ich ein Experte auf diesem Gebiet bin, sondern weil es mir eine nützliche Methode zur Annäherung an die Probleme zu sein scheint. Das Wort ist Angst.

Dieses Wort wurde nicht zufällig gewählt, denn nach dem, was mir Freunde und Genossen, die in Schulen arbeiten, erzählen, aber auch nach dem, was in der Presse berichtet und in Fernsehserien dargestellt wird, scheint es, dass Angst eine Eigenschaft der Generationen ist. Ich würde gerne mit Ihnen im Laufe dieses Treffens herausfinden, ob es sich tatsächlich um ein reales Merkmal handelt, wie weit verbreitet es ist, welche Jugendgruppen am stärksten betroffen sind, welche umweltbedingten Ursachen es gibt, oder ob es sich lediglich um eine Darstellung in den Medien handelt. Sicherlich muss es als ein weit verbreitetes Problem empfunden werden, wenn die Forderung nach psychologischen Hilfen auch in den Forderungen einiger der jüngsten Studentenmobilisierungen enthalten war. Ich werde später auf diese Forderung zurückkommen.

Gerade weil ich kein Experte bin, habe ich im Internet nach Definitionen von Angst gesucht. Ich zitiere zwei: eine von der Website des Institute of Psychology and Behavioural Psychotherapy und eine von Wikipedia, die wiederum das Diagnostic Manual of Mental Illness der American Psychiatric Association zitiert. Kurzum, es handelt sich um relativ zuverlässige Quellen.

Die erste Definition lautet wie folgt: „Angst ist ein weit verbreiteter Begriff zur Bezeichnung eines Komplexes von kognitiven, verhaltensmäßigen und physiologischen Reaktionen, die nach der Wahrnehmung eines als bedrohlich empfundenen Reizes auftreten, auf den wir uns nicht ausreichend in der Lage fühlen zu reagieren“.

Die zweite Definition lautet: „Angst ist ein psychischer Zustand eines Individuums, der überwiegend bewusst ist und durch ein Gefühl intensiver Besorgnis oder Furcht gekennzeichnet ist, das mit einem bestimmten Umweltreiz zusammenhängt und mit einem Versagen des Organismus bei der Anpassung an eine bestimmte Situation verbunden ist, die sich für das Individuum in Form von Stress äußert“.

Das erste Element, das aus diesen Definitionen hervorgeht, ist, dass Angst durch Umweltfaktoren hervorgerufen wird. Das zweite Element ist, dass dieser emotionale und kognitive Zustand uns handlungsunfähig macht. Das dritte Element ist, dass sie mit einem Mangel an adaptiven Reaktionen in einer bestimmten Umweltsituation verbunden ist.

Es scheint mir etwas schwierig zu leugnen, dass diese drei Elemente nicht eine ausgesprochen politische Konnotation haben, wobei ich mit politisch meine, dass sie mit dem Funktionieren der Gesellschaft zu tun haben, in die jeder von uns eingebettet ist. Und schon diese Feststellung führt uns zu einigen besonders radikalen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Behandlung. Aber lassen Sie uns mit der Anordnung fortfahren. 

Was sind nun diese sozialen Funktionen, die Angst auslösen? Es gibt mehrere. Ich stelle einige Hypothesen auf, die vor allem dazu dienen, eine Genealogie des Problems der Jugendangst zu identifizieren. Abgesehen von einer historischen Rekonstruktion sind meine Hypothesen natürlich nur Hypothesen, die von meiner Wahrnehmung ausgehen, die nicht mit der Ihren übereinstimmt, weil wir unterschiedlich alt sind und uns in unterschiedlichen sozialen Positionen befinden. Ich würde also gerne verstehen, was Sie denken.

Mir scheint, dass eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung von Angst, d. h. einer emotionalen Reaktion, die eine künftige Bedrohung vorwegnimmt, nicht so sehr die Ungewissheit über die Zukunft ist, denn die Zukunft als solche ist ungewiss, sondern die Unvorhersehbarkeit der künftigen Aufwendungen und Erträge, die bestimmte Lebensentscheidungen (z. B. die Art der Schule) oder Verhaltensweisen (z. B. die Verpflichtung zum Studium) mit sich bringen können. Ich will damit sagen, dass ein erheblicher Teil der Angst auf die Zunahme der Risiken zurückzuführen ist, mit denen der Einzelne konfrontiert wird, und auf die Erschöpfung der Wirksamkeit des instrumentellen Handelns (wie die Soziologen sagen), d. h. auf die zunehmende Ungewissheit des Verhältnisses zwischen Mitteln und Zielen: Es ist zum Beispiel nicht sicher, dass mein Engagement für das Studium mir in Zukunft zufriedenstellende Ergebnisse bringen wird. Diese Situation ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Sie war nicht immer so, und deshalb muss sie auch nicht zwangsläufig so sein.

Es gab eine Zeit in der Geschichte, in der die individuellen Biografien im Guten wie im Schlechten fast schon festgelegt oder standardisiert waren, die Bandbreite der Lebensentscheidungen war begrenzt und damit auch die Höhe der Risiken. Dies geschah aufgrund einer gesellschaftlichen Organisation, in deren Mittelpunkt die „normale“ Lohnarbeit stand. Die Fabrik mit ihrer Starrheit organisierte die Gesellschaft. Es war der so genannte fordistisch-keynesianische Kompromiss, der auf dem Tausch zwischen systemischer Legitimation und mehr oder weniger sicheren Lebensperspektiven beruhte.

Die Arbeiterkämpfe der 1960er und 1970er Jahre setzten zwar immer höhere Maßstäbe für diesen Kompromiss, stellten ihn aber auch radikal in Frage. Diese Kämpfe waren nicht so sehr wichtig, weil sie Rechte oder höhere Löhne erkämpften, sondern weil sie die Tatsache in Frage stellten, dass man in einer kapitalistischen Gesellschaft seine Arbeitskraft verkaufen muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Arbeiter weigerten sich, Arbeiter zu sein, sie verachteten es, Arbeiter zu sein, sie verachteten das von der Fabrik bereits vorgezeichnete Leben. Das Gleiche gilt für die Frauen, die sich weigerten, die von der fabrikzentrierten Arbeitsteilung auferlegte Hausarbeit zu verrichten. Ich empfehle die Lektüre eines schönen Romans mit dem schönen Titel „Wir wollen alles“ von Nanni Balestrini, der mir mehr geholfen hat als tausend Aufsätze.

Diese Ablehnung der Fabrikarbeit hat sich nicht in eine Revolution verwandelt. Sie wurde von den Bossen besiegt, aber nicht durch einfache Repression, die es gab (denn wenn es keine Repression gibt, bedeutet das auch, dass es ihnen nicht gelungen ist, den Feind zu verängstigen), sondern durch Assimilation. Die Bosse sagten: Wollt ihr Freiheit vom Fließband, von seiner Langeweile? Kein Problem, ihr könnt alle reich werden, ihr könnt alle eure eigenen Unternehmer werden, Start-ups gründen, Youtuber werden oder euer Wissen, eure Fähigkeiten, eure Intelligenz nutzen, um euch auf dem umkämpften Arbeitsmarkt durchzusetzen. Seien Sie sich jedoch bewusst, dass Sie alle damit verbundenen Risiken selbst tragen. Wenn Sie scheitern, tragen Sie allein die Verantwortung, auch wenn die Risiken der Entscheidungen nicht für alle gleich sind.

Das ist die Welt der Meritokratie. Es ist klar, dass es sich um eine Mystifizierung handelt: Die Freiheit vom Fließband ist zur Unsicherheit geworden; die Macht des Wissens ist zum „Humankapital“ geworden, und wir besitzen es nicht nur, sondern sind von ihm besessen, so dass wir, um es zu schätzen, um im Wettlauf nicht zurückzufallen, gezwungen sind, Qualifikationen und Bildungsnachweise anzuhäufen, die gerade in dem Maße an Wert verlieren, in dem wir sie weiter anhäufen; und schließlich müssen wir, ohne es überhaupt zu erwähnen, unsere Arbeitskraft weiterhin an jemanden oder auf dem Markt verkaufen.

Hier möchte ich ein kulturkritisches Element hinzufügen: Der Rapper, der der Welt vorsingt, wie cool er ist, weil er mit seinen Songs oder illegalen Aktivitäten Geld verdient, schreckt vor dieser individualistischen Logik nicht zurück. Er hat nichts Revolutionäres an sich, ich würde sogar sagen, dass es keinen Unterschied zwischen ihm und einem Carlo Calenda oder Elon Musk gibt, denn er bleibt innerhalb einer völlig individualistischen Erfolgslogik.

Ein weiteres Umweltelement, das wir zu den Ursachen dieser allgemeinen Angst zählen können, ist der Wandel des Machtstils innerhalb der Schule – aber allgemeiner in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft – von einem paternalistischen zu einem maternalistischen, wie Gigi Roggero bei einem anderen von Kamos Genossen organisierten Treffen sagte. Wie Gigi argumentiert, ist der Maternalismus weder schlechter noch besser als der Paternalismus, er ist einfach anders. Während der Paternalismus die Seelen mit Zuckerbrot und Peitsche regiert, setzt der Maternalismus auf zwischenmenschliche Beziehungen, auf emotionale Qualitäten und erzeugt Angst, weil er nach der Logik der moralischen Schuld arbeitet, auf der Erpressung der Enttäuschung. Der Paternalismus sagt dir, dass du eine bestimmte Sache nicht tun kannst oder dass du eine bestimmte Sache tun kannst; der Maternalismus sagt dir stattdessen: „Enttäusche mich nicht“. In diesem Sinne scheint mir die Angst nicht so sehr eine Nebenfolge, sondern ein spezifisches Ziel der Machtverhältnisse in diesen Reproduktionssphären zu sein, sowohl in der Arbeitswelt als auch im Kapitalismus.

Irgendwie scheint es mir also, dass wir die Angst als Kosten der systemischen Unsicherheit, die auf den Einzelnen abgewälzt wird, politisch deuten können. Dieses Element wird dann von all den anderen begleitet, die in den Nachrichten auftauchen: Krieg, Wirtschaftskrise und so weiter. Damit will ich nicht sagen, dass es früher besser war, denn wie wir gesehen haben, war das früher Gegenstand heftiger Kämpfe; was ich meine, ist, dass es heute anders ist und dass dieses Andersartige deutlich hervorgehoben werden muss.

Das zweite Element, das den Definitionen zu entnehmen ist, ist, dass die Angst uns handlungsunfähig macht. Einerseits gibt es auch diesen Effekt, jeder, der schon einmal ein kleines Angstproblem erlebt hat, weiß, dass es die Kraft hat, zu lähmen. Andererseits erhöht die Angst unsere Akzeptanz, weil das Kapital unser produktives Handeln braucht, anstatt uns zu lähmen. Wenn wir die Bedrohung durch die Zukunft spüren, akzeptieren wir den Stand der Dinge leichter, weil er uns ein gewisses Maß an Sicherheit bietet. In diesem Sinne ist die Angst ein Mittel zur Steuerung. Und all das Gerede über Angst, über Pathologien, in den Zeitungen, in den sozialen Medien, in Fernsehserien, auch wenn es den Anschein erweckt, eine Form der Kritik an der Gesellschaft zu sein, erzeugt letztlich nur Akzeptanz.

Ein ängstliches Subjekt braucht Fürsorge, Hilfe, wird infantilisiert, ist ein Opfer und besitzt keine Autonomie. Die Angst treibt uns also nicht dazu, mit dem Funktionieren eines Systems zu brechen, sondern führt uns dazu, seinen Schutz einzufordern. Aus diesem Grund sollten wir zum Beispiel vorsichtig sein, wenn wir die Kategorie der Katastrophe (egal ob Umwelt- oder Sozialkatastrophe) verwenden. Das bedeutet nicht, die Existenz eines ernsten Problems oder die Dringlichkeit seiner Lösung zu leugnen, aber es bedeutet, die Ordnung des katastrophistischen Diskurses zu kritisieren, die Rhetorik der Katastrophe, die materielle Auswirkungen auf unser Leben hat, weil sie lähmt.

Das dritte Element der Definitionen schließlich besagt, dass Angst mit einem Versagen bei der Anpassung an eine bestimmte Umweltsituation verbunden ist. Dieser Teil der Definition scheint mir der ideologischste zu sein, denn er suggeriert uns implizit, dass im Falle einer Reibung zwischen dem Individuum und dem Kontext das Individuum sich anpassen muss und nicht der Kontext, der sich verändern muss. Und die Psychologie ist das Instrument, mit dem diese Anpassung erreicht werden kann. Hier müssen wir jedoch vorsichtig sein: Wenn ich sage, dass die Psychologie eine ideologische Funktion hat, bedeutet das nicht, dass sie nicht funktioniert. Im Gegenteil, die Psychologie hat gerade dann eine ideologische Bedeutung, wenn sie funktioniert. Indem sie nämlich effektiv funktioniert und damit das Problem der Reibung zwischen Individuum und Umwelt löst, erzeugt sie gleichzeitig eine Mystifizierung, das heißt, sie verschleiert den sozialen Charakter des Problems, individualisiert das Problem und seine Lösung und rettet das Funktionieren des Systems.

Es ist kein Zufall, dass beispielsweise in der Reproduktionsindustrie, in der ich arbeite, die Unternehmen einen Psychologen bezahlen, der eine Beziehungssupervision durchführt, um Konflikte innerhalb der Arbeitsgruppe zu lösen oder die Auswirkungen der Arbeitsbelastung auf die psychische Belastbarkeit der Arbeitnehmer zu mildern. Es ist offensichtlich, dass durch die Psychologie politische Probleme (die Machtverhältnisse am Arbeitsplatz) und gewerkschaftliche Probleme (Arbeitsrhythmus und Arbeitsbelastung) in individuelle und psychologische Probleme umgewandelt werden. Es handelt sich um eine große Täuschung, zu der noch ein weiteres Element hinzukommt: Die emotionale Offenheit des Arbeitnehmers, der „warme“ Komfort, der in diesem mütterlichen Raum zu finden ist, erzeugt im Arbeitnehmer Loyalität gegenüber der Unternehmensmission und ein Schuldgefühl, weil er gezögert hat, weil er nicht an sie geglaubt hat, und damit schließlich Akzeptanz.

Aus dieser Sicht ist die Psychologie die neue Herrschaftswissenschaft, gegen die wir unsere Kritik noch schärfen müssen, während ich sehe, dass Diskurse über phantastische „Gesellschaften der Fürsorge“ gedeihen, die völlig dekontextualisiert sind, d.h. die nicht berücksichtigen, dass wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, die diese Fürsorge nicht nur wertschätzt, sondern sie auch zu einer Form der Macht macht.

Schließlich habe ich den Eindruck, dass psychische Störungen eine sehr starke Ästhetisierung erfahren haben. Denken wir zum Beispiel an eine Fernsehserie wie Euphoria, die ein großer Erfolg war, oder daran, wie psychische Störungen in den sozialen Netzwerken nicht nur von bekannten Persönlichkeiten, sondern auch von ganz normalen Menschen, vor allem jungen Menschen, dargestellt werden. Es hat fast den Anschein, dass man ein Verlierer ist, wenn man keine Störung hat. Abgesehen von der Konkretheit der Störungen scheint mir, dass diese Ästhetisierung dazu dient, in einem sozialen Feld, das durch die Zersplitterung und Vervielfältigung von Identitäten gekennzeichnet ist, ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu schaffen, das auch zu einem Wettbewerbsvorteil werden kann, eine Art symbolisches Kapital, das auf dem Arbeitsmarkt und in den Prozessen der kapitalistischen Verwertung einsetzbar ist, wie es zum Beispiel im Bereich der sexuellen Identitäten bereits geschieht.

Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass, wie ich eingangs sagte, bei einigen studentischen Mobilisierungen die Forderung nach psychologischen Betreuungsdiensten erhoben wurde, was zeigt, wie präsent diese Art von Problemen ist, und es ist nicht meine Absicht, ein Werturteil über die Qualität der Forderungen zu fällen, die sich in den Kämpfen und Mobilisierungen bewegen (ich und meine Generation – um es mal so zu sagen – haben während der Bewegung dell’Onda im Wesentlichen für diesen Mist gekämpft, den wir Meritokratie nennen, und wir haben gesehen, wohin wir gekommen sind), aber wenn wir uns die Zeit nehmen, um nachzudenken, um den Dingen auf den Grund zu gehen, können wir uns nicht mit dem zufrieden geben, was sich bewegt: Wir müssen uns immer bemühen, weiter zu schauen, unseren Blick zu radikalisieren, um die Kritik und den Kampf noch ein wenig weiter zu treiben.

Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen. Ein Genosse, mit dem ich bei der Vorbereitung dieses Treffens gesprochen habe – Sie müssen wissen, dass die Dinge, die ich sage, immer das Ergebnis kollektiver Überlegungen sind, deren Sprecher ich lediglich bin -, hat mich vor der Gefahr gewarnt, das zu tun, was Psychologen tun. Das heißt, den direkt Betroffenen, nämlich den Jugendlichen, eine – wenn auch politische – Deutung des Symptoms, in unserem Fall der Angst, und eine einfache Lösung zu liefern, die wir in den Slogan „Lasst uns die Angst gegen die Herren wenden“ übersetzen könnten, der die Angst erzeugen kann, nicht genug zu tun.

Ich denke, dass dieser Slogan nicht so sehr unsere fertige Lösung ist, sondern vielmehr das Problem darstellt, dem wir gegenüberstehen. Vielleicht müssen wir zum Teil an der Angst festhalten, nicht zu wissen, was unsere Art der Organisation und des Kampfes ist, denn nur dann haben wir die Freiheit, zu experimentieren und Fehler zu machen, wohl wissend, dass wir nichts Neues beginnen, denn wir stammen aus der Vergangenheit.

Veröffentlicht im Oktober 2022 auf Kamo Modena, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für „Ein bisschen Angst, Jungs?“ Für eine politische Lesart des Zustands der Jugend

Mein Urlaub in Saint-Imier bei den wohlwollenden Aggressoren

Tomjo und Mitou

„Die Idealisten aller Schulen, Aristokraten und Bürger, Theologen und Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Religiöse, Philosophen oder Dichter, nicht zu vergessen die liberalen Ökonomen, die bekanntlich hemmungslose Verehrer des Ideals sind, nehmen großen Anstoß, wenn man ihnen sagt, dass der Mensch mit seiner großartigen Intelligenz, seinen erhabenen Ideen und seinen unbegrenzten Bestrebungen, wie alles andere in der Welt, nur ein Produkt der niederen Materie ist.“

Gott und der Staat, Michael Bakunin, Genf, 1882

Das in Lausanne ansässige „Journal romand d’écologie politique“ (Westschweizer Zeitung für politische Ökologie) Moins! wirbt mit der Schlagzeile „pour une écologie libertaire“ (für eine libertäre Ökologie). Die Sommerausgabe (Nr. 65, Juli/August 2023) kündigt auf dem Titelblatt „Rencontres Internationales Antiautoritaires“ an, mit denen der 151. Jahrestag des Gründungskongresses der Antiautoritären Internationale (1872) in Saint-Imier im Schweizer Jura gefeiert werden soll. Unsere Freunde in Outre-Léman veröffentlichen zu diesem Anlass ein zwölfseitiges Dossier, in dem sich verschiedene Autoren – manche mehr Anarchisten oder mehr Umweltschützer als andere – zu diesem Thema äußern. Sie sind nicht immer einer Meinung, aber auf dem Papier bleiben sie höflich. Sie sprechen nicht über das, was sie ärgert. 

Natürlich konnten sie nicht im Voraus darüber sprechen, was während des fünftägigen „antiautoritären Treffens“ (19. bis 23. Juli) in Saint-Imier wirklich passiert ist. Von diesen Rudeln queerer Angreifer, die den Stand der Anarchistischen Föderation überfielen, um unter dem neutralen und wohlwollenden Blick der Organisatoren Mitstreiter der F.A. zu bestehlen, Poster zu zerreißen, Bücher zu verbrennen, zu beleidigen und zu verprügeln. Wenn nicht mit ihrer gewundenen und bürokratischen – aber immer höflichen – Komplizenschaft. Für einen ausführlichen Bericht lesen Sie bitte weiter. Zufällig waren wir dabei. Ansonsten sollten Sie die nächste Ausgabe von Moins! nicht verpassen, die zweifellos ausführlich auf diesen Moment der realen und konkreten „libertären Ökologie“ [1] zurückkommen wird.

Zunächst muss den Leserinnen und Lesern erklärt werden, was 5000 Anarchisten aus Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Italien, Spanien, Chile, Mexiko, Kolumbien, den USA, der Türkei, Weißrussland, dem Iran, Polen, der Ukraine, Russland usw. zwischen dem 19. und dem 23. Juli 2023 in Saint-Imier tun.

Sie treffen sich, wie 151 Jahre zuvor – am 15. und 16. September 1872 – in einer Art „antiautoritärer Internationale“ (anarchistisch zu verstehen), um sich auszutauschen und zu debattieren. Nach der Pariser Kommune manövrierten Marx und Engels gegen die anarchistische Tendenz von Bakunin, die eine Mehrheit von 60 Prozent hatte, um die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) in ihre Hände zu bekommen. Die Bakuninisten widersetzten sich ihrerseits den „bürokratischen“ und „autoritären“ Machenschaften der Marxisten und ihrer mechanischen Geschichtsauffassung: Übernahme der Staatsmacht, Diktatur des Proletariats, Kollektivierung, Absterben des Staates. Die Anarchisten wurden 1871 auf dem Haager Kongress rausgeworfen und die IAA spaltete sich. Die von Bakunin, Guillaume, Reclus, Cafiero und Malatesta angeführten Anarchisten treffen sich in Saint-Imier, um ihre antiautoritäre Internationale zu gründen. Sie organisierte sich ohne ein föderales Büro, um Manöver ebenso wie sterilisierende ideologische Konflikte zu vermeiden. Lesen Sie dazu das Buch von René Berthier bei Éditions libertaires (2015), La fin de la première internationale. Berthiers Buch, über das wir weiter unten sprechen werden.

Die Atmosphäre von Saint-Imier 2023 ist ganz anders. Es handelt sich nicht mehr um einen Kongress mit internationalen Delegationen, die mit verbindlichen Mandaten ausgestattet sind und Resolutionen unterzeichnen, sondern um ein Selbstbedienungsfestival, auf dem jeder nach Lust und Laune als politischer Tourist herumspaziert. Es wird beispielsweise keine Abschlusserklärung zum Krieg in der Ukraine, zur internationalen Aufrüstung, zum weltweiten Krieg gegen die Natur oder – vor allem – zur Revolte der iranischen Frauen gegen das Kopftuch und die islamistische Diktatur geben.

Saint-Imier ist heute ein 5000 Einwohner zählendes Städtchen im Schweizer Jura, im französischsprachigen Kanton Bern. Zu den 5.000 Imériens kommen also noch 5.000 Festivalbesucher hinzu, die fünf Tage lang auf einer abschüssigen Weide hausen und von Workshops („Ateliers“, glaube ich, d. h. eigentlich Vorträge und/oder Diskussionen) zu Konzerten, Filmen und Ausstellungen an verschiedenen Orten der Stadt wandern: im Kultur- und Freizeitzentrum, im Kino, auf dem Dorfplatz, in der Eishalle, im Veranstaltungssaal und so weiter.

Am Ende des Tals fließt die Suze, die dem Enzianlikör, der im Nachbardorf Sonvillier erfunden wurde, seinen Namen gibt. Mit ihr wurden Unmengen des üblen Cocktails, den man „Suze-Boule“ nennt, Suze und Red Bull, heruntergespült.

In der Mitte dieser alten Uhrmachergemeinde befindet sich L’Espace noir, ein anarchistisches, sympathisches und gut geführtes Café, Konzert und Kino, wie meine Großmutter sagen würde, das seit 1987 geöffnet ist. Es dient als Empfangsraum für die Begegnungen. Hier geben die Organisatoren den Ankommenden Auskunft und vermitteln Freiwillige für verschiedene Aufgaben, wie zum Beispiel das Kochen. Und von hier aus wurden die Internationalen Treffen organisiert. Denn es gibt eine Organisation und Organisatoren. Anarchie ist nicht anarchisch.

Das Espace Noir ist der Ort der Libertären Bergföderation, der Ortsgruppe der Internationalen Anarchistischen Föderation. Sie war es, die die Initiative für die Treffen ergriff. Eine Koordinationsgruppe traf sich dann drei Jahre lang jeden Monat zu einem Treffen, um sie zu organisieren. Die Gruppe „Coordo“ umfasst etwa dreißig Personen, hauptsächlich aus der Schweiz, aber auch aus Frankreich und Deutschland. Im Grunde lässt sie das „föderale Büro “ der Ersten Internationalen wieder auferstehen, mit einigen Änderungen in Namen und Haltung. Aber es ist klar, dass „koordinieren“ auf „leiten“ mit einem anderen Namen hinausläuft und dass es besser ist, Teil dieser „Koordinationsgruppe“ (die kein „föderales Büro“ ist) zu sein, wenn Sie sich dafür entscheiden, den Ablauf und den Inhalt der Veranstaltung beeinflussen wollen.

Das heißt, es gibt nicht nur Macht, sondern auch Arbeit. Koordination der Untergruppen, die sich mit den Finanzen, der Logistik (Zelte, Verpflegung), der Küche, dem Programm, der Internetseite, der Buchmesse, dem Campingplatz, den Toiletten und Abfalleimern, den Ausstellungen usw. befassen. Nicht zu vergessen die diplomatischen Beziehungen mit der Stadtverwaltung und dem Kanton in Bezug auf Verkehr, Parkplätze und Abfall. Kurzum, es ist die Gruppe mit drei Stunden Schlaf pro Nacht während des Treffens, ständig gefordert, um überraschende Zwischenfälle zu bewältigen, wie die Camper, die die Bahngleise überqueren, und die Eisenbahndirektion, die ihren Dienst einstellt und mit Bußgeldern droht.

Die Veranstaltung erforderte ein Budget von 250.000 Euro und Hunderte von Freiwilligen. Die Anarchistische Föderation hat viel zur Vorbereitung beigetragen, sowohl finanziell (mindestens 10 000 Euro) als auch personell, vor allem an undankbaren Stellen wie der Buchhaltung oder den Mülltonnen. Sie finanzierte auch die Anreise von Gesprächspartnern aus Taiwan oder den Philippinen, deren Anreise und Wunsch, an diesem Treffen in der Schweiz teilzunehmen, ihre eigenen Mittel überstiegen.

Die FA stellt zwar Geld und Arbeitskräfte zur Verfügung, ist aber nicht der offizielle Organisator. Die Programmgestaltung ist „fließend“, oder „horizontal“, oder „selbstregulierend“ (wie es in der Kybernetik heißt). Zumindest von außen betrachtet. Jeder kann einen Workshop zu einem Thema seiner Wahl und auf einer digitalen Plattform vorschlagen; eine Gruppe von Organisatoren weist ihm dann einen Zeitrahmen und einen Ort zu, und das war’s. Eine Schaltfläche „Problem melden“, wie in jedem sozialen Netzwerk, alarmiert dennoch die anonyme, unsichtbare und fließende Organisation, die dann entscheidet, ob sie den Vorschlag annimmt oder nicht. So kam es beispielsweise dazu, dass der Verdacht auf „verschwörungstheoretische“ Verbindungen jede Diskussion über den autoritären Umgang mit einem autoritären Virus – Einschließung, Ausgangserlaubnis, QR-Codes, Bußgelder, Impfpass, Zwangsimpfungen, Entlassungen von Mitarbeitern etc. – bei diesen antiautoritären Treffen verhinderte.

Der Schauplatz der Verwicklungen befindet sich in der Eishalle, auf der „Bookfair“, der Buchmesse. Dort stehen von 9 bis 19 Uhr etwa 60 Pressetische: die der anarchistischen oder gleichwertigen Föderationen aus Frankreich, Italien, Spanien, der Schweiz und Kroatien; die der spanischen und französischen CNT-Gewerkschaften; die von Buchhandlungen, Verlagen und mobilen Infokiosken. So viele Anarchos in einem geschlossenen Raum, da sind Reibungen unvermeidlich. Nun, „Anarchisten“ ist schnell gesagt. Bereits im Vorfeld des Festivals äußerten sich die Inklusionisten in ihrer transinklusiven Neusprache und im Internet besorgt über die geringe Aufmerksamkeit, die der „Zugänglichkeit für fragile Menschen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und/oder immungeschwächte Menschen“, ganz zu schweigen von ‘neurodivergenten Menschen’“, gewidmet wurde. Insbesondere im Hinblick auf Covid (!), das seit Monaten ruht, aber man kann ja nie wissen.

Und was ist mit den vielfältigen Ansteckungen, die jede Zusammenkunft von Lebewesen immer mit sich bringen kann. Unsere Inklusionisten haben daran gedacht. Ist das Leben gefährlich? Dann eliminieren wir das Leben. Ihnen zufolge wäre der „ausschließlich in ‚Präsenz‘ stattfindende Rahmen“ „per definitionem validistisch“ [2]. Selbst Google Translate ist daran gescheitert, dies in irgendeiner menschlichen Sprache wiederzugeben – aber es muss sich doch für eine M2M-Kommunikation kodieren lassen. Man sieht von Anfang an, dass diese sogenannten „Anars 4.0“ in Wirklichkeit Avatare der „virtuellen Realität“ sind, die nichts mit dem zu tun haben, was die Anarchie einmal war, sagen wir von … 1840 (Proudhon) bis zu La mémoire des vaincus (Michel Ragon, 1989). Ergo Agenten der technologistischen Partei [3].

Die unglückliche Anarchistische Föderation (paye, bosse et ferme ta gueule) wurde bereits vor Beginn des Treffens mehrfach im Koordinierungsausschuss wegen ihrer Opposition zur antispeziesistischen Ideologie angegriffen. Bereits beim Treffen 2012 drehte sich der Streit um die Ernährung der einen und der anderen Seite, und es kam bereits zu körperlichen Angriffen von „Antispeziesisten“. In diesem Jahr hätte man Konflikte um die „Trans“-Frage erwarten können, die in den letzten Monaten so sehr in den Medien präsent war. Diesmal war es im Namen der Religion, dass die Queers die Mitglieder der F.A. körperlich und auf andere Weise angriffen.

Ja, schließlich haben wir nach den neuesten Erkenntnissen ihrer Theologen tatsächlich einen Gott und einen Meister. Auch wenn wir nicht über die Armen im Geiste lachen sollten, die uns zu den Debatten der Jahre 1830-1850 zurückbringen; als die junge Arbeiterbewegung und ihre Denker sich aus der religiösen Entfremdung rissen, um sich ihre eigene menschliche und soziale Macht wieder anzueignen. Aber sind Queers Anarchisten? Auch junge Anarchisten? Sind sie heutige Anarchisten? Oder eher Anti-Anarchisten und die letzten Ausgeburten der Konsumgesellschaft, deren kleinste Wünsche das Gesetz für alle sein sollen?

Da die Suze unseren Beobachtungsgeist anregt, haben wir die anwesenden Stämme anhand ihrer Outfits untersucht. Es überrascht nicht, dass die drei wichtigsten die bärtigen Anarchos, die Punks mit Hunden (oder mit Hunden.x.nes, um sie nicht durch falsche Angaben zu verärgern [4]) und die Queers mit Trainingsanzügen sind, die bei weitem am zahlreichsten sind und sich in Form von Queer-Camping, Queer-Lunch und Queer-Party organisieren. Diese wiederum unterteilen sich in rassifizierte und biologische Unterscheidungen („rassisierte“ Queers, Trans, neuro-atypische Queers, Fat & Queer usw.) – unsere Studie hat weder „bürgerliche Queers“ noch „proletarische Queers“ gefunden, um den veralteten Unterscheidungen der Boomers zu folgen.

Queer, so werden die AngreiferInnen später genannt, und so nennen sie sich auch selbst (da sind wir uns zumindest einig); obwohl manche sie die Postmodernen, die Intersektionalen, die Wokes, die Wohlwollenden, die Dekonstruierten nennen – oder sogar die Iels oder La Cinquième Colonne France Inter, aber das ist ein bisschen zu lang. Sie zusammenzufassen ist trotz ihres Amphigourismus recht einfach. Es handelt sich um Aktivistengruppen, die den den modernen Künstlern, Philosophen und Forschern der „Sozialwissenschaften“ nachfolgen, die seit vierzig Jahren darauf herumreiten, dass :

1. Die historischen „Meta-Erzählungen“ (Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Fortschritt) sind ihrer Meinung nach des heteronormativen weißen kolonialen Universalismus schuldig. Stattdessen sollen die individuellen und gemeinschaftlichen, subjektiven und spezifischen Mikro-Erzählungen von Schwarzen, Frauen, Schwulen, Transgendern, Tieren usw. in den Vordergrund rücken. An die Stelle der großen materiellen Errungenschaften und der Revolution treten Mikrowiderstände „für Rechte“, insbesondere für die Anerkennung.

2. Da der Betrachter das Werk macht (in der zeitgenössischen Kunst), die Geschichte und die Sprache durch die Mühle der Dekonstruktion gedreht werden (in der Philosophie) und alles Wissen situiert ist (in den Sozialwissenschaften), ist nichts mehr dauerhaft, abgegrenzt oder endlich, sondern alles ist dank der Macht des Geistes und der Technologie fließend und kontinuierlich (Arten, Gattungen, Formen, Räume, Fakten).

Man kann gar nicht genug betonen, wie verheerend der dialektische Pseudo-Materialismus, gewürzt mit Nietzscheanismus nach Art der French Theory, ist, aus dem diese Unzulänglichkeiten hervorgehen. Oder wie der Kampf gegen den „Essentialismus“ als Deckmantel für die Zerstörung der Sprache und des Denkens dienen kann. Aber wie erklärt man Menschen mit mentaler Behinderung, dass Wahn und Wahnsinn existieren – unabhängig von jeglicher subjektiver Böswilligkeit – und dass jede Idee, die bis zum Äußersten getrieben wird, egal wie richtig sie ist, verrückt wird.

Care-Ethik, rechte Politik

Inmitten der „kulturellen“ Stämme und der Arbeitsgruppen patrouillieren neonpinkfarbene Westen, auf denen das Wort „Care“ steht. Es sind die Westen des „Care-Teams“, was man eher mit „Team Wohlwollen“ als mit „Care-Team“ übersetzen sollte. Eine Gruppe von 10-12 eher jungen Leuten, die sich selbst die Macht gegeben haben, eine Charta der guten Gefühle durchzusetzen, die sie selbst geschrieben haben und in deren Namen sie die FA auffordern werden, den Ort zu verlassen. Es ist nicht bekannt, wer diese Mitglieder des „Team Care“ sind, wie sie ernannt wurden und wie sie sich solche Vorrechte, die in einem milden Licht dargestellt werden, aneignen konnten.

Das Hauptquartier von Team Care heißt zunächst „Safe Space“, der bald in „Safer Space“ umbenannt wurde – man kann nie zu bescheiden sein. Ein Raum, in dem man sich in Sicherheit bringen, reden und einen Kaffee trinken kann. Das Team Care ist weder ein Ordnungsdienst (zu maskiert!) noch eine „Kommission Gelassenheit“. Es plappert wie eine synthetische Stimme den queer/postmodernen Diskurs des „Wohlwollens“ gegenüber vordefinierten Kategorien von „Beherrschten“ nach. Auf ihren Plakaten in der ganzen Stadt war Folgendes zu lesen:

„Die Mission des Care-Teams ist es, zu versuchen, Bedingungen zu schaffen, die es den Teilnehmerinnen ermöglichen, sich wohl zu fühlen, damit die Veranstaltung für alle in einer angenehmen Atmosphäre stattfindet.

Ihre Hauptaufgaben sind die Prävention, das Aufspüren und der Umgang mit unangenehmen Situationen, Konflikten, Belästigungen oder Diskriminierungen, seien sie sexistischer, transphober, rassistischer, exotisierender, validistischer, fettfeindlicher, klassifikatorischer Natur oder jede andere Handlung, die systemische Diskriminierungen reproduziert. Das Care-Team ist kein Polizist, kein Richter, kein Erziehericex oder Psychologe.

Aber Verhaltensweisen, die den Werten der Organisation zuwiderlaufen, werden mit dem Ziel aufgegriffen, sie zu beenden, indem Diskussion und Reflexion gefördert und Ausgrenzung (die dennoch möglich ist) so weit wie möglich vermieden wird.

Care ist eine politische und kollektive Angelegenheit und wir zählen auf Sie, dass Sie sich fröhlich daran beteiligen!“

Es fängt nicht gut an. Trotz ihres Karnevals der Dementis, der sie eher denunziert als rechtfertigt, ähnelt das Team Care einem Team von Wachleuten. Ein bisschen Polizei, ein bisschen Richter. Das Care-Team „erkennt“ und „warnt“ bis hin zu banalen „unangenehmen Situationen“, gemäß „Werten“ und „systemischen Diskriminierungen“, die nur es selbst bestätigt hat. – Allein, nein. Sie ist die legale und moralistische (aber usurpierte und klandestine) Macht der Queer-Fraktion auf diesem Treffen, bei dem sich letztlich nur wenige Anarchisten versammeln – selbst wenn man die Hundepunks mitzählt, was sehr gewagt ist. Viele der Teilnehmer bekennen sich eher zu einem anarchistischen Lebensstil als zu anarchistischen Aktionen, deren Geschichte und Autoren sie in der Regel nicht kennen.

Ein Zeichen für die ideologische Formatierung und Agenda war, dass das Team Care am letzten Abend, als ein Sturm über das Tal fegte und in der nahegelegenen Stadt ein Mensch ums Leben kam, nicht bei den Campern war. Oder die Mitglieder hatten ihre Ombrophobie nicht ausreichend dekonstruiert (ja, ja, das gibt es. Phobie vor Blitzen, Donner usw.).

Die Stimmung in Saint-Imier ist eher von Verbotslisten und der Überwachung von Worten und Verhaltensweisen geprägt, als von der Förderung des freien Ausdrucks von Ideen und Wünschen. Ein Schild des Küchenteams fordert die Gäste an den Tischen auf: „Please, wear a shirt. Solange das Patriarchat nicht abgeschafft ist, gibt es ein Ungleichgewicht zwischen dem, wer oberkörperfrei sein darf und wer nicht. Please respect the kitchen!“.

Was wäre die richtige Korrektur dieses Ungleichgewichts, die libertäre und subversive Korrektur? Diejenige, die seit Jahrzehnten in FKK-Anlagen praktiziert wird, oder zumindest diejenige, die in den linken Versammlungen der 1970er Jahre praktiziert wurde. Männer oder Frauen, wer will, badet nackt und läuft in Unterhosen herum. Ein Hemd ist besser, damit man nicht in den Schüsseln und Tellern schwitzt. Doch die Prüderie der Queers hat eine verborgene Funktion: Sie fördert die Rückkehr und den Fortschritt jener patriarchalischen Vorstellungen, die sie angeblich hochgradig anprangern.

Queers sind keine Pfarrer, weil der katholische Apparat nicht mehr genug Macht hat, um sie anzulocken. Aber ihre Fatwa-Manie zeigt genug von ihrer Gefügigkeit gegenüber der islamistischen Despotie, wie wir weiter unten sehen werden. Ihr Traum ist die Leitung des Ministeriums für die Förderung der Tugend und die Unterdrückung des Lasters, wie in Rakka, Afghanistan und dem Iran, mit einer mit Stöcken bewaffneten Sittenpolizei und Patrouillen von Polizistinnen, die Hallal-Kleidung durchsetzen sollen.

Ein weiteres Beispiel. Eines Nachts taucht an den Wänden ein Slogan auf, der lautet: „White hippies, cut your dreads off“ (Weiße Hippies, schneidet eure Dreads ab). Es folgt eine ernste, aufgeblasene Versammlung, um die Frage zu entscheiden – eine Frage, die jeden normal denkenden Menschen so wenig interessiert wie das letzte Haarfärbemittel des letzten Influencers. Ein weißer, englischsprachiger Bürgerwehrler fordert ohne mit der Wimper zu zucken: „We urge white people to cut their dreads off“ (Wir fordern weiße Menschen auf, ihre Dreads abzuschneiden). Nach Diskussionen und Beratungen entscheidet das Team Care – und mit welchem Recht entscheidet es? – dass es rassistisch ist, Zöpfe zu tragen, wenn man weiß ist. Es sei „kulturelle Aneignung“ – obwohl Gallier, Ägypter, Franken, Wikinger und Indianer „lange Haare in Form eines Seils“ trugen und sogar der Bruder von Jesus selbst, Jakobus der Gerechte, knöchellanges Haar hatte.

Johnny Clegg, der weiße Zulu, der als Teenager gegen die Apartheid mit den schwarzen Angestellten auf dem Dach seines Wohnhauses singen und tanzen gelernt hatte? – Ein Rassist.

Diese Art der „Wiederaneignung“ könnte zu merkwürdigen Konsequenzen führen. Das Wort „braies“, das Hosen bezeichnet, ist eines der wenigen gallischen Wörter, die die Jahrhunderte überdauert haben. Stellen wir uns vor, die Gallo-Nachfahren würden für sich selbst das ausschließliche Tragen dieser Braies/Hosen verlangen, die typisch für eine 2000 Jahre alte Kultur sind; und sie würden von allen nicht-gallischen Trägern das Abschneiden dieser missbräuchlich getragenen Hosenbeine verlangen.

Wie auch immer. In der Debatte über weiße Hippies taucht der kühne Vorschlag auf, dass „Menschen, die Opfer von Unterdrückung sind und Awareness [politische Aufklärung, wie es in den puritanischen schwarzen Kirchen der USA heißt] betreiben, für ihre Arbeit der Bewusstseinsbildung bezahlt werden sollten“. Daraufhin beschwert sich eine „Transfrau“, dass sie mikroaggressiv behandelt wurde, weil sie an ihre biologische Identität als Mann erinnert wurde. In solchen Momenten greift das Care-Team ein, bewaffnet mit seiner „5D-Methode“ zur Lösung von „Problemsituationen“: Ablenken, Delegieren, Dokumentieren, Führen, Dialogisieren.

Ihr Hinweis Button „Ich bin aktiver Zeuge“ demonstriert überall die Verfahren für „Wohlwollen auf Partys“ und „Einverständnis“. Zum Beispiel: „Informiert: Ich informiere meinen Partner über die Risiken (STI, Schwangerschaft…), die mit sexueller Aktivität verbunden sind.“ Oder: „Eine bestimmte sexuelle Aktivität zu wollen, bedeutet nicht, allen sexuellen Aktivitäten zuzustimmen (mein Partner kann mich küssen wollen, ohne etwas anderes zu wollen)! Ich frage vor jeder sexuellen Aktivität, die ich unternehme, ob meine Partnerin oder mein Partner Lust darauf hat.“

Wenn man danach noch in Saint-Imier kopuliert, dann aus Versehen, mit starken Angst- und Schuldgefühlen. Oder aber mit dem Klang des Kuckucks und einem dicken Bündel von Anerkennungsformularen.

Kaczynski, der berühmte industriekritische Bombenleger, und einige andere nach ihm haben diese Tendenz der progressiven Linken zur „Übersozialisierung“ hervorgehoben. Dieser unendliche und als positiv betrachtete Fortschritt in Richtung einer immer stärkeren Übernahme und Regulierung der intimsten Aspekte unseres Lebens durch die Gesellschaft und den Staat [6].

Ich war nicht bei der Versammlung zum Thema weißer Hippismus, aber eine libertäre feministische Freundin hat mir davon erzählt. Als sie die Versammlung verließ, begegnete sie einem weißen Pimpf, der wahrscheinlich per Podcast Express radikalisiert worden war: „Nee, aber das ist hier das Festival der Unterdrückung, es gibt nur Weiße! Anscheinend gibt es sogar Betroffene, die Aufklärungsarbeit leisten mussten, ich fasse es nicht, das ist nicht ok, verstehst du!“

Ich sehe eher eine Messe der Gefühle als ein Festival der Unterdrückung. Jeder hat sein eigenes Gefühl, sein eigenes kleines Gefühl, das winzig und uninteressant ist, das man aber überall zur Schau stellt und in dessen Namen man nach Sichtbarkeit, Zuhören und Rechten verlangt. Wird in einem Workshop „Reclaim emotions“ nicht Folgendes untersucht

„die politische Bedeutung von Emotionen und wie sie unseren Aktivismus, unsere kollektive und persönliche Resilienz unterstützen. […] Emotional alphabetisiert zu werden, ermöglicht es uns, Transformationsstrategien und kritische Praktiken der Selbstfürsorge zu entwickeln, um einem militanten Burnout vorzubeugen und regenerative Strukturen aufzubauen.“

Durch Wohlwollen und Care rutschen die Workshops in Richtung Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, wenn nicht sogar New-Age-Guruware. Ein „Gemischter Gesprächskreis NeuroAtypisch/Psychiatrisierte [befasst sich mit] unserer Beziehung zu militanten Kreisen und anarchistischen Gemeinschaften“. Eine weitere Diskussion über „Die Notwendigkeit psychoemotionaler Selbstverteidigung“ will „verinnerlichter Dominanz und Unterwerfung begegnen“. Während eine Diskussion über die Verwüstungen von STMicroelectronics, einem Mega-Halbleiterunternehmen, nur mit Mühe elf Personen zusammenbringt, versammeln sich ein paar Meter weiter rund 60 Personen zu einem Workshop „Somatische Resilienz“ – bitte Yogamatte mitbringen:

„‚Care‘ als subversive sozio-politische Waffe einsetzen. Radikale Care-Prozesse sichtbar und praktikabel machen, um sich an Praktiken zu erinnern, die ‘die Fortführung und Erhaltung des Lebens’ ermöglichen, wie die radikale Philosophin Joy James sagt. Dieser immersive Workshop lädt die Teilnehmerinnen ein, sich selbst gegenüber in einer ganzheitlichen Erkundung von Care zu verpflichten, aber auch einander gegenüber.“

Wir haben einige gesehen, die über ihre Mikrorückmeldungen geweint haben: „Mein Freund wollte an diesem Workshop teilnehmen [erste Tränen], und ich wollte einen anderen sehen [ruckeln], aber gleichzeitig wollten wir uns nicht trennen [schniefen], also gab es Spannungen zwischen uns … und blablabla, „allgemeine Heulerei, wir nehmen uns in den Arm, wir unterstützen uns psycho-emotional, und wir nebendran … nein, erwarten Sie nicht von mir, dass ich zugebe, dass wir in Gelächter ausbrechen.

Ich überspringe den Workshop „Erwachsenenherrschaft“, der zur gleichen Zeit stattfand wie der Workshop über weißrussische Anarchisten, die in Gefängnissen gefoltert werden (jeder hat seine eigenen Sorgen), und den Workshop über „Gewalt innerhalb der Gemeinschaft und Call-Outs“, die bei mir kein übermäßiges Interesse weckten. So mikroskopisch klein sie auch sein mögen, „Aggressionen“, „Traumata“ und „Gewalt“ nehmen einen so großen Raum ein, dass sie schließlich ein Klima des Misstrauens schaffen. Die Ironie ist jedoch, dass diese „Care“-Schwachsinnigkeit eine rechte Ideologie ist, die theoretisiert wurde, um die soziale Frage zu entpolitisieren und zu individualisieren und Solidarität in Nächstenliebe und gute Gefühle zu verwandeln. In Ermangelung eines Workshops über die „Care“-Ideologie, von der wir nicht wissen, wie sie sich hier durchgesetzt hat, ist es notwendig, daran zu erinnern, woher sie kommt und wie sie 2010 in Frankreich zu einem politischen Programm geworden ist.

Die Behauptung, dass eine „Ethik von Care“ ein politisches Programm ausfüllen könnte, ist Martine Aubry (IEP-ENA) zu verdanken, als sie das Amt der Ersten Sekretärin der Sozialistischen Partei bekleidete, die damals angesichts der von Nicolas Sarkozy vorgeschlagenen Rentenreform ideologisch völlig verunsichert war. Aubry veröffentlicht ihren Vorschlag am 2. April bei Mediapart, um „links“ zu wirken:

„Die Gesellschaft des Wohlstands erfordert auch eine Veränderung der Beziehungen der Individuen untereinander. Wir müssen von einer individualistischen Gesellschaft zu einer Gesellschaft der „Care“ übergehen, nach dem englischen Wort, das man mit „gegenseitige Fürsorge“ übersetzen könnte: Die Gesellschaft kümmert sich um Sie, aber Sie müssen sich auch um die anderen und die Gesellschaft kümmern.“

Das ist verzwickt. Man spürt bereits, dass Aubry das Rentensystem nicht mit Zähnen und Klauen verteidigen wird. Die Bürgermeisterin von Lille plädiert für eine „Gesellschaft des Wohlbefindens und des Respekts, die sich um jeden Einzelnen kümmert und die Zukunft vorbereitet“. Süßlich. Aubry weigert sich, einer „Politik der Fürsorge“ nachzugeben – da haben wir’s – und zieht es vor, „die Mittel zu geben, um sich zu bilden und weiterzukommen“.

Natürlich „wird man all dies nicht erreichen, ohne Wohlstand zu schaffen, ohne wirtschaftlich innovativ zu sein“, ohne „eine große Innovationspolitik, eine Industriepolitik rund um Exzellenzzentren.“ Ist die Flucht nach vorn in der Technologie und das gegenseitige Wohlwollen nicht ein queeres Programm?

Die erste Sekretärin der Sozialisten beharrte einige Tage später in einem von Le Monde veröffentlichten Beitrag auf ihrem Standpunkt: „Vergessen wir nie, dass keine Sozialleistung die Ketten der Fürsorge, die Solidarität in Familie und Freundeskreis und die Aufmerksamkeit der Nachbarn ersetzt [7].“ Weg mit dem Wohlfahrtsstaat, Care ist billiger.

Diese Tribünen sollen die Sozialistische Partei intellektuell „neu beleben“, die im Jahr 2010 bereits seit 30 Jahren ihre sozialdemokratischen Ansprüche abgeworfen hat: entweder indem sie die Arbeitnehmer durch internationale und europäische Verträge gegeneinander ausspielt – wir verdanken Jacques Delors, dem Vater von Martine Aubry, 1986 die Einheitliche Europäische Akte, die den Binnenmarkt begründete – oder indem sie Wirtschaftssektoren liberalisiert und ihre öffentlichen Unternehmen verkauft, vor allem unter der Regierung Jospin (1997-2002), der Aubry angehörte.

Aubry ist wie ihr Vater eine christliche Sozialtechnokratin. Ihre wohltätigen Neigungen ersetzen den Kampf gegen Ausbeutung und Entfremdung durch den Kampf gegen „Armut“ und „Ausgrenzung“, die heute zu Kämpfen gegen „Dominanz“, „Diskriminierung“, „Gewalt“, „Aggressionen“ und „Mikroaggressionen“ geworden sind. An die Stelle des Gegensatzes Ausbeuter/Ausgebeuteter setzen sie die moralischen und inkonsequenten Gegensätze Reich/Arm, Dominant/Dominiert, Angreifer/Opfer. Der Widerspruch zwischen dem bösen, dominanten Aggressor, der bewusst gemacht, umerzogen und aufgeweckt werden muss, und dem armen Opfer, das gehört, unterstützt und ermutigt werden muss.

Kurz gesagt: die Umgestaltung der Gesellschaft nicht mehr durch den politischen Kampf gegen die Macht, sondern durch die Ausweitung des Bereichs des zwischenmenschlichen – wenn nicht sogar unpersönlichen – Wohlwollens. Ein Freund, der in der Psychiatrie arbeitet, erzählt mir seine mittlerweile klassische Geschichte von der jungen Personalleiterin, die frisch von der Wirtschaftsschule kommt und gelandet ist, um den Kostenkiller zu spielen. Ein paar Stunden hier, ein kleines Budget dort, und jede harmlose Nascherei belastet schließlich die Qualität des Service. Ist der Service erst einmal verschlechtert und das Unwohlsein weit verbreitet, werden den Beschäftigten Schulungen zum Thema „Validismus“ angeboten. So verschlechtert sich also der Service nicht wegen der Lohnpolitik, sondern wegen der Fehlenden in den Kursen über Fürsorge.

Die Idee der Fürsorge als politischer Vorschlag ist Martine Aubry seit dem von ihr 2008 gegründeten Laboratoire d’Idées Socialistes (LIS) und insbesondere dank der sozialistischen Philosophin Fabienne Brugère, Ritterin der Ehrenlegion und Leiterin der Collection „Care studies“ bei den Presses universitaires de France, zu Kopf gestiegen.

Aber man kann die Genealogie noch tiefer ausgraben. Die Zeitung Marianne titelte am 19. April 2010, zwei Wochen nach Aubrys Interview mit Mediapart: „Comment Martine Aubry se blairise“ (Wie Martine Aubry sich blairisiert), in Anspielung auf den englischen Premierminister Tony Blair. Die Idee von Care in der Politik sei von den Labour-Schurken aus der Zeit Tony Blairs, diesen Verrätern an den Arbeitern, die weder rechts noch links, sondern progressiv („avantistes“, geradeaus) geworden seien, ausgebrütet worden.

Am 14. Mai 2010 sah Le Monde genauer die Handschrift des „Strategen von Tony Blair“ Anthony Giddens, eines „utopisch-realistischen“ Soziologen, der die London School of Economics (das englische Pendant zu Sciences-Po) leitet und 1994 Au-delà de la gauche et de la droite und 1998 La Troisième voie verfasst hat. Es ist klar, worauf er hinaus will. Giddens will den „altmodischen“ Wohlfahrtsstaat (Welfare state), den die Labour Party seit einem Jahrhundert vertritt, durch „Armutsbekämpfung“ und „aktives Vertrauen“ zwischen den Menschen ersetzen, um ihre „Autonomie“ zu gewährleisten [8].

Wenn man noch tiefer in die Materie eindringt, landet man – wenig überraschend – in den USA, der Heimat von Management, Coaching und Empowerment. Die „Politik von Care“ wurde von der Feministin Joan Tronto, Professorin für politische Theorie an der New York University, in ihrem 1993 erschienenen Buch Un monde vulnérable, pour une politique du care (Eine verletzliche Welt, für eine Politik der Fürsorge) theoretisiert. Die französische Übersetzung erschien erst 2009, natürlich im Verlag La Découverte.

Vier Jahre zuvor, 2005, hatten die sozialistische Philosophin Sandra Laugier und die Soziologin Patricia Paperman bereits Le souci des autres. Éthique et politique du care, aux Éditions de l’EHESS, veröffentlicht. Und vor allem die amerikanische Philosophin und Psychologin Caroll Gilligan, Professorin in Harvard, Cambridge und New York; Begründerin der „Ethik“ des Care im Jahr 1982 mit dem Buch In a different voice, – Für eine Ethik der Care[ 9]. Ihr Buch war so erfolgreich, dass das Time Magazine Gilligan 1996 als eine der „25 einflussreichsten Persönlichkeiten Amerikas“ einstufte. Das zeigt, dass die Idee des Care das Establishment bedroht. Oder „den Kapitalismus“. Jedenfalls tröpfelt es.

Gegenüber wem soll sich diese Ethik des Care genau manifestieren? Die Genealogie der Fürsorge führt uns wieder zurück zur Sozialistischen Partei, genauer gesagt zu dem berühmten Bericht des para-sozialistischen Think Tanks Terra Nova aus dem Jahr 2011, „Welche Wählermehrheit für 2012?“, der von dem Strauss-Kahnianer Olivier Ferrand (HEC-ENA) mitverfasst wurde[10]. Diesem Bericht zufolge ist..

„die historische Koalition der Linken, die sich auf die Arbeiterklasse konzentriert, ist im Niedergang begriffen. Aber es entsteht eine neue Koalition. Sie zeichnet eine neue soziologische Identität der Linken, das Frankreich von morgen, gegenüber einer Rechten, die das traditionelle Frankreich behütet.“

Hat die Arbeiterklasse oder die Linke den anderen im Stich gelassen? Terra Nova weicht der Frage aus, die Antwort ist offensichtlich. Anstatt die Arbeiterklasse durch den von ihr geforderten „wirtschaftlichen und sozialen Protektionismus“ zurückzugewinnen, überlässt die Linke, die sich der techno-liberalen Globalisierung verschrieben hat, die Arbeiterklasse bedenkenlos der extremen Rechten [11]. Diese „progressive“ (avantiste) Linke beschließt, eine neue Wählerschaft zu erobern, und zwar nicht auf der Grundlage eines Verständnisses der neuen materiellen Machtverhältnisse, die beispielsweise durch technologische Innovationen, die europäische Integration und die Globalisierung des Handels entstanden sind, sondern durch eine „Wertestrategie“, die sich auf „kulturelle Fragen“ konzentriert:

„Akademiker“, deren „kulturelle Werte“ „freie Sitten, Toleranz, Offenheit für kulturelle Unterschiede, Akzeptanz von Einwanderung …“ sind;

„Die Jugend“, die per Definition progressiv ist;

„Minderheiten und Arbeiterviertel“, darunter „französische Migranten“ (außer Asiaten, die zu „antikommunistisch“ sind) ;

„Frauen“ und „Nicht-Katholiken“, da diese „Außenseiter“ das existenzielle Ziel haben, „die gläserne Decke zu durchbrechen“;

„Die Städter“, die per Definition urbaner sind.

Wohlwollen und „Intersektionalität“ (noch ein amerikanisches Konzept [12]), so lautet das neue politische Programm der Linken: Zuhören, Einfühlungsvermögen, Toleranz, Trost … für Minderheiten, Opfer, Ausgegrenzte, Arme, Beherrschte, und warum nicht auch für nichtmenschliche Tiere, wenn Sie grüne „Werte“ haben. Und warum nicht auch für Roboter, Künstliche Intelligenzen und Cyborgs, wenn Sie transhumanistische Werte haben.

Dieser alberne und giftige Brei wurde so gut gegen emanzipatorische Ideen gestreut, dass es vielen unmöglich erscheint, Politik anders zu machen als auf der Grundlage von „Minderheitenerzählungen“ und ihrem „situierten Wissen“, die zu bizarren „systemischen Unterdrückungen“ zusammengepresst werden.

So hat die wohlmeinende, gutmenschliche, gut praktizierende Moral die Politik verdrängt, zuerst in den Kreisen der progressiven, christlich geprägten Linken, bevor sie bei ihren queeren Anhängern durchsickerte. Voller Moral und Tugend haben diese Eiferer wiederholt den Stand der Anarchistischen Föderation angegriffen.

Da wir gerade dabei sind, und damit wir uns richtig verstehen: Zwischen dem sozialistischen Wohlfahrtsstaat und der liberalen Fürsorge muss man sich nicht entscheiden, wenn man an „antiautoritären Treffen“ teilnimmt.

Der Wohlfahrtsstaat, d. h. die allgemeine Sozialversicherung (Familien-, Kranken-, Arbeitslosen- und Rentengeld), ist weniger eine Errungenschaft der kommunistischen Linken – was immer sie auch behaupten mag – als vielmehr das Ergebnis eines industriegesellschaftlichen Konsenses.

Dieser Konsens wird zunächst gegen die wechselseitige Selbstorganisation der Arbeiter aufgebaut. Dann entwickelt er sich im paternalistischen und christlichen Rahmen von Arbeitgebern, die sich von der wohlwollenden Einstellung und der guten Reproduktion ihrer Arbeitskräfte überzeugen. Überzeugt von der Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891: Jede der beiden Klassen, die Eigentümer und die Enteigneten, hat Rechte und Pflichten gegenüber der anderen. So schützen sich die Bosse vor jenen „Sozialisten“, die „den eifersüchtigen Hass der Armen gegen die Reichen schüren“ und „behaupten, dass jegliches Eigentum an Privateigentum abgeschafft werden muss“. Gemeineigentum sei nicht nur unnatürlich, sondern würde auch dem Unternehmungsgeist schaden. Der Staat hat sich nicht zufällig mit der göttlichen Vorsehung geschmückt.

Industriegesellschaftlicher Konsens auch weiterhin. Die Verordnungen vom 4. und 19. Oktober 1945 zur Einführung der allgemeinen Sozialversicherung wurden von einer gaullistisch-kommunistischen Regierung und von einem Minister für Arbeit und soziale Sicherheit, Alexandre Parodi, unterzeichnet, der de Gaulle nahestand. Entgegen dem Mythos, der 2016 noch durch La Sociale, den Film von Gilles Péret, verbreitet wurde, kam der Kommunist Ambroise Croizat aus Grenoble erst in der nächsten Regierung als Nachfolger von Parodi hinzu. Er sollte die Verordnungen zusammen mit einem gewissen Pierre Laroque umsetzen, einem reinen Technokraten, der von 1944 bis 1951 Generaldirektor der Sozialversicherung war und ebenso wie er, wenn nicht sogar mehr als er, die Legitimität des Titels „Gründungsvater der Sozialversicherung“ besaß. Laroque war an der Ausarbeitung der Sozialversicherungsgesetze von 1930 und 1932 beteiligt, arbeitete im Kabinett des Arbeitsministers mit und beteiligte sich an den Diskussionen der ersten Vichy-Regierung über das Gesetz, mit dem am 14. März 1941 die umlagefinanzierte Rente und die Mindestaltersrente eingeführt wurden.

Dennoch gibt es einen Kampf zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat um die Vereinheitlichung der Kassen und ihre Verwaltung, die Höhe der Leistungen und die Beitragssätze [13]. Diese Verordnungen fallen jedoch mit den Plänen zur Modernisierung der Industrie von Monnet und De Gaulle zusammen. Diese Pläne, die zum Beispiel in den Kohlebergwerken, die verstaatlicht und von der Kommunistischen Partei und der CGT mitverwaltet wurden, den Akkordlohn und die Sonntagsarbeit wieder einführten, den Höllentakt („die 100 000 Tonnen“) erhöhten, Streiks brachen und zu einer Vervielfachung der Silikosefälle führten [14].

Der Wohlfahrtsstaat erkauft sich die Beteiligung der Arbeiter an seinem verhängnisvollen Projekt, indem er sie für die industriellen Kalamitäten, die er ihnen zufügt, entschädigt.

Die Anarchisten verteidigen seit dem 19. Jahrhundert die Autonomie und fordern die Abschaffung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen besitzenden Unternehmern und enteigneten Arbeitern. Selbstproduktion, Selbstversorgung, Selbstverwaltung. Dazu haben die radikalen Umweltschützer, insbesondere Illich, die Kritik an der Heteronomie, der technischen und hierarchischen Arbeitsteilung zwischen Technokraten und Ausführenden hinzugefügt.

Diese Autonomie des Lebens und Denkens ist die nicht verhandelbare Grundlage, auf der freie und menschliche Beziehungen gewebt werden können. Sie ist das Gegenteil der von Queers und Care-Aposteln angestrebten Forderung nach Staat und technologischer Betreuung, für die die soziale Transformation durch die Einführung einer Gesellschaft des Wohlwollens gewonnen wird, die aggressiv die Konformität des individuellen Verhaltens untersucht. Deshalb sind Queers so wissbegierig, so schnippisch, sobald sie einen Fuß in eine linke Gruppe setzen. So autoritär. Fragen Sie die Aussteiger von Sud Éduc, Planning familial oder Act-Up.

Intellektuelle Sturmabteilungen

Die Szene spielt sich rund um den Stand der Groupe Kropotkin der Fédération anarchiste (F.A) ab, der Gruppe aus Laon im Departement Aisne. Es gibt keine andere französischsprachige F.A.-Gruppe und die Pariser Buchhandlung Publico ist nicht anwesend, ihr Stand repräsentiert gewissermaßen die gesamte Föderation.

Der erste Tag. Am Freitagmorgen stoßen zwei „Menschen mit Vulva“ auf das Buch „Ein Schleier über der Sache der Frauen“ von René Berthier, unserem Spezialisten für die antiautoritäre Internationale. Sie fordern, dass das Buch aufgrund der biologischen Begründung zurückgezogen wird, dass es von einem weißen Cis-Mann geschrieben wurde, der sich nicht über den Schleier äußern dürfe. Ablehnung durch die FA, die eine kontradiktorische Debatte vorschlägt. Die Anklägerinnen, die selbst der „kaukasischen Rasse“ angehören (da sie so sehr von der Rasse besessen sind), lehnen dies ab und entgegnen, dass man Religionen, außer dem Islam, kritisieren dürfe, da man den „Beherrschten“ gegenüber wohlwollend sei. Eine von ihnen kommt zurück, flankiert von zwei anderen Frauen (zumindest auf den ersten Blick). Sie klauen die Bücher und laufen weg, um sie zu zerreißen. Ab diesem Zeitpunkt, so bemerkte der Freund mit der unübertroffenen Weitsicht, „wird es in der Suze beschissen“.

Am Nachmittag marschieren mehrere Dutzend Personen am Stand vorbei, um sich über Berthier aufzuregen. Eine vermummte Meute stürmte grölend heran und warf den Tisch um. Die Angreifer haben es nun auf ein anderes Buch abgesehen, das von Hamid Zanaz im Verlag Éditions libertaires unter dem Titel L’impasse islamique veröffentlicht wurde und 2008 ein Vorwort von Michel Onfray erhielt, dem vorgeworfen wird, islamfeindlich und rassistisch zu sein. Es ist nicht nur sinnfrei, die F.A. Leute am Stand über Onfrays Rechtsruck seit 2008 zu belehren, zudem ist das Vorwort lediglich eineinhalb Seiten lang. Die Reaktionen, egal was man vom Onfray des Jahres 2008 hält, erweisen sich sofort als unverhältnismäßig.

In diesem Sumpf beschweren sich die Mitglieder der F.A. bei den „Organisatoren der Messe“ über die mangelnde Sicherheit für Bücher und Personen. Ist die Bookfair nicht sicher? Ohne ein Wort über die Vernichtung von Büchern zu verlieren, berufen sich die Organisatoren auf eine nicht existierende Charta, nach der die FA die inkriminierten Bücher entfernen muss. Erneute Weigerung der FA, die dann feststellen muss, dass die am Morgen gestohlenen Bücher am Abend während eines Autodafés verbrannt wurden.

Das Organisationsteam der Bookfair – genauer gesagt: ihrer materiellen Organisation (Tische, Stühle, Zugang, Empfang usw.) – besteht aus einem knappen Dutzend Aktivisten der „intersektionellen“ Richtung. Sie sind keine Aussteller, fühlen sich aber berechtigt, zu bestimmen, wer welche Bücher ausstellen darf. Auch das ist ein Gefühl.

Diese haben gerade ihren Bericht über die Rencontres [15] veröffentlicht. Um sich und ihre autoritären Komplizen zu entlasten, taufen sie die Angriffe, Schläge, den Diebstahl und das Verbrennen von Büchern „direkte Aktion“. Als ob die „direkte Aktion“ an sich richtig und tugendhaft wäre. Als ob diese Methoden unter Anarchisten und in Polemiken in libertären Kreisen zulässig – zulässig – und traditionell wären. Als ob faschistische Squadristen, Nazi-Sektionen und alle kommunistischen oder anarchistischen, politischen oder religiösen Aktionsgruppen (von der Polizei ganz zu schweigen) nicht unter bestimmten Umständen auf „direkte Aktionen“ zurückgreifen würden.

Aber während die direkte Aktion der Anarchisten die Vertreter und Strukturen der Macht ins Visier nimmt, greifen die Queers in Saint-Imier (und anderswo) die Nicht-Machthaber an. Ein Mitglied der F.A. flüsterte mir ins Ohr, dass dies ihre wichtigste „militante“ Aktivität sei.

Freunde eines Verlagshauses sprachen daraufhin das Team Care an, mit einer unmerklichen Prise Ironie im wohlwollenden Auge: „So, wir waren Zeugen einer Situation, in der Aussteller unterdrückt und nicht einbezogen wurden, und deshalb haben wir uns gefragt, ob Sie das verurteilen würden“. Ihnen wurde kleinlaut geantwortet, dass dies nicht akzeptabel sei, aber dass die Leute von der FA Rassisten seien. Die Verleger verließen die Messe und ließen auf ihren Tischen die Botschaft „Stoppt die Zensur!“ zurück.

2. Tag. Die zu zwei Dritteln verbrannten Bücher werden zusammen mit einem erklärenden Text am Stand der FA ausgestellt. Weitere Beratungen mit dem Messeteam und dem Care-Team, die zu dem Schluss kommen, dass die weißen Cis-Männer der FA alle ein bisschen rassistisch sind und dass es an ihnen liegt, die Deeskalation einzuleiten. Die Angegriffenen werden aufgefordert, die Empfindlichkeit ihrer Angreifer zu beschwichtigen, gemäß dem Gleichnis vom „Tritt in die Eier“, bei dem sich das Opfer demütig bei seinem Angreifer erkundigt: „Geht es dir gut? Tut der Fuß nicht zu sehr weh?“

Da die Organisatoren nicht für die Sicherheit der Aussteller sorgen wollten, musste die FA die Notbremse ziehen. Keines der beiden Bücher, um die es ging, liegt mehr auf dem Tisch, da sie alle vernichtet wurden – oder aufgrund der Werbung am Vortag gekauft wurden.

Der Samstag wird zunehmend angespannt, bis es am Abend zu einer Auseinandersetzung kommt. Gegen 19 Uhr versammelten sich etwa 30 Personen vor dem Ordnungsdienst der FA. Slogans, Beleidigungen, Schubsereien, ein Angreifer ergriff einen Stock der FA, bevor er zu Boden gerissen wurde. Einem Aktivisten der FA fliegt ein Metallteller gegen die Nase, woraufhin er Blut verliert. Er berichtet nicht darüber, um sich nicht als Opfer darzustellen und nicht noch mehr „Rassismus“ zu betreiben, aber es ist symptomatisch, dass der einzige Verletzte in einer angeblich rassistischen und islamfeindlichen Gruppe arabischer Herkunft ist.

Am Abend erpressen das Team Care und die Orga der Messe: „Entweder ihr geht, oder wir schließen die Messe morgen“.

Weigerung. Und was kommt als Nächstes? Wie geht es deinem Fuß? Die Exklusivisten stützen sich nun auf die von Team Care verfasste Charta – die ja schreibt, was sie will -, auf ihre oben zitierte Liste „systemischer Diskriminierungen“ – eine Liste, die Atheophobie nicht aufzählt, obwohl überall auf der Welt und seit 2012 auch in Frankreich islamistische Mörder „Ungläubige“ und „Götzendiener“ ermorden, die sich zu „Festen der Perversität“ versammelt haben. Man fühlt sich 150 Jahre zurückversetzt, als Marxisten und „autoritäre Sozialisten“ in der Ersten Internationale Intrigen sponnen, um die Anarchisten zu domestizieren oder auszuschließen.

Im Gegensatz zu den beiden Gruppen, die sich selbst zu redaktionellen Verantwortlichen des Salons ernannt haben, hat die Gruppe „Coordo“ ihrerseits nie den Antrag auf Ausschluss der F.A. gebilligt. Einige haben übrigens ihre Verantwortlichkeiten niedergelegt, um den Stand zu schützen. Wie Sie sich denken können, herrscht hier ein wenig – oder sehr wenig – Anarchie. Wer entscheidet was? Wer hat die Legitimität zwischen denjenigen, die sich seit Monaten abmühen, und denjenigen, die am Vortag angereist sind, um eine rosa Weste anzuziehen; zwischen den verschiedenen Organisationsgruppen und den Ausstellern selbst?

Am Abend treffe ich im Espace Noir eine weinende Freundin aus der FA. Sie ist von den Ereignissen erschüttert. Aber was sie am meisten schmerzt, ist die Herablassung ihrer Ankläger, die sie damit konfrontieren, dass sie nur eine alte Ghettoblasterin sei, die nicht in der Lage sei, sich intellektuell mit den neuesten Entwicklungen der Intersektionalität auseinanderzusetzen. Komisch, wir dachten, wir hätten uns daran erinnert, dass „Ageism“ eine der Sünden ist, vor denen man sich hüten muss. Aber nur, wenn diese Manipulatoren noch jung genug sind, um sich missbräuchlich über „jeunisme“ zu beschweren, um jeglicher Kritik zu entgehen.

Sie wissen natürlich nicht oder wollen nicht wissen, dass „jeunisme“ keineswegs die Verachtung der Jugend bedeutet, sondern umgekehrt zunächst einmal die dumme und unterwürfige Folgschaft der Alten gegenüber den Ideen, Moden und Vorschriften der Jugend. Oder zumindest von ihrem spektakulärsten Teil, der vorgibt, für seine gesamte Altersgruppe zu sprechen.

Es gibt keine Chance, sie dazu zu bringen, anzuerkennen, dass sie auf gleicher Augenhöhe für ihre Taten, Gesten und Reden kritisiert werden und nicht aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe usw. Die Opferpose ist zu vorteilhaft, als dass sie darauf verzichten könnten.

Das sind keine Jugendlichen, das sind Arschlöcher – und die haben kein Alter. Danke, dass Sie das nicht verwechseln. Zwischen ihnen und uns gibt es keinen „Generationenkonflikt“. Vielleicht ein Klassengegensatz – wir sind nicht die Kinder der Technokratie und vertreten nicht ihre Interessen -, aber ganz sicher ein politischer Konflikt. Wenn sich Queers daran stören, dass bei anarchistischen Treffen die Monotheismen kritisiert, ihre Sittenvorschriften abgelehnt und ihre totalitären Tendenzen angeprangert werden, dann haben sie sich auf dem falschen Campingplatz eingefunden. Oder sie sind bewusst als Saboteure gekommen, um die letzten Überbleibsel der Anarchie zu übernehmen, sie zu untergraben oder zu zerstören, wie sie es an anderen Orten und in anderen Gruppen getan haben.

Allerdings, so fragen sich die Organisatoren der Messe (geben vor, sich zu fragen), „warum, wenn der Islam wie jede andere Religion wäre, diese anderen Religionen nicht nur im Rahmen des Standes, sondern auch der ‘Debatte’ im Allgemeinen stark unterrepräsentiert sind“?

Tatsächlich lagen alle Klassiker des Atheismus seit Bakunins Gott und der Staat auf den Tischen zum Verkauf bereit. Zweitens hat jede Religion ihre eigene Dynamik, die ihre eigene Kritik verdient. Seit den Morden von Mohammed Merah im Jahr 2012 bis zum Mord an Yvan Colonna im Jahr 2022 haben die Mörder islamistischer Gruppen in Frankreich 272 Zivilisten (darunter auch Kinder) ermordet, aus ideologischen Gründen der Gottlosigkeit und der Unterstützung der Dschihadisten im Irak, in Syrien und anderswo. Welche andere Bewegung als die muslimische extreme Rechte kann sich in Frankreich einer so makabren Bilanz rühmen, seit… seit wann eigentlich? Seit dem weißen Terror von 1815, als ultrakatholische und ultramonarchistische Banden in Südfrankreich zwischen 300 und 500 Protestanten, Bonapartisten und Liberale ermordeten?

Es ist also legitim und notwendig, den Islamismus zu kritisieren und zu bekämpfen, genauso wie man den Stalinismus kritisiert und bekämpft hat, für den die Intellektuellen der 50er Jahre so leidenschaftlich waren; oder den Faschismus, von dem die Massen der 30er Jahre so besessen waren.

Dritter Tag – 9 Uhr. Generalversammlung der Aussteller. Die Organisatoren der Messe und das Team Care geben bekannt, dass sie nicht – nicht wollen? – die Sicherheit der Aussteller gewährleisten können. Die Versammlung beschließt, die Sicherheit selbst zu verwalten. Ciao, die Orga! Die Messe öffnet wieder, aber die Stimmung ist nicht mehr gut. Die Militanten der F.A., die in die Organisation der Treffen investiert haben, vernachlässigen ihre Verpflichtungen, um ihren Stand zu verteidigen: „Es gibt schon kein Klopapier mehr und die Mülleimer kotzen“, lacht ein Freiwilliger des Trash-Teams, der Mülltonnenmannschaft.

Die beiden intersektionalen Pressetische verlassen die Messe und lassen sich aus Protest an ihren Türen nieder. Kein Anarchist hätte sich vorstellen können, ihre Stände als Vergeltung für ihre Komplizenschaft mit autoritären Schlägertrupps oder für ihre Ideen, die den anarchistischen Prinzipien widersprechen, anzugreifen. Der Tag verläuft wie der Vortag, mehr oder weniger ruhig. Es lungert um den FA-Stand herum, bis es zur Aperitifzeit zu ersten Spannungen kommt. Gegen 16 Uhr nehme ich etwas weiter oben im Dorf an einem „Workshop über Antirassismus“ teil, der von „rassisierten Queers“ geleitet wird. Die Diskussion geht von einem Schnellverfahren gegen die F.A. ohne die F.A. bis hin zur Organisation einer Strafexpedition gegen ihren Stand: „Ihr Weißen, seid ihr bereit, mit uns zu kämpfen?“, heizt der Moderator an. Und die „Weißen“ blöken im Chor: „Ouéééééé“ – jede Ähnlichkeit mit dem Film Problemos

Etwa 60 Personen laufen dann in einer Herde ins Tal hinunter, hinter einem Schild mit der Aufschrift „Rassismus tötet“. Doch die FA hat bereits eingepackt.

Fassen wir zusammen:

Zerrissene Bücher.

Bücher werden verbrannt.

Vermummte Banden, die Bücher und Menschen umstoßen.

Schnellverfahren ohne Recht auf Verteidigung.

Urteile auf der Grundlage der biologischen Zugehörigkeit.

Eine Strafexpedition.

Angreifer, die zu „Angegriffenen“ gemacht werden.

Und die Angreifer werden zur Selbstkritik aufgefordert.

Wie nennt man das noch mal?

Niemand wagt es, es laut zu denken, man flüstert es kaum und zieht sich dann zurück, um die Situation nicht zu verschlimmern: „Ist das nicht doch ein bisschen fascho?“. In Saint-Imier, wie auch anderswo seit zehn Jahren, fragt man sich, wie man solche Handlungen bezeichnen und wie man darauf reagieren soll. Die Antwort auf die zweite Frage ergibt sich aus der ersten. Diese Kollektive sind so dumm und stur, funktionieren nach Schlagwörtern und Parolen und spielen beim ersten Widerspruch mit der Erpressung von Aggressionen, dass man sich nicht vorstellen kann, dass rationale Argumente, die über einen Empörungshusten hinaus entfaltet werden, ausreichen können.

Im Dezember 2014 unterzeichneten einige Dutzend antiautoritäre Anarchen und Kommunisten eine Tribüne „Gegen Zensur und Einschüchterung in libertären Ausdrucksräumen“ [16]. Heute fragt sich das Kommuniqué der F.A.: „Wird die Wiege des Anarchismus zu seinem Grab?“. Es ist von einem Dutzend internationaler libertärer Organisationen und Verlage unterzeichnet [17]. Die anarchistische Gewerkschaft CNT-AIT prangert „dogmatisches Sektierertum“, „Verwirrung“ und „identitäre Ideologien“ an. Die Genossen der Organisation communiste libertaire, die dieses Jahr in Saint-Imier nicht anwesend waren, aber 2012 bei einem Wurstessen erwischt wurden, versichern in einer sarkastischen und orwellschen Unterstützungserklärung für die F.A.: „Zensur ist Freiheit [18] „. Sie zählen einige Episoden der Zensur auf, die von der Intersektionalen Partei verübt wurden. Es folgt eine ausführlichere Liste [19] :

22. November 2014: Schubsereien, Schläge und Einschüchterungen führen zur Absage einer von Alexis Escudero geleiteten Debatte auf der libertären Buchmesse in Lyon über sein Buch La Reproduction artificielle de l’humain, ein Buch gegen die fabrikmäßige Erzeugung, Kommerzialisierung und genetische Selektion von Menschen (alias PMA-GPA).

28. November 2014: Nach mehreren Protesten sagt das Théâtre Gérard Philippe in Saint-Denis eine Reihe von Performances und Aufführungen des südafrikanischen Künstlers Brett Bailey unter dem Titel „Exhibit B“ ab. Dabei handelte es sich, um sie anzuprangern, um Nachstellungen von Menschenzoos aus dem frühen 20. Jahrhundert.

9. Dezember 2014: Das LGBT-Zentrum in Paris sagt unter Drohungen einen Vortrag der Historikerin Marie-Jo Bonnet, einer lesbischen und feministischen Aktivistin und Gründerin der Front homosexuel d’action révolutionnaire im Jahr 1971, wegen ihrer öffentlichen Haltung gegen GPA ab. Ihr Vortrag hatte das Thema „Résistance-Sexualité-Nationalité à Ravensbrück“ (ein Nazi-Konzentrationslager nur für Frauen, in dem Ärzte verschiedene Experimente an ihnen durchführten).

28. Oktober 2016: Die Marseiller Buchhandlung Mille Bâbords wird während einer Diskussion mit den Autoren des Flugblatts „Jusqu’ici tout va bien“, einer Kritik an rassistischen, „dekolonialen“ und antiislamophoben Themen, die insbesondere von der Parti des Indigènes de la République entwickelt werden, einer „“Rassisten-Razzia““ ausgesetzt (Bücher und Zeitschriften werden zertrampelt, Plakate abgerissen, Tische umgeworfen, Schläge und Drohungen, Einsatz von Pfefferspray, zerbrochene Schaufensterscheibe).

21. März 2017: Die Universität Lille 2 sagt aus Angst vor „Ausschreitungen“ die Aufführung des Regisseurs Gérald Dumont ab, die auf dem Text von Charb, Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racistes (2015), basiert.

25. März 2019: Nach Einschüchterungen und Drohungen „antirassistischer“ Gruppen sagt die Sorbonne das Stück Les Suppliantes von Aischylos ab, das von dem Altgriechischlehrer Philippe Brunet inszeniert wird, mit der Begründung, dass dieser schwarze Figuren schwarze Masken tragen lässt, wie es die Kunst der Inszenierung seit dem Hirschtanz in prähistorischer Zeit jedoch fordert.

27. Juli 2019: Die Nachrichtenseite Rebellyon.info ruft mit einem Foto zum Gebrauch des „Feuerzeugs“ gegenüber der Zeitung La Décroissance auf, weil deren Kritik an den Reproduktionstechnologien „transphobe“ und „sexistische“ Erwägungen transportiere. Zehn Tage später, nachdem alle alternativen Nachrichtenseiten des „Mutu“-Netzwerks den Aufruf weitergeleitet hatten, wurde der Stand der Zeitung bei einem Treffen über die künftige Atommülldeponie Bure tatsächlich angegriffen [20].

24. Oktober 2019: Zensur des Vortrags der feministischen Philosophin Sylviane Agacinski zum Thema „Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ durch die Universität Bordeaux aufgrund der Drohung von queeren Verbänden und Kollektiven. Sylviane Agacinski ist für ihre Kritik an der Leihmutterschaft bekannt.

3. Juli 2021: Die CNT-Gewerkschaft Finistère muss ihr Selbstverwaltungsfest unter der Drohung von sogenannten „anarchistischen“ Gruppen wegen eines Vortrags von Pièces et main d’œuvre zum Thema „Biopolitik und Kontrollgesellschaft“ absagen.

29. April 2022: Unter dem Ruf „Mörder!“ stören Angreifer des radikalen Queer Action Collective die Vorlesung der Psychoanalytikerinnen Céline Masson und Caroline Eliacheff, Autorinnen des Buches La fabrique de l’enfant transgenre (2022), an der Universität Genf und brechen sie ab. Die beiden Autorinnen verteidigen das Vorsorgeprinzip angesichts des Zustroms von Minderjährigen, die zu chirurgischen und pharmazeutischen Wegen der Geschlechtsumwandlung verleitet werden.

17. Mai 2022: Die Universität Genf sagt (wieder) den Vortrag des Literaturprofessors und doch sehr postmodernen Eric Marty ab, der sein Buch Le Sexe des modernes: pensée du neutre et théorie du genre (2022), eine kritische Betrachtung des amerikanischen Genderkonzepts, vorstellen wollte.

5. Juni 2022: Absage einer Konferenz von Pièces et main d’œuvre zum Thema „Technologie, Technokratie, Transhumanismus“ durch das Kino L’Univers in Lille nach mehreren Drohungen gegenüber dem Kino und einer anonymen Mitteilung im Internet.

17. November 2022: Störung und Absage eines Vortrags von Caroline Eliacheff, der in Lille im Rahmen des Festivals Cité Philo organisiert wurde, obwohl sie selbst im Postmodernismus versiert ist. Die EELV-Sektion in Lille ist der Ansicht, dass sie gegen die „Verbreitung transphober Propaganda“ kämpfen muss. Die Organisatoren der Konferenz weisen darauf hin, dass es das erste Mal in 26 Jahren ist, dass eine Konferenz aufgrund von Einschüchterungen abgesagt wird.

19. November 2022: Das Haus der Ökologie in Lyon sagt unter Drohungen und Beschimpfungen eine Konferenz ab, die von den Ökofeministinnen von Floraisons und Deep Green Resistance organisiert wurde. Die LGBTQIA+ Sektion der EELV, die sich der Worte nicht bewusst ist, freut sich über die Absage einer „ökofaschistischen“ Veranstaltung.

15. Dezember 2022: Das Queer-Kollektiv Ursula versucht, einen Vortrag von Céline Masson und Caroline Eliacheff im Café laïque in Brüssel durch Schreien und Werfen von Exkrementen zu annullieren.

4. April 2023: Unter der Drohung, „die Knie zu brechen“ und mit dem Messer attackiert zu werden, sagt das Comité Laïcité République de Nantes (der Sozialisten) einen Vortrag von Marguerite Stern ab, einer ehemaligen „Femen“ und Erfinderin der feministischen Collagen, die wegen ihrer Äußerungen über die Beteiligung von Männern „im Übergang“ an den feministischen Bewegungen bereits mit dem Tod bedroht worden war.

22. Juni 2023: Während eines von der Rechtsfakultät Paris-Panthéon-Assas organisierten Kolloquiums zum Thema „Die universelle Republik auf dem Prüfstand der Transidentität“, bei dem unter anderem über den „allmächtigen Willen“ des „Transhumanismus“ und der „Transidentität“ diskutiert wurde, bewarfen maskierte Studenten die Redner mit Farbe. Die Debatten hatten sich jedoch als widersprüchlich und die Kritik als mezzo voce angekündigt.

9. Juli 2023: Auf der anarchistischen Buchmesse in Ljubljana, Slowenien, versucht eine Pariser Gruppe, einen Vortrag der anarchistischen Pariser Bibliothek Les Fleurs Arctiques abzusagen, indem sie die unvermeidlichen Beleidigungen „phobe“ verwendet. Les Fleurs arctiques hatte unter anderem mit La race comme si vous y étaient (Les Amis de Juliette et du printemps, 2017) Ideen gegen Identity Politics (Identitätspolitik), Rassismus und Religion in Umlauf gebracht.

Niemand ist verpflichtet, die FA zu mögen oder ihr beizutreten. Die spöttische Kritik an der FA, ihrem veralteten Stil, ihrer Erbfolklore und ihren politischen Fehlern wurde bereits vor Jahrzehnten von ihren eigenen Dissidenten und den Situationisten geäußert. Zu den anhaltenden Fehlern gehört die Illusion, dass man mit den Queers einen „Dialog“ führen kann, dass man drei Jahre lang mit ihnen über die Organisation dieses Festivals diskutiert hat, während es seit 2012, dem Datum der ersten Angriffe und Proteste, offensichtlich ist, dass die Queers & Co da sind, um die Leute rauszuschmeißen. Möglicherweise, um ihre Strukturen zu unterwandern, zu übernehmen und zu missbrauchen. Wann werden sich die Genossen der F.A. dazu durchringen, vielleicht weniger ehrgeizige, aber kohärentere Veranstaltungen zu organisieren; zwischen Freunden und falschen Freunden zu unterscheiden; nicht darauf zu warten, angegriffen zu werden, um ihre Überzeugungen und ihre Leute gegen die als Opfer getarnten Teams von Angreifern zu verteidigen.

Hier sollten sie sich, wie Jaime Semprun, nicht fragen, welche Welt (und welchen Anarchismus) sie künftigen Generationen hinterlassen werden; sondern welchen künftigen Generationen sie der Welt (und dem Anarchismus) hinterlassen werden.

Was auch immer man von den einzelnen abgesagten Personen halten mag, sie repräsentieren weder den technokratischen Staat noch die Atomindustrie oder irgendeine der Lobbygruppen, die mit der Zerstörung der Lebensbedingungen auf der Erde in Verbindung stehen. Ein Teil des Problems liegt in der Verwechslung von (politischem) Konflikt und (persönlicher) Aggression, von Ideenkritik und Gewalt gegen Personen. Lassen Sie Ihren Kontrahenten als Aggressor erscheinen, und schon ist er mit seinem Widerspruch verschwunden. Beispiel. Systematisch und wie in Saint-Imier wird die Kritik an der islamistischen Ideologie, den islamistischen Figuren, Bewegungen und Staaten als Diskriminierung von Muslimen selbst („Islamophobie“) verkleidet. Wenn nicht sogar als „Rassismus“ – als ob es eine „muslimische Rasse“ gäbe.

Ebenso wird Kritik an Intellektuellen, Ideen und queerer Politik systematisch als „Phobie“ verkleidet – wodurch rationale Argumente in irrationale „Panik“ verwandelt werden – als „Phobie“ gegenüber „Betroffenen“, als Angriffe auf sie oder gar als „Beihilfe zum Mord“! (wenn wir schon dabei sind, huh!) Die Praxis der intellektuellen Vergiftung, die darin besteht, die Debatte über Ideen in Angriffe gegen Personen zu verkehren, muss einen Namen haben. Die Erpressung mit Mikroaggressionen?

Was die Bezeichnung „Zensur“ betrifft, so behauptet das Messeteam in seinem Bericht, dass diese nur auf Staaten und nicht auf Zivilisten angewendet werden könne. Wenn dies der Fall ist, warum spielen dann angebliche Anarchisten die Rolle von Zensurgegnern und nehmen so leicht die Vorrechte von Staaten an sich? Und insbesondere des totalitären Staates?

Um genau zu sein, war die moderne Zensur zunächst eine kirchliche Praxis: Theologischen Universitäten wie der Sorbonne war es ab den 1520er Jahren überlassen, die katholische Konformität von Publikationen angesichts der Entwicklung reformierter (protestantischer) Ideen zu gewährleisten. Wenn mein Freund mit seiner ätzenden Polemik bemerkt, dass die postmodernen Aktivisten „wirklich Pfaffen sind“, dann trifft er es ganz gut.. Queers & Co. teilen mit der Inquisition die Freude an der Zensur, der Exkommunikation, der Verbannung und sogar dem Autodafé. Sie brennen mit demselben Eifer dafür, ihre gute individuelle Moral aufrechtzuerhalten und jede Abweichung auszurotten. Es ist eine Praxis von Fanatikern, den Rückzug eines Buches zu fordern, es zu verbrennen, den Ausschluss des Ausstellers zu fordern und den Autor zum Schweigen zu bringen. Religiöse und queere Menschen: Was für Schweinereien begehen sie nicht alles im Namen ihrer „Religion des Friedens“ und ihres „Wohlwollens“? Ich weiß nicht mehr, welcher Deutsche sagte: „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch Menschen“.

Es ist ironisch, dass viele der oben genannten Zensur Operationen in der Schweiz stattgefunden haben, insbesondere in Genf, wo man an die Tradition des Scheiterhaufens und des Autodafés erinnern muss. Der reiche Kanton emanzipierte sich 1526 von Savoyen, nahm 1536 die reformierte Religion an und folgte ab 1541 dem pikardischen Prediger Johannes Calvin. Der puritanische Terror von Johannes Calvin ließ ab den 1540er Jahren ketzerische Bücher, Romane oder politisch-theologische Abhandlungen verbrennen, aber auch Schuldige der Sodomie und des Ehebruchs, des Atheismus oder der Hexerei.

Das symbolträchtigste Opfer ist der unglückliche Michel Servet, ein gelehrter Aragonier, dessen Werk von der Inquisition als Bildnis verbrannt und der schließlich 1553 von Calvin selbst auf den Scheiterhaufen verbrannt wurde. Seine Anmerkungen zu den theologischen Schriften waren zu persönlich, sowohl für die katholische Hierarchie als auch für die protestantische in Genf. Calvin verbietet auch unbiblischen Tanz, Theater und Musik. Fleischessen und Alkoholkonsum stehen ihm ebenfalls im Verdacht. Was die Freuden des Geschlechts betrifft, so erübrigt es sich, darauf hinzuweisen [21].

In einem kürzlich erschienenen Artikel von Ian Buruma, einem Niederländer, der in die USA ausgewandert ist, wird an die puritanische Tradition der öffentlichen Entschuldigung und Beichte erinnert, die gestern in den Wäldern zwischen den eigenen Leuten versteckt waren, heute live in der Sendung von Oprah Winfrey, evangelischer Baptistin und Medienunterstützung der Demokratischen Partei: „Mach den Job. Die protestantische Ethik und der Geist des Woken.“ Buruma greift die Beobachtungen des deutschen Soziologen Max Weber über die Reformierten, Protestanten, Täufer, Evangelikalen, Methodisten usw. auf, denen gute Werke nicht genügen: Es ist ein ganzes Leben, und in jedem Augenblick, der aus Arbeit, Reue und Selbstprüfung des Gewissens besteht, das man annehmen muss, um auf einen Platz im Paradies zu hoffen [22].

Erinnern wir uns daran, dass Exemplare der “Satanischen Verse” 1989 von frommen Brandstiftern in Teheran, Manchester und London auf öffentlichen Plätzen verbrannt wurden, dreiunddreißig Jahre vor dem Attentatsversuch auf ihren Autor, Salman Rushdie. Ebenso wurde die Redaktion von Charlie Hebdo im Jahr 2011 mit Zustimmung ‘islamo-gaucher’ Brandstifter [23] niedergebrannt, bevor die Redakteure vier Jahre später von Al-Qaida-Killern ermordet wurden.

Écrelinf, wie Voltaire sagte.

In einem 2022 veröffentlichten „Tract“ Gallimard stellt Laure Murat, Geschichtsprofessorin an der Universität von Los Angeles, die Frage: Wer annulliert was? In Anbetracht der „Annullierungen“, die in Frankreich seit zehn Jahren zu verzeichnen sind, liegt der Ursprung dieser Brutalität anderswo: Queers (oder Intersectionals oder Postmoderne) „annullieren“ linke Intellektuelle, Feministinnen, Anarchisten und Umweltschützer, die den Mut hatten, ihnen zu widersprechen, sie zu kritisieren und die neuesten (bio-)technologischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Eugenik, des Transhumanismus und der Reproduktionsmedizin. 

Wie kann man die Queers nicht als Agenten (objektiv, subjektiv, egal) der Industriellen und der Staaten auf diesem Gebiet betrachten? Wie wäre es mit der Gründung einer Verbrauchervereinigung? Hat das Programm von Saint-Imier nicht einen „Lernworkshop zur Selbstinjektion von Hormonen“ für Menschen in der „sexuellen Transition“ angeboten?

Tomjo & Mitou

September 2023

Anmerkungen

  1. Moins !, rue du Petit-Rocher 4, 1003 Lausanne 
  2. “Anarchy 2023”, paris-luttes.info, 9 juillet 2023.
  3. S.a. Écologistes/technologistes, sachons les distinguer, Renart et Pièces & main d’œuvre, déc. 2022.
  4. Lachen Sie nicht, wir haben in Bure ein antispeziesistisches Festival gesehen, bei dem es um die Inklusivität „nichtmenschlicher Tiere“ ging und darum, wie „sie“ von „Menschen“ integriert würden.
  5. Für ein kritisches Verständnis postmoderner Bewegungen und ihrer intellektuellen Verbindungen mit (Bio-)Technologien empfehlen wir: L’Empire de la cybernétique. Des machines à penser à la pensée machine de Céline Lafontaine (Seuil, 2004), Servitude et simulacre de Jordi Vidal (Allia, 2007), La French Theory et ses avatars et Les raisons d’une fascination : Heidegger, sa réception, ses héritiers par la revue L’Autre côté dirigée par Séverine Denieul (2009 et 2012), Longévité d’une imposture : Michel Foucault par Jean-Marc Mandosio (Encyclopédie des nuisances, 2010), Ceci n’est pas une femme (à propos des tordus ‘queer’) par Pièces et main d’œuvre (piecesetmaindoeuvre.com, 2014), Le Désert de la critique. Déconstruction et politique par Renaud Garcia (L’Échappée, 2015), Manifeste des chimpanzés du futur contre le transhumanisme par Pièces et main d’œuvre (Service compris, 2017), Du coup par Tomjo (Chez Renart, 2019). 
  6. S.a. La société industrielle et son avenir, Théodore Kaczynski, Éditions de l’Encyclopédie des nuisances, 1998. Et encore Catastrophisme, administration du désastre et soumission durable, Jaime Semprun et René Riesel, Encyclopédie des nuisances, 2008.
  7. Le Monde, 14 avril 2010. 
  8. La Vie des idées, 20 novembre 2007.
  9. S.a. Chahsiche, Jean-Michel, « De l’’’éthique du care’’ à la ‘’société du soin’’ : la politisation du care au Parti socialiste », Raisons politiques, vol. 56, no. 4, 2014, S. 87–104
  10. Zu lesen auf piecesetmaindoeuvre.com
  11. Dies wäre laut Terra Nova nun die Rolle des Front National: „Marine Le Pens FN hat in sozioökonomischen Fragen eine Kehrtwende vollzogen und ist von einer neoliberalen poujadistischen Haltung abgewichen zu einem wirtschaftlichen und sozialen Schutzprogramm, das dem der Linksfront entspricht. Zum ersten Mal seit mehr als dreißig Jahren steht eine Partei wieder im Einklang mit allen Werten der Arbeiterklasse: kultureller Protektionismus, wirtschaftlicher und sozialer Protektionismus. Der FN positioniert sich als Partei der Arbeiterklasse, und es wird schwierig sein, ihr etwas entgegenzusetzen.”
  12. S.a. Du coup. Insultes, rumeurs et calomnies consécutives aux débats sur la PMA, Tomjo, 2019, Chez Renart. 
  13. “Une autre histoire de la Sécurité sociale”, Bernard Friot et Christine Jakse, Le Monde diplomatique, décembre 2015.
  14. Der Film Morts à 100 % : post-scriptum, von Tomjo und Modeste Richard, 45 mn, 2017. Mais surtout La foi des charbonniers, les mineurs dans la Bataille du charbon, 1945–1947, Evelyne Desbois, Yves Jeanneau et Bruno Mattéi, Maison des sciences de l’homme, 1986.
  15. RIA 2023 : livres islamophobes, action directe et évacuation de la critique », renverse.co, 23 août 2023. 
  16. www.piecesetmaindoeuvre.com, 29 décembre 2014.
  17. https://federation-anarchiste.org : Anarchist communist Group Great Britain (Grande-Bretagne), Barricada de Livros (Portugal), Delegation of Anarchist Political Organization in St. Imier (Grèce), Éditions Noir et Rouge et Chroniques Noir et Rouge (France), Groupe libertaire SAT-Esperanto, Federación Anarquista Ibérica (Espagne), Federazione Anarchica Italiana (Italie), Federazione Anarchica Siciliana (Italie), Federacija za anarhisticno organiziranje (Slovénie / Croatie), Federación Libertaria Argentina (Argentine), Iniciativa Federalista Anarquista Brasil (Brésil), Imprenta Comunera — Cali (Colombie), Kurdish-speaking Anarchist Forum (Kurdistan), La Comune — Ravenna (Italie), Les ami.e.s de May — Saint-Nazaire (France), Mujeres Libres (Espagne), Nada éditions (France), Verlag Graswurzelrevolution (Allemagne). 
  18.  https://oclibertaire.lautre.net/spip.php?article3899
  19. Die meisten dieser kommunizierten Zensurvorfälle sind auf der Website www.piecesetmaindoeuvre.com aufgeführt.
  20. Das „Mutu“-Netzwerk besteht aus einer Reihe lokaler Informationsseiten, die auf dem Rebellyon- und Paris-Luttes-Info-Modell basieren. Die Netzwerkstandorte sind mehr als eine „Zusammenlegung von Ressourcen und Praktiken“, sondern teilen oft die gleiche Perspektive des „Kampfes gegen alle Herrschaften“. Dort finden wir renverse.co, die Schweizer Seite des Buchmesse-Teams, aber auch Iaata (Toulouse), Marseille Infos Autonomes, Bourrasque (Brest), Le Pressoir (Montpellier), Le Numéro Zéro (Saint-Étienne), Expansive (Rennes). ), Manifest (Nancy und der große Osten), Cric (Grenoble), Barrikade (Deutschschweiz), La Bogue (Limousin), Dijoncter (Dijon), Basse-Chaine (Angers), Vallées en Lutte (Alpen Süd). ) und Emrawi (Wien).
  21. Vgl. Blau als Orange, Kapitel 8. „Jean Calvin und der Geist des Industrialismus“, Chez Renart und auf www.piecesetmaindoeuvre.com
  22. Le Monde Diplomatique, September 2013. Teilübersetzung eines Artikels, der im Juli 2023 in der Zeitschrift Harper’s veröffentlicht wurde.
  23. Siehe das kollektive Forum „Zur Verteidigung der Meinungsfreiheit, gegen die Unterstützung von Charlie Hebdo!“ », immer noch auf der Website Indigènes de la République sichtbar, aber von der Website lmsi.net verschwunden.

Veröffentlicht im September 2023 auf mehreren französischen Blogs, u.a. hier. Sinngemäß ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Mein Urlaub in Saint-Imier bei den wohlwollenden Aggressoren