VERRÜCKTHEITEN

Vom weißen Marsch zum allgemeinen Aufstand. Bericht über einen sehr langen Tag.

„Jeder hat seine eigene Bande, jeder hat seine eigene Mutter. Aber wenn du einen von uns anrührst, rufen wir unsere Banden zusammen, um dich in die Luft zu jagen“.

Jul, Temps d’avant

„Indem das Proletariat die Verneinung des Privateigentums fordert, erhebt es nur das zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft als Prinzip für sich aufgestellt hat.“

Karl Marx, Beitrag zur Kritik des Hegelschen politischen Rechts

Die Menschenmenge ist dicht gedrängt. Die Menschen drängen sich um den gemieteten Lastwagen, auf dem Nahels Mutter Mounia und ihre Angehörigen stehen. Drumherum besetzen Motorradfahrer die Bürgersteige und lassen die Motoren aufheulen. Es ist heiß. Wir erreichen den Palast der sogenannten Justiz. Die Architektur ändert sich. Die Atmosphäre ebenfalls. Die schattigen, von Häusern umgebenen Straßen weichen Milchglasblöcken, einem Kreisverkehr und einer riesigen französischen Flagge. Hier will sich die Republik sichtbar machen. Heute sieht es so aus, als würde sie sich selbst denunzieren. Gruppen überqueren die mit hohem Gras bewachsenen Randstreifen und huschen zwischen den Blüten der wilden Kräuter hindurch.

Plötzlich geht es am Place des Droits de l’Homme – wir haben „askip“ (slang: augenscheinlich d.Ü.) auf das Straßenschild geschrieben – drunter und drüber. Die Polizei wird an einer Ecke angegriffen, sie weicht zurück. Der vorherrschende Style ist: nackter Oberkörper, T-Shirt-Vermummung, Gürteltaschen. Wir befinden uns auf einer kleinen Anhöhe an einer Abzweigung der Peripherie. Die Polizisten halten den Platz, mehr aber auch nicht. Der Wind bläst das Tränengas in ihre Richtung zurück. Dann sagt jemand: „Wir machen alles platt“. Die Idee wird wörtlich genommen. 20 Minuten lang wird alles herausgerissen: Schilder, Bäume, Steine, Zäune. Innerhalb von Sekunden wird eine Baustelle in eine Barrikade verwandelt. Ein Typ öffnet eine Garage, holt einen blechernen Eimer raus und schlägt damit gegen die Fenster. Ein anderer hat eine Schaufel. Minutenlang machen sich die Leute an den Blechen der Autobahnauffahrt zu schaffen. Dann werden auf der Straße alle erreichbaren Fensterscheiben mit Tritten zertrümmert. Jemand sprüht mit einem Feuerlöscher um sich. Die Fronttür der Bank öffnet sich inmitten kleiner Rauchwolken. Die Akten fliegen im Wind, die Schaufenster stürzen weiter ein.

Schließlich rückt die Polizei vor und drängt uns nach oben. Wir rennen zwischen den Büschen und den zersplitternden Schaufenstern hindurch. Flashballs. Ein Auto auf dem Dach liegend steht in Flammen, ein umgekippter Porsche Cayenne wird zur Barrikade. In dem Durcheinander kreisen Motorroller und Motorräder wie panische Wespen umher. Wir bitten Einheimische um ein schnelles geografisches Update: Wohin sollen wir fliehen? Sie sagen uns, in diese Richtung, zum Park und dann nach Picasso, dem Treffpunkt des heutigen Marsches.


Wir werden von einer Ladung Bastarde bis zum Park zurückgedrängt. Die Familie fährt mit dem Lastwagen um den ganzen Stadtteil herum, die Jugendlichen halten den Park wie eine ZAD. Jemand sagt: „Das ist Athena 2“. Ein Mann auf dem Rücksitz einer Motocross-Maschine warnt die Menge von einem kleinen Hügel aus. Die Polizei versucht, den Eingang zum Park zu erobern, ein langer Kampf um den Eingang zum Park. Tränengas, Granaten. Kleine Kinder verstecken sich in den Hainen. Wir stehen auf einer der Anhöhen, die den Eingang dominieren. Von dort aus sagen die Großen: „Vermummt eure Gesichter“. Zwei Hubschrauber kreisen am Himmel. Letzte Ladung für den Parkeingang. Die ersten Reihen springen über die Zäune und über die Büsche. Schöne Flugfiguren, um den Polizisten zu entkommen. Diejenigen, die sich unter den Bäumen verstecken, lachen. Dahinter kauern Vermummte im Gras. Bagger werden angezündet.

Gruppen, die im Unterholz auf der Lauer liegen. Man greift nach allem, was sich herausreißen und werfen lässt. Es ist ein Tornado von Materialien, der auf die CRS niedergeht: Holz, Steine, Feuer, Raketen. Ein Gerücht macht die Runde: Die BRI ist soeben in Nanterre eingetroffen. Eine Karussellbude wird aufgebrochen, alle stürmen hinein. Jemand betätigt das Ding, das die Spielzeuge zum Drehen bringt. Im Inneren bricht Jubel aus. Dutzende von Aufständischen springen auf und schreien wie verrückt, während sie das kleine rosa Pony in die Y-Position bugsieren. Dann sagt ein Typ: „Alle raus, wir zünden es an“, alle hören auf ihn, Ende der Pause. Der Pavillon mit den roten Planen brennt auf einmal, riesiger schwarzer Rauch.

Verfolgungsjagd durch die Hügel, auf dem Weg brennen die hölzernen Masten der Niederspannungs-Freileitungen. Wir werden bis zum Eingang von Picasso zurückgedrängt. Gebäude, die wie Fabrikschornsteine aussehen. Riesige zylindrische Türme in Pastellfarben mit Fenstern, die wie Bullaugen aussehen. Der Architekt, der diesen Komplex entworfen hat, ist ein kranker Mann. Der Abgeordnete, der beschlossen hat, ihn Picasso zu nennen, ist ein Zyniker. Aus der Siedlung werden uns Geschosse in Einkaufswagen gebracht. Einer davon ist mit Feuerlöschern gefüllt. Eine Spur mit kleinen Klumpen aus weißem, gelbem und grauem Rauch, die schließlich eine Wolke bilden. Ohne einen Laut beginnen die Menschen dahinter zu rennen, es regnet Steine, die geblendete und mit Steinen beworfene Polizei wird weiter zurückgedrängt.

„Wartet bis heute Abend, Jungs“. Eine kontrollierte Ruhe stellt sich ein. „Warte auf die Nacht, warte“. Wir gehen durch Picasso. Hinter den höchsten Türmen des Viertels befinden sich riesige, bedrohlich wirkende Glaswürfel: La Défense. „Warum greifen wir La Défense nicht an?“ Ende der Peripherie, Treppen, röhrenförmige Fußgängerbrücken, Firmentürme. Auf der Suche nach der RER durchqueren wir das Labyrinth, überwinden die unsichtbaren und städtebaulichen Grenzen, die das Finanzzentrum von Nahels Siedlung trennen. Wir verschmelzen mit einer anderen – gleichgültigen und geschäftstüchtigen – Menschenmenge. Wir kehren nach Paris zurück, Richtung Nachbarschaft.

***

Die Nacht bricht über den Nordosten von Paris herein. Wir sitzen in unserem Mietshaus – mit der Idee, vielleicht in einen nahegelegenen Vorort zu ziehen. Doch ein Feuer entfacht plötzlich die benachbarte Straße. Wir treffen uns an der Kreuzung, die wir alle so gut kennen. Jemand stellt geschickt Mülltonnen auf und zündet sie an. Dann zerschlägt er methodisch Glas auf der Straße. Die Kreuzung führt in die Straße x, die in die Siedlung x führt. Auf der gesamten Länge der Straße werden Feuer angezündet. Entzücken darüber, wie unsere Straßen in Flammen aufgehen. Mehrere Mülltonnenfeuer stromaufwärts und stromabwärts schützen den Zugang zu x. Einige Feuerwerksraketen werden von einem vermummten jungen Mann in die Luft geschossen. Es ist 23:00 Uhr, ein Schrei: „Es geht los, los, wir hauen rein“.

Ein älterer Mann, der die Arme vor der Brust verschränkt hat, stimmt dem Geschehen ohne Zweifel zu. Ein Mann im Anzug steigt aus seinem Mini und möchte durchfahren. Der Brandstifter sagt zu ihm: „Tut mir leid, aber da können wir Sie nicht durchlassen. Es tut mir wirklich leid, mein Herr, da müssen Sie wohl drum herum fahren“. Der andere ist hartnäckig: „Du wirst mein Auto nicht anzünden, wie alt bist du?“ Wir nähern uns sicherheitshalber dem Disput, „22 Jahre“. Wir sagen ihm, er solle sich verziehen und uns in Ruhe lassen, „Ciao, du Bevormunder“, sagt einer von uns. „Danke, Bruder, für die Sache bist du ein guter Mann“. Der alte Mann sagte: „Hey, der mit der Krawatte, für wen hält der sich?“. Am Eingang der Siedlung halten sich die Leute bereit. Eine Gruppe wirft den anderen zu: „Ihr wollt Krieg führen, also macht das auch, Jaap!“. Einige sehr junge Leute fahren zu zweit auf einem Scooter vorbei: „Na, Ihr Flocken?“. Mit Mörsern in der Hand warten sie auf die Polizei. Wir beschließen, in ihrer Nähe zu bleiben. Sie sehen ziemlich sexy aus und einer von uns kennt sie gut.

Ein Polizeiwagen kommt von der linken Seite und durchbricht die brennenden Barrikaden in einem Zug bis zum Zugang der Siedlung, wobei er auf die dort stehenden Menschen draufhält. Von rechts kommen ein paar Einheiten. Es sind nicht viele, sie sehen aus, als kämen sie gerade aus dem Büro und würden zum ersten Mal einen Helm aufsetzen. Es mangelt an Truppen. Die Siedlung wird belagert, aber sehr schnell zieht die Polizei unter Hurra-Rufen und Mörserbeschuss ab. Gerüchte machen die Runde: Alle Siedlungen in Frankreich organisieren sich, sie sind überfordert.

Wir hängen in der Gegend herum. Ein paar Straßen weiter steht auch die Siedlung Y in Flammen, ein umgekipptes Auto brennt langsam vor dem Eingangsbereich. Weiter hinten hören wir Feuerwerkskörper, die Siedlung Z muss sich ebenfalls erhoben haben. Vor unseren Augen entsteht eine andere Geografie: die der Siedlungen im Stadtteil mit ihren Mäulern, ihren Banden, ihrer Revolte. In mehreren Straßen ist das Licht erloschen, abgeschaltet. Einsatzkräfte biegen ab und nähern sich: Sie beleuchten die Gebäude mit ihren Lampen und ziehen unter Buhrufen und Feuerwerkskörpern wieder ab.

Letzter Versuch einer Intervention in der Siedlung X: Ein einsamer Kleinbus nähert sich, fährt an einigen Barrikaden vorbei, verängstigte Polizisten steigen aus, werden unter Dauerfeuer genommen, ein Feuerwerkskörper fliegt in das Fahrzeug, sie ziehen sich an eine Wand zurück, steigen wieder in ihr Fahrzeug und verschwinden. Auf dem Weg nach oben nimmt der Bullentransporter uns ins Visier – er sieht aus wie ein Gespensterwagen. Sie trauen sich nicht mehr auszusteigen. Wir rennen wie verrückt die Straße hinauf und werden von Phantom-Bullen verfolgt. Um uns herum explodieren die Feuerwerkskörper in einem ohrenbetäubenden Lärm, „Bruder zielt besser“. Wir flüchten durch eine der vielen kleinen Seitenstraßen.

Wir gehen zurück zur Kreuzung in der Siedlung X. Alles ist ruhig, die Feuer werden geschürt und die Flammen steigen in die Höhe. Wenn ein Bullenwagen auftaucht, wird er unter Beschuss genommen. Alle warten darauf, dass die Bullen auftauchen, sie sind das Ziel Nummer eins. Aber sie kommen nicht mehr. Eine Oma im Nachthemd mit ihrem Mann beobachtet die Szene mit unverhohlener Freude. Sie sagt: „Warte, wir rufen sie an“. Die Jugendlichen antworten „ja ja“ und lachen und alle rufen gemeinsam an. Aber die Telefonzentrale ist überlastet und niemand kommt.

Die Straßen gehören uns. Die Plünderungen beginnen, von einem zum nächsten Laden. Aldi, Auchan, Monoprix, Picard, alles ist offen. Zuerst die Supermärkte, dann die Tabakläden und schließlich die Apotheken. Ende des Eigentums, für diese Nacht. Es ist ein Fest der Straffreiheit und doch werden nur die kapitalistischen Symbole ins Visier genommen, erstaunlich, nicht wahr? Die Granden der Siedlung gehen an der Kasse vorbei, die Späher reichen Poliakov Vodka durch die Autotür. Jemand bringt eine Tüte mit Süßigkeiten mit, die geteilt werden sollen. Die Plünderung erfolgt schrittweise: Zuerst der Alkohol, die Flaschen stammen aus dem Laden, Whisky, Wodka und Champagner. Dann werden die gepackten Tüten immer größer. Verächtlich werden Flaschen für 100 Euro ins Feuer geworfen, um die Flammen anzufachen. Wir gehen aus zum Essen: Jeder hat sein eigenes kleines Vergnügen, Nutella B-ready oder Oreo. Dann kommen einige Schwestern vorbei und gehen „einkaufen“. Sie verdecken ihr Gesicht mit einem Kopftuch und steigen durch das aufgebrochene Fenster ein. Dort liegen die Waren in greifbarer Nähe. Die Regale sind unbeleuchtet, aber frei zugänglich und kostenlos. Eine Aubergine liegt auf dem Boden. Nach stundenlanger Plünderung scheint der Laden immer noch voll zu sein.

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Ein paar kleine, vermummte Kinder rennen mit einer Packung Waschmittel unter dem Arm davon. Es ist verrückt, jeder will Waschmittel haben. Stundenlang kommen verstohlene Gestalten aus dem Loch. Das Spektakel ist euphorisch. Immer größere und unwahrscheinlichere Taschen: Sporttaschen, Mülltüten, Körbe. Aus einem Beutel, der aussieht wie ein Sack des Weihnachtsmanns, dringt das Geräusch von aneinander schlagenden Flaschen. Eine Frau geht mit einem vollen Einkaufswagen zwischen zwei Feuerstellen aus Sitzmöbeln hindurch. Limonadenpack in einer Hand, offene Bierpackungen in der Mitte der Straße. “ Wollen wir rauchen?“, eine Gruppe geht in die Nacht hinaus. Jemand findet einige Päckchen und verteilt sie. Einer entdeckt eine kugelsichere Weste, die er sofort anzieht, bevor er seinen Posten auf der Barrikade wieder einnimmt. Ein anderer ist überrascht und entdeckt einen Dildo, der bei allen für Heiterkeit sorgt. „Was ist mit der Apotheke?“ fragt jemand, und einige Sekunden später wird sie von einer Gruppe mit Fußtritten geöffnet, „für die Medikamente“.

3 Uhr Morgens. Die Kapitalisten müssen wütend sein, die Anrainer der Viertel grübeln in ihren Betten, die Nachbarn trauen sich nicht raus, schlafen aber auch nicht – sie schauen aus dem Fenster. Niemand wagt es mehr zu kommen. Es gibt kaum Geräusche, außer dass hier und da Feuerwerkskörper explodieren. Jede Ankunft ist verdächtig – Freund oder Feind? Einen Moment lang sah es nach einer Razzia aus, aber es war eine Bande auf Motorrollern. Ihre Ankunft löst eine kleine Party aus. Feuerwerk, Flaschen werden ausgetauscht, 360 Grad Drifts, Reifen werden heiß und die Gruppe fährt wieder. Später wird eine Gruppe zu Fuß unterhalb der Gebäude gesichtet, Bullen? Nein, es sind die Jungs aus der Siedlung Z, die uns besuchen kommen. Auf der verlassenen und ausgestorbenen Straße laufen 20 schwarz gekleidete, vermummte Personen mit Walkie-Talkies um den Hals und Mörsern auf der Schulter, die wie Gewehre getragen werden. Spät in der Nacht ist es ein Konvoi von 10 Autos, der hupend ankommt; die Mörserschützen sind bereit, aber es sind keine Polizisten. Die Leute parken, tauschen, öffnen die Kofferräume, füllen sie auf und fahren weg.

4 Uhr. Ein Auto mit urkomischen BAClern fährt vorbei, sie machen aber nur Fotos und fahren wieder weg. Es ist kein Geräusch mehr zu hören, die große Gruppe hat sich aufgelöst. Wir verlassen ungläubig die Siedlung. Andere kleine Gruppen kommen mit vollen Armen zurück. Eine Tasche wird auf dem Boden liegen gelassen, darin: Tiefkühlpizza, eine Packung Waschmittel, PAIC Zitrone, Häagen-Dazs-Eis und Toilettenpapier. Wir nehmen das Schmelzeis. In einem Gebäude in der Nähe unseres Gebäudes isst ein junger Mann, der mit einer Sturmhaube vermummt hinter einem Gitter steht, schweigend ein Eis. Wir lächeln uns an. „Komm gut heim, wir sehen uns morgen.“

Aus Neugier drängen wir bis zur Siedlung W vor. Wir sind überrascht, dass überall, absolut überall in der Gegend, das Gleiche passiert wie das, was wir gerade erlebt haben. Wir kommen zu einem Platz, auf dem ein ganzes Geschäft in Flammen aufgeht. Dichter Rauch steigt den Turm hinauf, der vom Feuer bedroht ist. Die Bewohner stehen draußen in ihren Pyjamas. Sie reiben sich die Augen, Kinder schlafen im Vorraum. Rundherum sind die Geschäfte geplündert. Eine andere Bande hält die Kreuzung. Jede Siedlung hat ihren eigenen Einflussbereich. Die Feuerwehr trifft ein, gefolgt von einer CRS-Staffel.

Die Polizisten schleichen sich unauffällig an einem Turm entlang. Dort erwartet sie ein heftiges Feuer. 30 lange Minuten lang werden sie unter Dauerfeuer von Feuerwerkskörpern stehen. Sie werden gestoppt und klammern sich an ihre Schilde, mit dem Rücken an die Wand geklebt. Die Einheit, die die Kreuzung hält, hat einen schlechten Ruf. Die Leute draußen sagen, dass sie niemanden durchlassen. Eine Mitschülerin erzählt mir, dass sie sehr misstrauisch sind. Als sie nach Hause gehen wollte, sagten sie zu ihr: „Wir kennen jeden, wer bist du? Wie lautet deine Adresse?“. Von den Polizisten abgewiesen, müssen wir eine Straße hinuntergehen und uns unter die Leute mischen. Die Jugendlichen hier sehen ehrfürchtig aus und greifen jemanden an: „Was machst du? Greif die Bullen an oder geh nach Hause, wir wollen keine Zuschauer, hast du gedacht, das ist ein Actionfilm oder was?“.

Wir gehen eine dunkle Parallelstraße hinauf, wo wir Leute aus X treffen. Eine von uns sagt: „Wir müssen eine Barrikade errichten, um die Leute aus W zu schützen“, die anderen stimmen zu: „Wir müssen ihren Rücken schützen“, und Mülltonnen werden quer über die Straße angezündet. Die Mülltonnen, die wir gerade anzünden, gehören unseren Kumpels, die um diese Uhrzeit wohl versuchen, zu schlafen. Aber die Mörser schweigen sowieso nicht. Im ganzen Viertel hallen die Explosionen wider, die Farben erobern den Himmel: rot, grün, blau, gelb, golden. Jemand sagt zu mir: „Alter, echt Alter, haben die Blitze“, und ich antworte: „Sie haben den Himmel auf ihrer Seite“.

Morgens auf dem Platz machen die Leute Fotos von den zerstörten Geschäften und besuchen den verwüsteten Monoprix. Alle erholen sich von einer unruhigen Nacht. Der Morgen ist die Stunde der linken Schnulzen, der Reaktionäre und der „Oh nein, der arme kleine Käsehändler“.

***

Selbst in unserem Lager gibt es Leute, die diese Revolte nicht verstehen, die nicht wissen, wie sie sich auf die Situation beziehen sollen; ganz zu schweigen von der extremen Linken und der institutionellen Linken, die natürlich in die Röhre gucken.

Wir stehen dem etwas sprachlos gegenüber: Das heißt, eine Revolte muss gelebt werden. Was wir sagen können, ist, dass die Polizei in diesem Land keine Grenzen kennt. Der Polizist, der Nahel getötet hat, war für seine Tapferkeit im Kampf… gegen die Gelbwesten ausgezeichnet worden. Heute sitzt er im Gefängnis und man spricht ernsthaft über diesen Fall. Das ist angesichts der vielen stillen Morde der letzten Jahre schon ein Sieg. Wir müssen diese Bewegung fortsetzen und die Regierung dazu bringen, ihre Polizei fallen zu lassen.

Denn da die Regierung und die Kapitalisten nur mit ihrer Hilfe regieren können, spielt die Polizei mit ihren fadenscheinigen Verlautbarungen den Erpresser. Erinnern wir uns an das alte Sprichwort: „Wer wird uns vor der Polizei schützen?“. Die Jugendlichen auf der Straße erinnern uns durch ihre Machtdemonstration daran, dass das, was uns vor der Polizei schützt, die Selbstverteidigung des Volkes ist. Die Jugendlichen in den Stadtvierteln haben es am Donnerstag, den 29. Juni, bewiesen: Wenn sich Banden gleichzeitig organisieren, können sie die Polizei zumindest für eine Nacht in Schach halten. Diese Erinnerung im Herzen der katastrophalen Zeit, in der wir leben, ist ebenso freudig wie notwendig.

Eine weitere Lehre, die man aus dieser Stärke ziehen kann: Die Jugendlichen konnten 40.000 Polizisten nur deshalb in Schach halten, weil sie sich auf bereits vorhandene Kräfte stützen, die über die logistische Frage hinausreichen und die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Gemeinschaft, Territorium, Organisation. Man darf dem Gejammer der einen oder anderen Seite nicht glauben: Die Revolte, die sich anbahnt, wird in den Arbeitervierteln breit getragen. Zwar werden die von den Jugendlichen eingesetzten Mittel in Frage gestellt, nicht aber die Entstehung einer Revolte nach diesem Mord. Die Jugendlichen, die auf der Straße sind, sind nicht besonders kriminell, und wenn sie sich der Polizei so mutig entgegenstellen, dann auch, weil sie sich alle mit Nahel identifizieren. Welchen Sinn hat es, in einem „republikanischen Pakt“ zu leben, der die Tötung eines der eigenen Leute erlaubt?

Wir dürfen uns nicht von faschistischen Reden oder dem spektakulären Einsatz der bewaffneten Truppen beeindrucken lassen, sondern müssen die Aufstandsbewegung unterstützen. Eine Entpolitisierung der Revolte wird nicht helfen, sondern im Gegenteil den Wachhunden der Macht Recht geben, die Aufständischen isolieren und sie nur noch mehr in den Nihilismus treiben, vor dem die Wohlhabenden so viel Angst haben. Diejenigen, die Zweifel an den Zielen oder den verwendeten Mitteln haben, sollen ihren Standpunkt auf der Straße vertreten, in direkter Konfrontation mit den Aufständischen, im Dialog mit ihnen und mit konkreten Vorschlägen. Zu den Plünderungen ist nichts Besonderes zu sagen. Bei der Plünderung geht es darum, die Gewalt der wirtschaftlichen Segregation zu beseitigen. Die Aufständischen wollen die Polizei anlocken, sich amüsieren, an das herankommen, was ihnen im Alltag vorenthalten wird: Sie zielen natürlich auf die Waren ab.

Gezeichnet X

Veröffentlicht am 3. Juli 2023 auf Lundi Matin. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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Die Barbaren beim Angriff auf das Imperium: Louisa Yousfi und die Banlieue-Rapper

Anna Curcio

Ein kommentierter Auszug aus ‘Restare barbari‘ von Louisa Yousfi (auf ital. bei DeriveApprodi 2023), um die Brände von Nanterre zu verstehen. 

***

J’ai grandi dans le zoo, j’suis niqué pour la vie.

Même si j’meurs sur une plage, j’suis niqué pour la vie.

Parce que ceux que j’aime ont la haine, j’suis niqué pour la vie.

Parce que j’cours après ce biff, j’suis niqué pour la vie.

PNL, Zoulou Tchaing, Deux frères, 2019

“Gegen Ende des Jahres 2015, als die Moral des Landes unter dem Eindruck der Terroranschläge [auf den Sitz der Satirezeitschrift ‘Charlie Hebdo’ im Januar und die koordinierten Anschläge an verschiedenen Orten in Paris, darunter das Stade de France und die Konzerthalle Bataclan im November] ins Wanken gerät, richten sich alle Augen auf die Banlieues, ein verfluchtes Gebiet, aus dem hasserfüllte junge Männer hervorgegangen sind, die mit einem Schlag von Kleinkriminalität zu blutiger Barbarei übergegangen sind. Man kann sich die schmutzigen Mauern einer Cité in Aubervilliers vorstellen, in den Händen von Schlägern in Trainingsanzügen, die mit Verbrechen und dem Islam jonglieren und über ihrem Elend brüten, gegen die ganze Gesellschaft.“

So beginnt eines der letzten Kapitel von ‘Restare barbari’ von Louisa Yousfi, einer Journalistin und dekolonialen Aktivistin, das in diesem Frühjahr in Italien veröffentlicht wurde. Wie ein „Schlag in die Magengrube“ bietet das Buch – so steht es im Klappentext – „eine außergewöhnliche Reise in die radikale Andersartigkeit“ der Banlieues und liefert uns unverzichtbare Analyseelemente, um die Brände von Nanterre in der vergangenen Nacht zu verstehen.

Eine magische Formel

Louisa, nach ihrer eigenen Definition eine „gute Schülerin der Republik, eine gute Eingeborene mit glattem Haar und einer gezähmten Zunge“, beschließt, der Rap-Musik die Lösung des Rätsels anzuvertrauen, das sie als „Eingeborene“ der französischen Republik beschäftigt: Wie kann man Barbarin bleiben? Wie kann man „diese Art von Barbarei beibehalten“ und sich „die Möglichkeit eines anderen Schicksals“ geben, eines Schicksals, das sich von dem unterscheidet, das die westliche, kapitalistische und rassistische Zivilisation bietet. Barbarisch zu bleiben sei „eine Zauberformel“, sagt sie mehrmals in dem Buch: die „Zauberformel“ des algerischen Dichters Kateb Yacine, um der Domestizierung zu widerstehen, die „in der Sprache des Imperiums“ Integration genannt wird.

„Wie können wir gute Texte ruinieren, wenn die Ehrbarkeit der Familie so schwer auf unseren Schultern ruht und unsere Stimme eine seltene Gelegenheit darstellt, dass unsere eigene einen Platz im Gespräch hat?“ Um das Dilemma zu lösen, lässt sie sich von der Rap-Musik inspirieren: „Weit davon entfernt, die Sprache des Rap in die Universalität der kritischen Intellektualität übersetzen zu wollen, habe ich das Gefühl, dass es die Rapper sind, die für mich sprechen. Nicht von mir, sondern für mich. Ihre Sprache, mit ihren Exzessen, ihrer Respektlosigkeit gegenüber der konventionellen Grammatik, gibt meinem integrierten Schreiben die Möglichkeit, ein wenig zu atmen (…) Während sie barbarisch bleiben, sprechen sie für mich, für uns“.

Deshalb vertraut sie der Prosa der Banlieue-Rapper Booba und PNL ihre kompromisslose Kritik an der westlichen Zivilisation und ihrer gewaltsamen Integrationspolitik an.

Que la famille

Es ist „ein Schwur des Hasses (…), der aus der vom Rap besungenen Banlieue aufsteigt“: „zwei Brüder aus einer Cité in Corbeil-Essonnes, die, wie sie selbst zugeben, von einem abgrundtiefen Hass erfüllt sind. Die Geschichte der Rap-Gruppe PNL beginnt hier: inmitten einer Katastrophe.

PNL ist die isolierte Banlieue, der Banlieue-Zoo, der als eine Erweiterung des Gefängnisses erlebt wird. In seinem Herzen entsteht ein Ökosystem mit eigenen Codes und einer eigenen Sprache. Die PNL kommen von dort (…) Am Eingang dieser Hinweis: Qlf (Que la famille). Zu lesen: Geh weg. Wenn du nicht zur Familie gehörst, wirst du nichts verstehen. Textlich, phonetisch und musikalisch wird dir das alles unverständlich, vielleicht sogar lächerlich vorkommen. Suche nicht weiter. Diese Welt ist nicht für dich gemacht, und niemand wird sie dir erklären können, einfach weil diese Dinge nicht durch Bedeutung, sondern durch Gruppenzugehörigkeit, durch Blutszugehörigkeit entstehen. So viel zum Dialog. Die PNL-Banlieue macht keinen „bewussten“ Rap, appelliert an keine Institution, ruft kein Gewissen auf den Plan. Sie erwartet nichts mehr von der Außenwelt, sie will ihr nichts mehr zu sagen haben. Etwas ist kaputt, aber es ist zu spät, darüber zu sprechen.

(…) Qlf, das Motto des Clans, wird zu einem umfassenderen Aufschrei als erwartet. Er wird von allen „schwarzen Schafen“ der Gemeinschaft ausgestoßen, die ihre Würde zurückgewinnen, indem sie sich eine entscheidende Rolle in der generellen Ökonomie der Gemeinschaft zuschreiben.

PNL – Deux Frères

Im Clip von Deux frères [Track aus dem gleichnamigen Album von 2019] wird ein Kind in der Nacht von einem Aufstand unter seinem Fenster geweckt. Es ist Oktober 2005, und das Kind weiß es: Es gehört zu den vermummten Wilden, die die CRS unterdrücken soll. Diese Eröffnungsszene wirft ein Licht auf den Rest. Sie sagt: Hier müsst ihr erwachsen werden. Aber für die Generation der PNL-Brüder ist das Ende der Kindheit bereits gekommen, es ist das Alter, in dem der republikanische Mythos zerbröckelt, in dem die realen und symbolischen Grenzen zwischen „ihnen“ und „uns“ gezogen werden. Zyed und Bouna, die kleinen Brüder sind tot und es gibt nichts mehr zu retten.

Fürs Leben gefickt

„(…) Deux frères, ist wie ein Epilog geschrieben, der von der Erinnerung an das Leben, das sie nicht mehr führen, heimgesucht wird. Das letzte Stück, La misère est si belle, ist eine lange Widmung an alles, was die Hässlichkeit des Elends ausmachte: „meine Kakerlaken“, „mein Keller“, „mein Wohnzimmer“, „meine traurige Decke“, das „Rer C“, das „Bat C“, „an mein Leben“… Sie versuchen nicht, ihre frühere Welt wiederherzustellen, indem sie sie als „schön“ betrachten und die gesellschaftlich akzeptierten Aspekte bewerten. Sie sagen, dass die Schönheit ihrer Welt gerade in ihrer Hässlichkeit liegt. Sie haben das umgekehrte Paradox erfahren: Die Schönheit der Welt da oben ist aus der Nähe betrachtet ekelhaft. Sie hat nichts moralisch Überlegenes zu bieten im Vergleich zu dem Leben, das sie hinter sich gelassen haben. Sie ist sogar trostlos, diese Schönheit. Wenn man sagen kann, dass „das Elend so schön ist“, so liegt das nicht an der Amnesie des Parvenüs, sondern an der Reaktivierung vergangener Gefühle und vergessener Erinnerungen, die die Würde der Nobodies dieser Welt ausmachen. 

Diese a posteriori-Rekonstruktion der Vergangenheit wird als eine Abfolge von Bildern eines moralischen Zustands verarbeitet. Es ist ein innerer Zusammenbruch, der es erlaubt, aus den eigenen Ruinen das zu wählen, was es wert ist, gerettet zu werden: „Ils ont détruit nos tours / Détruiront pas l’empire qu’on a construit dans nos cœurs (Sie haben unsere Türme zerstört / Sie werden das Reich nicht zerstören, das wir in unseren Herzen errichtet haben) [PNL, Sibérie, Deux frères, 2019].

Dieses innere Reich muss als eine neue Deklination der katebianischen „Spezies der Barbarei“ verstanden werden. Am Ende ihres unerbittlichen Wettlaufs zum Gipfel machen die beiden Brüder schließlich kehrt: Sie sind nun freiwillig kontaminiert und unheilbar. Zum Glück, “gefickt für das Leben“: “niqué pour la vie”.

„Das ist die Intuition des Buches: Wenn der Rap in sich selbst so etwas wie eine Ethik der bleibenden Barbaren herauskristallisiert, müssen wir ihn uns als das literarische Schicksal des Rap vorstellen, der seine Macht zurückgewinnt und sich rüstet, um sich jenseits von Heiligkeit, Vorbildlichkeit und sogar Schönheit zu erklären (…) Die Ethik und vor allem die Ästhetik der bleibenden Barbaren liegt zweifellos in dieser Weisheit: eine Aussetzung des Urteils, eine Gnade“.

Und die jungen Banlieuesards, die im Laufe der Nacht mehrere Cités der Île-de-France in Schutt und Asche gelegt haben, wissen wie das Kind im Clip von Deux frères, dass “Barbaren zu bleiben“ “ein politisches Zeichen“ ist: „welch ein frischer Wind!“

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Anna Curcio, Forscherin, Essayistin und kämpferische Übersetzerin, hat in Italien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gelehrt und geforscht. Gegenwärtig unterrichtet sie juristische und wirtschaftliche Themen an Gymnasien. Sie untersucht die Veränderungen der produktiven und reproduktiven Arbeit im Zusammenhang mit Race und Geschlecht.

Sie hat für DeriveApprodi: Introduction to Feminisms (2019) und Black Fire (2020) herausgegeben.

Der Text erschien am 30. Juni 2023 auf Machina, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

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ACAB – Marche blanche und AUFSTAND für Nahel

Norma Thameng

Einige Worte zum 29. Juni 2023 in Nanterre

Zwei Tage nach dem Tod von Nahel, der bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre von einem Polizisten erschossen wurde, fand am Freitagnachmittag, dem 29. Juni, in den Straßen der Stadt eine Gedenkdemonstration (marche blanche) statt, die seinem Andenken gewidmet war.

Tausende Menschen waren anwesend (6000 laut Polizei – wie von den Medien berichtet -, aber wahrscheinlich viel mehr, da die Menge extrem kompakt war, viel mehr als auf den üblichen Demonstrationen). Viele Menschen aus Nanterre, natürlich, aber auch aus der gesamten Pariser Region: Junge, alte Menschen, Menschen aller Hautfarben, unterschiedlicher Herkunft, alle waren im Gedenken an Nahel versammelt, mit der Hauptparole „Gerechtigkeit für Nahel“, aber auch gegen die Institution Polizei, die seit viel zu langer Zeit für viel zu viele Tote verantwortlich ist, regelmäßig, wiederholt, und es ist traurig, das zu sagen, aber auch auf banalisierte, normalisierte Art und Weise.

Während dieses Marsches und lange bevor es zu Krawallen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, war die kollektive Energie bereits elektrisiert, die Wut war spürbar, sowohl in dem recht schnellen Tempo des Marsches als auch in den Slogans, die die Menge rief, und den Inschriften, die im Laufe der Demonstration an den Wänden erschienen.

Über „Gerechtigkeit für Nahel“ hinaus reichten die von der Menge gerufenen Slogans von „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“ über „Ein Bulle, eine Kugel, soziale Gerechtigkeit“ bis hin zu „Jeder hasst die Polizei“, „Polizei Mörder“, „Nieder mit dem Staat, den Bullen und den Faschos“, „Bullen-Vergewaltiger- Mörder“ und sicherlich noch einigen anderen, die ich vergessen habe. Die Polizei war eindeutig das Hauptziel der Wut, die sich ausdrückte. Auf jeden Fall war in den Slogans das Zusammentreffen unterschiedlicher, aber kompatibler politischer Kulturen zu spüren, zwischen der Jugend aus den Arbeitervierteln, den erfahreneren antirassistischen Aktivisten, den Anarchisten und Autonomen, die in den letzten Monaten zahlreich in der Bewegung gegen die Rentenreform vertreten waren, und sicher noch einer ganzen Reihe anderer Leute. Diese Begegnungen sind nicht neu, sie fanden bereits in schönen Momenten des Kampfes statt, zum Beispiel 2006 während der Bewegung gegen den CPE oder 2017 während der Solidaritätsrevolte mit Théo (der in Aulnay-sous-Bois von der Polizei grausam angegriffen worden war).

Soviel zum Kontext, aber ich möchte euch von einer kurzen Diskussion erzählen, die ich während des Marsches mitbekommen habe.

Als ein Typ gerade „ACAB“ auf ein Straßenschild geschrieben hatte, fragte ihn ein anderer:

Was bedeutet „ACAB“?

All Cops Are Bastards, alle Polizisten sind Bastarde.

Ah okay… Ich denke, es sind nicht alle Bastarde, es gibt einige, die in Ordnung sind.

Hmm, es gibt sicher einige, die menschlich gesehen gute Menschen sind, aber das Problem ist, dass ihre soziale Funktion schlecht ist und sie als Polizisten nur dem System dienen können.

Hör zu, ich bin in dieser Stadt geboren, ich lebe seit über 35 Jahren in dieser Siedlung und ich sage dir, dass nicht alle Polizisten Scheiße sind.

Okay, aber wem und was dienen sie? Auf jeden Fall nicht für uns. Selbst wenn einige von ihnen nett sind, ändert das nichts an ihrer sozialen Funktion, ein ungerechtes System aufrechtzuerhalten.

Ja, aber wenn es keine Polizei gäbe, würde Chaos und Anarchie herrschen.

Aber das ist keine Anarchie! Anarchie ist nicht das Chaos, sondern eben eine soziale Organisation ohne Hierarchie, die die Existenz der Polizei überflüssig macht, eine Gesellschaft, in der es keine sozialen Ungleichheiten mehr gibt wie im kapitalistischen System, wo es sehr reiche Menschen gibt, die auf Kosten der anderen leben.

Ah, aber du bist Anarchist?

Ja. Ich bin übrigens nicht der einzige. Und im Gegensatz zu dem, was Darmanin sagt, sind wir keine Bourgeois.

Es ist toll, dass ihr hier seid, genießt es.

Danke!

Dieses kleine Gespräch während des Marsches ist nur ein Beispiel für das gute Einvernehmen zwischen den Menschen, sowohl während des Marsches als auch während der anschließenden Krawalle, bei denen es eine Solidarität zwischen allen gab, die schön anzusehen war (in Momenten der Konfrontation, auf der Flucht, beim Austausch von Informationen, bei der medizinischen Hilfe und dem Teilen von Kochsalzlösungen gegen die Auswirkungen von Tränengas usw.).

Die aktuelle Revolte wird eindeutig von den Jugendlichen in den Arbeitervierteln des ganzen Landes initiiert, und Glückwunsch zur Entschlossenheit und zum Einfallsreichtum bei den Krawallen! Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um zu sagen, dass diese Revolte anschlussfähig ist und dass, wenn sie sich auf andere Bevölkerungsgruppen ausweitet, die Machthaber noch mehr Sorgen haben werden! Wir werden das brauchen, um den Staat und den Kapitalismus zu Fall zu bringen, wir werden es brauchen, dass wir alle mitmachen, über unsere (vermeintlichen) Unterschiede hinweg.

Damit die Solidarität weitergeht, kann es hilfreich sein, zu den Schnellverfahren zu gehen, um die Menschen zu unterstützen, die vor Gericht stehen. Verfolgt diese in den verschiedenen Gerichten im Großraum Paris, insbesondere in Nanterre und Bobigny, aber nicht nur dort.

Viel Mut für Nahels Angehörige und alle, die kämpfen.

Norma Thameng

Dieser Text erschien am 30. Juni 2023 auf Paris-Luttes.Info und wurde von Bonustracks in Deutsche übersetzt. 

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Wenn die Aufstände geboren werden

Flammende Kommentare zu dem Flächenbrand, der durch die Ermordung von Naël in Nanterre am 27. Juni ausgelöst wurde.

Im Sturm auf die alte Welt

Eine ganze Jugend stürmte die alte Welt und ihre falschen Versprechungen. Rathäuser, Schulen, Mediatheken, Kulturzentren, Supermärkte, Banken, Optiker: Was sich in den Nächten des 27. und 28. Juni abspielte, ging weit über die Frage der Polizeigewalt hinaus. Mit einer einzigen Bewegung erklärte die Jugend der Polizei den Krieg, da sie der Meinung war, dass die Schwelle des Erträglichen in der Polizei Herrschaft überschritten worden war. Und es ist nur natürlich, dass sie beschlossen hat, den Konflikt auf das Terrain der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft zu verlagern, die auf ihrem Leben und ihrer Zukunft lastet. Anders und schon gar nicht getrennt lassen sich die Angriffe dieser beiden Nächte – und alle, die noch folgen werden – nicht verstehen.

Ruhm für die Aufständischen

Auf die Ermordung ihres Bruders durch eine Kugel antwortete die aufgegebene und ghettoisierte Jugend mit einer kompromisslosen Feuerflut. Zunächst gegen die Polizei, dann gegen alle gesellschaftlichen Kräfte, die an ihrem Ausschluss und ihrer Unterdrückung beteiligt sind. In Clichy warf ein Aufständischer etwas, das wie eine scharfe Granate aussah, auf Polizisten. In Roubaix wurde ein sogenannter Mörser mit 800 Schuss pro Minute eingesetzt, um die Ordnungskräfte in Schach zu halten. In Vigneux wurden Überwachungskameras mit Schusswaffen ausgeschaltet. In Neuilly-sur-Marne drangen Aufständische auf den Parkplatz der Polizeistation ein und setzten die Fahrzeuge der Stadtpolizei in Brand. Es gibt unzählige Polizeireviere, die mit mehr oder weniger Erfolg angegriffen wurden. In Dammarie-les-Lys und Trappes zwang die Organisiertheit der Aufständischen die Polizisten, ihre Polizeistation zu verlassen. Auch die Rathäuser bekamen ihr Fett weg: Das Rathaus von Val Fourré in Mantes-la-Jolie ging ebenso in Flammen auf wie das von Garges-lès-Gonnesse. Das von Mons-en-Barouel wurde verwüstet und geplündert. Amiens, l’Île-Saint-Denis, Montreuil, Romainville: Die Liste der Rathäuser, die ins Visier genommen und in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist so lang wie Sarkozys Anklageerhebungen. In Nanterre wurde die Präfektur von Feuerwerkskünstlern ins Visier genommen. Gleichzeitig griffen die Flammen auf Busse und Straßenbahnen, Schulen und Kulturzentren, Supermärkte und Fast-Food-Restaurants, Optiker und Banken über. In der Nacht des 28. Juni, während ein Abgeordneter von La France insoumise, der am Vortag in Nanterre bei der politischen Vereinnahmung erwischt worden war, sich von seiner Strafe erholte, griffen Aufständische das Gefängnis von Fresnes an und zwangen den Staat, aus Angst vor einem Massenausbruch die RAID einzusetzen.

Keine Distanzierung wird toleriert

Das kleine Karussell der Linken, die es eilig hat, die Revolte zu vereinnahmen und sich als Sprachrohr und legitime Vertreterin dieser aufständischen Jugend zu etablieren, ist eingerostet. Sein Quietschen ist nervig. In den Zonen des geografischen Abstiegs und der sozialen Ausgrenzung, in denen der Staat seine unerwünschten Personen parkt, reichen die Versprechungen der öffentlichen Politik nicht mehr aus. Ebenso wenig wie Petitionen, die die Auflösung der BRAV-M fordern. Eine Gesellschaftsordnung lässt sich ebenso wenig auflösen wie ein Aufstand oder eine Generation. Das hat die Jugend verstanden. Ihre Revolte ist eine kompromisslose Kritik an allen Aspekten ihres beherrschten Lebens. Genug von den überteuerten, beschissenen Transportmitteln, die gerade einmal dazu taugen, einen zur Kohlengrube zu bringen, in denen bewaffnete paramilitärische Rekruten patrouillieren. Genug von den Schulen und der kulturellen Betreuung, die ihre Formatierung durchsetzen und alles Lernen dem Imperativ der Berufs- und Arbeitsberatung unterwerfen. Genug von Aldi und Lidl, wo dich alles an deine Armut erinnert und alle deine Entscheidungen erzwungen werden. Genug von den Straßen ohne Zukunft, die mit Überwachungskameras und Polizeipatrouillen markiert sind, die deinen Lebenshorizont zerstören und die du aus Mangel zu lieben gelernt hast. Genug von McDonald’s und seinen seelenlosen Burgern, genug vom Optiker und seinen überteuerten Brillengestellen, genug vom Geldautomaten, der unsere leeren Taschen verspottet. Wir haben all diese falschen Bedürfnisse und künstlichen Wünsche satt, die uns auferlegt werden.

Panik an Bord

Der rechtsgerichtete Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne erklärte heute Morgen: „Es ist das Wesen des öffentlichen Sektors und der Republik, das heute angegriffen wird.“ Vorgestern geißelte die NUPES-Abgeordnete Sabrina Sebaihi diejenigen, die es eilig haben, die Jugendlichen in den Arbeitervierteln als „Wilde“ hinzustellen. Auf beiden Seiten des Parteienspektrums herrscht Panik. Wie kann man die Ordnung wiederherstellen, ohne zu sehr unter der Unordnung zu leiden – oder sogar von ihr profitieren? In der Regierung mehren sich die Signale, nicht ohne Widersprüche: Schweigeminute in der Versammlung und Redebeiträge von Darmanin, Einsatz von Drohnen im Eilverfahren und Ankündigung, 40 000 Polizisten im ganzen Land einzusetzen. Während die politische Klasse aktiv wird, gehen die Menschen nach draußen. Der Platz vor der Präfektur in Nanterre quillt bereits über. Jeder weiß, dass der weiße Marsch für Naël eine weiße Nacht für die Schweine ankündigt.

Der Sturm auf den Himmel

Das reibungslose Funktionieren der politischen, wirtschaftlichen und polizeilichen Herrschaft dieser Gesellschaft steht auf dem Spiel. In den Arbeitervierteln haben die inländischen Exilanten keinen Ort mehr, an den sie gehen können. Sie weigern sich, sich mit ihrem Zustand als universelle Fremde abzufinden. Sie wissen, dass keine öffentliche Politik ihre Probleme lösen wird, denn sie wissen, dass diese Welt auf ihrer Ausgrenzung aufgebaut wurde und nur durch sie aufrechterhalten wird. Sie tragen eine neue Welt in ihren Herzen. Sie wissen, dass sie, um sie erblühen zu sehen, ihre Betonhölle zertrümmern und ihre erbitterten Verteidiger ein für alle Mal loswerden müssen. Polizisten, Politiker, Beamte, Bosse, Stadtplaner: Sie werden nicht ewig damit durchkommen. Etwas hat sich geändert. Diese Jugend ist zu einer selbstbewussten Kraft geworden. Sie spürt den Himmel an ihren Fingerspitzen.

Gerechtigkeit für alle. Würde für alle. Freiheit für alle.

Die Aufständischen in der Metropole

Erschienen am  30. Juni 2023 auf Paris-Luttes.Info, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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WENN ES NUR NOCH EINE MAUER GEBEN SOLLTE

Ghassan Salhab

Revolution über uns-selbst. Diese Worte tauchten zum ersten Mal im Stadtzentrum von Beirut auf. Die letzten zwei Worte, über uns-selbst, waren dem Wort Revolution hinzugefügt worden, das bereits überall, auf mehr als einer Wand, in mehr als einem Viertel, mit Schablonen aufgetragen worden war, zwar aus vollem Herzen skandiert, aber sehr schnell fetischisiert, in seiner eigentlichen Handlung eingefroren, schlichtweg blockiert.

Diese beiden Worte, die mit einer schwarzen Sprühdose hinzugefügt wurden, versuchten, das ursprüngliche (azurblaue) Wort zu erweitern und uns daran zu erinnern, dass das Feld der Revolte ebenso eine persönliche, intime Angelegenheit ist, sie versuchten, das Feld jenseits und innerhalb aller Symbolik zu öffnen. Sie wurden kurz darauf von einem jungen Mann bei einer Versammlung im Oktober 2019 auf dem Al-Nour-Platz (wörtlich: „Das Licht“) in Tripoli im Norden des Libanon artikuliert. Revolution über uns-selbst, diese Infragestellung zunächst und zuallererst, soll er gesagt haben, bevor jemand anderes das Wort ergriff und das berühmte „Das Volk will den Sturz des Regimes“ anstimmte. Habe ich diesen jungen Mann gehört, vielleicht auf Video, oder hat man mir berichtet, was er gesagt hat? Habe ich mir das nur eingebildet? Einige Wände in der Hauptstadt sind jedoch noch immer davon geprägt. Eine Frau hatte zum allerersten Mal gehandelt. Was plötzlich in unser Leben getreten war, hatte sofort oder fast sofort alles, was ist und was war, auf den Kopf gestellt. Es war sicherlich keine Lektion, die sie uns erteilen wollte, es war das, was in ihr, für sie, hier und jetzt geschah. Was wirklich geschah, in der Gegenwart. In einem Augenblick. Mehr als ein Mensch, vor allem Frauen, haben an mehr als einer Wand, mehr als einer Fassade, direkt auf dem Asphalt gewütet. Mehr als ein Satz, mehr als ein Lied, mehr als ein Riss. Auf unsere Zügellosigkeit!, beharrten wir.

Auf dieser Mauer ganz am Ende der Hamra-Straße in Beirut steht ein Wort, das direkt darüber geschrieben ist, ein weniger kräftiges Rot, der dritte Buchstabe teilweise verblasst, in einer weniger runden Schrift, und das man übersetzen könnte mit: permanent, immerwährend. Eine permanente Revolution über uns selbst? Oder, ganz einfach, handelt es sich um die Parkzeiten, da es sich um die Wand eines Parkplatzes handelt. Und dann sind da noch diese drei Ziffern: 7-30, dieser Bindestrich dazwischen. Eine sehr frühe Stunde für den Großen Abend, es sei denn, es handelt sich um den Tag nach dem großen Umsturz mit noch klebrigen Mund. Die Determinanten des Morgens. Und wenn diese drei Worte uns ernsthaft dazu auffordern würden, endlich jedem Versuch der Machtergreifung den Rücken zu kehren, den Begriff der Macht selbst umzukehren und ihn gegen sich selbst zu wenden. Das war die Herausforderung der Zapatisten in Chiapas und ist es immer noch. „Man sagt uns, dass man das nicht tun kann, dass es in keiner politischen Theorie existiert, dass es unmöglich ist, eine politische Revolution zu planen, ohne die Übernahme der Macht zu wollen“, schrieb Subcomandante Marcos.

Die Leute lachten ihn aus, nannten ihn einen Schelm, einen Komiker vom Dienst und sogar einen Betrüger. Man hätte ihm entgegnen können, dass dies in einer homogenen Gesellschaft wie der der indigenen Bevölkerung in diesem Teil Mexikos weitaus weniger kompliziert zu bewerkstelligen ist. Doch so komplex unsere moderne Lebensweise auch sein mag, wir können nicht länger umhin festzustellen, dass jede Machtübernahme unweigerlich das Ende der politischen Revolutionen bedeutet und sie sogar auslöscht. Ein mehrfach wiederholtes Begräbnis. Es ist undenkbar, auf demselben Weg zu beharren und die bisherigen Misserfolge als Fehler in der Strategie, in den Bündnissen oder ähnlichem zu betrachten. Ebenso unvorstellbar ist es für uns, nicht festzustellen, dass die wenigen Gegenbeispiele seit (mindestens) der unheilvollen industriellen Revolution jene sind, in denen eine echte politische Horizontalität praktiziert wurde, alle Verantwortlichkeiten geteilt wurden, egal auf welcher Ebene, aber dass diese Gegenbeispiele sich nie lange genug halten konnten, um eine praktikable Alternative anzubieten, es sei denn, man lebt weit weg von jeglicher „Zivilisation“ und den damit verbundenen unersättlichen Begierden.

Unsere Gegner waren schon immer furchterregend, und heute sind sie es mehr denn je. Sie untergraben unermüdlich jedes Terrain, vervielfachen alle Arten von Waffen, von den traditionellsten bis zu den fortschrittlichsten, überwachen unsere Handlungen und Gesten, entschlüsseln den kleinsten Hauch unserer Versuche, das geringste Zögern. Die größte Bedrohung durch unsere Gegner geht jedoch von ihrer unerschöpflichen Fähigkeit aus, jeden Hauch des Unvorhergesehenen, des Unberechenbaren an der Quelle aufzuspüren, wo immer es auftreten könnte, nicht um es auszurotten, sondern um es umzuleiten und so schnell wie möglich in dem Räderwerk dieser gewaltigen Maschine, der Gesellschaft des Spektakels, zu recyceln, eine Maschine, die immer noch quer durch alle Formen politischer Regimes verläuft, die sich technologisch immer wieder erneuert und sich von allem und seinem Gegenteil nährt, einschließlich der schärfsten, radikalsten Kritik, ganz zu schweigen von der neuesten: dem politischen „Washing“ in jeglicher Hinsicht.

Und wenn sich die Umleitung als unpraktisch erweist, wenn das Unvorhergesehene hartnäckig bleibt und zum Widerstand wird, wird die Reaktion einfach unerbittlich sein, Revolution über uns-selbst, oder wir werden wieder und wieder an denselben Riffen scheitern, wieder und wieder unsere Toten zählen, wieder und wieder unsere Tränen und unseren Groll hinunterschlucken müssen. Und es reicht leider nicht aus, Horizontalität und Vertikalität einander gegenüberzustellen. Ohne eine starke, klare und offene politische Linie droht, so paradox es auch sein mag, die Gefahr, dass die Dinge im Sande verlaufen. Wir erleben es immer wieder, hier wie überall und gleichzeitig: Jede starke politische Linie hat die unangenehme Tendenz, uns schnell die Schwelle zwischen Autorität, die, wie man meint, „natürlich“ am Anfang steht und die richtigen Entscheidungen ermöglicht, und Autoritarismus überschreiten zu lassen. Wir wissen nur zu gut, dass die Tyrannei nie weit entfernt ist und auf der Lauer liegt, vor allem in Ausnahmesituationen. Alles geht dann so schnell, dass wir kaum Zeit haben, uns der katastrophalen Überschreitung bewusst zu werden.

Die Heterogenität der rebellierenden Gruppen an diesem berühmten Ende des Jahres 2019 hätte (sich) eine echte Infragestellung anbieten, jede Gewissheit über den Haufen werfen und umstoßen können. Sicherlich war auch hier die abgerungene Zeit nicht ausreichend, da neben den auf allen Ebenen grassierenden Gegnern aller Art auch die Covid-19-Pandemie den Schwung abrupt gebremst hat. Sicherlich haben die schreckliche Explosion am 4. August 2020 und der Schwanengesang der Großdemonstration am 8. August den Tiefpunkt markiert. Die einfache Wahrheit ist, dass es uns nicht gelungen ist, eine vorwiegend aus dem Bauch heraus entstandene Revolte in ein politisches Projekt umzuwandeln (außer in der „Mitte“, indem wir den ewigen Rechtsstaat fordern, als ob diese beiden Worte, die angeblich eins sind, ein Sesam-öffne-dich wären, als ob sie nicht beliebig interpretierbar und biegbar wären), in ein anderes Leben, zunächst einmal ein gemeinsames. Sehr schnell übernahm die beklagenswerte Machtfrage die Oberhand und schränkte jede Debatte ein.

Revolution über uns-selbst, drei Wörter, mit denen sich niemand mehr aufhält, niemand hat sich wirklich damit beschäftigt, aber sie bleiben trotz allem in der Schwebe. Eine Mauer würde genügen, könnte man sich sagen. Ist das ein schwacher Trost?

In diesen beispiellosen Zeiten der Verwüstung des Lebens kann ich nur auf das 1902 erschienene Hauptwerk von Peter Kropotkin “Gegenseitige Hilfe, ein Faktor der Evolution”, zurückgreifen, in dem er den Pseudo-Sozialdarwinismus und den sogenannten „Kampf ums Dasein“ widerlegt: Es ist nicht die Liebe zu meinem Nachbarn – den ich oft gar nicht kenne -, die mich dazu bringt, einen Eimer Wasser zu ergreifen und zu seinem brennenden Haus zu eilen; es ist ein viel umfassenderes, wenn auch vageres Gefühl: ein Instinkt der menschlichen Solidarität. So verhält es sich auch bei den Tieren. Es ist nicht Liebe oder gar Sympathie (im strengen Sinne des Wortes), die eine Herde von Wiederkäuern oder Pferden dazu bringt, einen Kreis zu bilden, um einem Wolfsangriff zu widerstehen: noch die Liebe, die Wölfe dazu bringt, sich zu Rudeln zusammenzuschließen, um zu jagen; noch die Liebe, die kleine Katzen oder Lämmer dazu bringt, miteinander zu spielen, oder ein Dutzend Arten von Jungvögeln, im Herbst zusammenzuleben; und es ist weder Liebe noch persönliche Sympathie, die Tausende von Rehen, die über ein Gebiet so groß wie Frankreich verstreut sind, dazu bringt, Herdenverbände zu bilden, die alle zum selben Ort marschieren, um an einer bestimmten Stelle einen Fluss zu überqueren. Es ist ein Gefühl, das unendlich viel weiter reicht als persönliche Liebe oder Sympathie, ein Instinkt, der sich bei Tieren und Menschen im Laufe einer extrem langsamen Evolution entwickelt hat und der Tiere und Menschen gelehrt hat, wie stark sie sein können, wenn sie sich gegenseitig helfen und unterstützen, und welche Freuden ihnen das soziale Leben bereiten kann.

Erschienen am 27. Juni 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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Für Nael und die Anderen

Da ist er also, wieder einer, einer mehr, einer von uns, der durch die Kugeln der Polizei stirbt. Er war 17 Jahre alt. Der Polizist hält ihm die Waffe an den Kopf und sagt ihm, dass er schießen wird. Er flieht. Der Polizist schießt. Ein Mann ist tot. Muss erst ein Bruder getötet werden, um sich in einen Moment der Solidarität zu verlieben?

Ein Toter und das immer gleiche Defilee. Der Aufmarsch der Experten für umfassende Sicherheit, der Politiker, der Polizeigewerkschaften, der Präfekten, kurzum der Aufmarsch all dieser Leute, die lang und breit erklären, dass die Polizei vorbildlich ist, dass die Justiz ihre Arbeit machen wird, dass das Gesetz das Gesetz ist. Sie werden weiterhin in den Medien und auf Pressekonferenzen ihren Dreck von sich geben. Mit dieser Flut von Worten versuchen sie, die Wahrheit zu verbergen, die doch so einfach ist: Die Polizei tötet. Der Schuss eines Polizisten ist nur die Folge von Gesetzen, die Schüsse bei Verweigerung des Gehorsams gegenüber Anordnungen legitimieren, von all diesen Experten, die immer gewalttätigere und ausgeklügeltere Waffen propagieren, damit das Innenministerium immer mehr davon kaufen kann, von diesen Politikern, die immer dieselben Teile der Bevölkerung stigmatisieren, die Gefährlichen, die Radikalisierten, die Nichtrepublikaner, den inneren Feind. Sie bauen einen rassistischen Diskurs auf und durch ihre Äußerungen rechtfertigen und bereiten sie den Boden vor. Von Sarkozy bis Darmanin, ein und dieselbe Rhetorik, die versucht, den Tod eines Menschen zu rechtfertigen, weil ein Polizist müde ist oder weil der Mann, der sich weigert zu gehorchen, schließlich weiß, was ihn erwartet.

Von daher ist es unmöglich, ruhig zu bleiben. Niemand wird die Gewalt der Polizei besser bekämpfen als diejenigen, die sie tagtäglich erleben, erleiden und kennen, die Gewalt, die unsere Viertel durchdringt. Bereits 2005 hatten sich unsere Brüder erhoben und sich ehrenhaft gegen diejenigen gestellt, die ihnen und ihren Familien so viele Jahre lang Leid zugefügt hatten. Um also der Gruppe la Rumeur zu antworten, die sich vor einigen Jahren fragte: „Bis wann, wie lange wird das Ghetto so geduldig bleiben?“, so antworten wir, dass an diesem Abend des 27. Juni einige sich weigern, sich zu unterwerfen, also handeln und nicht schweigen werden.

Keine Gerechtigkeit, kein Frieden. Heute und in den kommenden Tagen geht es darum, an der Seite der Menschen zu stehen, die sich auflehnen, Verbindungen zu knüpfen, bei Bedarf juristische und Anti-Rep-Hilfe zu leisten (und ohne sich als Lehrer aufzuspielen), Texte zu schreiben, sie zu verteilen, Schilder und Transparente zu erstellen. Wenn die Verbindung hergestellt wird, wie es in der Vergangenheit in gewissem Maße der Fall war (Fall Théo, Adama usw.), können wir wirklich behaupten, dass wir intersektional sind, zumindest dass unsere antirassistischen Tiraden nicht ausschließlich Worte ohne Taten sind.

Nael M. 17 Jahre. Von der Polizei ermordet.

Veröffentlicht am 28. Juni 2023 auf Paris-Luttes.Info, übersetzt von Bonustracks.

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NANTERRE: EINE NEUE POLIZEILICHE HINRICHTUNG

Contre Attaque 

Die Szene ereignete sich gegen 8.30 Uhr in der Nähe der RER-Station Nanterre-Préfecture in einem Pariser Vorort. Bei einer Fahrzeugkontrolle richtete ein Motorradpolizist seine Waffe auf die vitalen Körperteile eines Fahrers und schoss dann, als das Fahrzeug losfuhr. Der 17-jähriger Jugendliche starb kurz darauf und ein Beifahrer wurde festgenommen.

Die Polizeiversion berichtet, dass „der Fahrer zunächst anhielt, bevor er in die Richtung der Beamten beschleunigte“. Auf dem Video ist zu sehen, dass die Polizisten nicht in Gefahr waren und dass das Fahrzeug nicht in ihre Richtung beschleunigte, da sie sich am Straßenrand befanden. Im Übrigen gefährdet das Abfeuern von scharfer Munition auf ein Fahrzeug mitten im Verkehr nicht nur alle Autofahrer in der Nähe, sondern führt auch zu einer schweren Verletzung oder Tötung des Fahrers, auf den geschossen wird.

https://www.youtube.com/watch?v=gah-ZrIPv3A

Am 14. Juni 2023 wurde ein 20-jähriger Mann in einem Vorort von Angoulême „wegen Verweigerung des Gehorsams“ von der Polizei erschossen, als er gegen 4 Uhr morgens auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle war.

Im Jahr 2022 gab es 13 Todesfälle, die auf „Verweigerung des Gehorsams“ bei Kontrollen zurückzuführen waren, eine noch nie dagewesene Zahl. Im April 2022 wurden zwei Brüder auf einer Brücke in der Nähe der Pariser Präfektur von einem Polizisten mit einem Sturmgewehr in den Rücken geschossen. Eine Doppelhinrichtung ohne jegliche Art von Notwehr. Im Juni verlor eine junge Passantin mitten in Paris als „Kollateralopfer“ eines Schusses aus einer polizeilichen Dienstwaffe ihr Leben.

2017 stimmte die Sozialistische Partei auf Antrag der Polizeigewerkschaften für eine Ausweitung der Schusserlaubnis für Beamte. Seitdem dürfen die Ordnungskräfte unter anderem das Feuer eröffnen, wenn Menschen sich weigern, ihren Befehlen zu folgen und nicht mehr nur, wenn ihre körperliche Unversehrtheit bedroht ist. Seitdem ist der Gebrauch von Schusswaffen bei der Polizei explosionsartig angestiegen, und die Zahl der Todesfälle von Autofahrern und Beifahrern als Folge des polizeilichen Schusswaffengebrauchs hat in den letzten Monaten einen neuen Rekord erreicht.

Einige erste Zeilen der französischen Genossen zur Exekution eines 17jährigen Jungen durch die Bullen in einem Vorort von Paris. Übersetzt  von Bonustracks. Am frühen Abend kommt es in Nanterre als Reaktion auf den Mord zu Barrikadenbau, Brandstiftungen und Angriffen auf die Bullen.

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Die kleine Schildkröte trägt die Welt

Kodama Zelle

In liebevollem Gedenken an Tortuguita – Cop City wird nie gebaut werden. Gemeinsam gegen das Lager der Zerstörung

Little Turtle Carries the World

I. Das Äußere

Keiner von uns wollte am 18. Januar mit der Nachricht aufwachen, dass ein Waldschützer im Weelaunee-Wald von Atlanta namens Tortuguita, der dem Gesetz und seinem Todessystem als Manuel Teran bekannt war, während einer morgendlichen Razzia von der Polizei ermordet worden war. Das war das Letzte, was wir hören wollten. Mir stiegen Tränen in die Augen, als ich die Nachricht von ihrer Ermordung las, bevor ihr Name und ihr Bild veröffentlicht worden waren, und später, als ich ein Bild von ihr sah, auf dem sie strahlte, lächelte und voller Leben war, dachte ich daran, wie viel schlimmer ich mich fühlen würde, wenn ich Tortuguita gekannt hätte, wenn ich ihre Stimme gehört hätte, die Wärme ihrer Gegenwart gespürt hätte, sie als Freund, als Anarchist und Genosse gekannt hätte, wie sehr mein Herz gebrochen wäre, wenn sie mein Kind gewesen wäre, wenn ich sie liebevoll aufgezogen und fast jeden Tag mit ihr telefoniert hätte, wie ihre Mutter Belkis.

Der zutiefst symbolische Charakter von Torts Ermordung durch einige schießwütige Polizisten fiel mir ebenfalls sofort auf, da er eine kosmologische Metapher enthält, die die Bedeutung unserer Zeit veranschaulicht – ein junger Waldschützer namens Little Turtle, dem Vernehmen nach eine sanfte und würdevolle Seele, die ihren Namen zu Ehren des berühmten indianischen Kriegers aus Miami annahm, der 1791 eine Konföderation indianischer Kämpfer zum Sieg über die US-Armee führte, der geboren wurde, als die Sonne durch das Sternzeichen Stier lief, von dem einige glauben, dass es am stärksten mit unserem Heimatplaneten, der Erde, verbunden ist, wird kaltblütig erschossen, weil er den Bau einer verhassten Polizeiausbildungsstätte verhindert und das Land dieses Kontinents verteidigt hat, von dem viele Ureinwohner sagen, dass es auf dem Rücken einer Schildkröte durch das Universum getragen wird. Schildkröteninsel. Die Zeit und die in ihr enthaltene Bedeutung fließt manchmal wie ein Fluss, manchmal umgibt sie uns wie die Gezeiten eines unendlichen Meeres, und manchmal verbindet sie uns wie das Netz einer unsichtbaren Spinne, dessen Fäden, wenn sie wie die Saiten einer Harfe gezupft werden, transzendente und unvorhergesehene Resonanzen erzeugen. Es gibt keine Zufälle.

Für diejenigen von uns, die sich für den Schutz des Weelaunee-Waldes einsetzten, verwandelte sich die Trauer schnell in Wut, in brennende Wut, groß und schrecklich wie das schwarze Loch, das sich angeblich im Zentrum unserer sich drehenden Galaxie befindet. Der Aufruf ging schnell herum – er forderte ein hartes und direktes Vorgehen gegen die Verantwortlichen. Neben einer unbekannten Zahl schöner öffentlicher und privater Gedenkrituale gab es in den Wochen seither auch eine massive Welle von Ritualen anderer Art: Angriffe und Sabotageakte gegen die polizeiliche Infrastruktur sowie gegen Auftragnehmer, die mit Cop City zusammenarbeiten, und Finanzinstitute, die Cop City finanzieren – die Kräfte, die daran arbeiten, ihre höllische und weithin verhasste Ausbildungseinrichtung in unsere Welt zu bringen. Die Bilder und Berichte über die Ausschreitungen nach der Ermordung von Tort in Atlanta und die beschädigte Fassade der Atlanta Police Foundation haben uns Mut gemacht, und das weit verbreitete Bild eines brennenden Polizei-Geländewagens diente als passendes Denkmal für den gefallenen Genossen.

Dies ist nicht das erste und wird auch nicht das letzte Mal sein, dass sich dieser dramatische Kreislauf aus autoritärer Gewalt und Repression und unserem darauf folgenden Widerstand abspielt. Für mein enges Netzwerk von Genossinnen und Genossen begann er für viele von uns zwischen 2006 und 2012, einem Zeitalter anarchistischer Agitation in Nordamerika, das auf der einen Seite von der massiven Antiglobalisierungsbewegung der späten 90er und frühen 2000er Jahre und dem andauernden Kampf gegen den Aufstieg der Alt-Right und dem amerikanischen Faschismus der Trump-Jahre überschattet wurde, der während des massiven George-Floyd-Aufstandes von 2020 in das globale Bewusstsein explodierte. Zwei bemerkenswerte Zyklen des Kampfes gegen die Polizei, die zwischen 2006 und 2012 stattfanden, enthalten viele informative und hoffentlich einige inspirierende Geschichten für die Rebellen, die das Cop City Projekt und das umfassendere Netzwerk der Herrschaft heute angreifen: die Rebellion, die in der Bay Area nach dem Mord an Oscar Grant im Jahr 2009 ausbrach, und diejenige, die in Washingtons Puget Sound nach der kaltblütigen Ermordung von John T. Williams, einem indigenen Holzschnitzer, im Jahr 2011 stattfand. Nach diesen beiden Morden durch die Polizei kam es zu Unruhen, heimlichen Angriffen auf die Schweine, öffentlichen Trauerbekundungen und einem Anstieg der Organisierungsbemühungen „gegen die Polizei und die von ihr aufrechterhaltene Gefängniswelt“ – so der Titel einer Sammlung von Kommuniqués von Anarchisten im Kampf in Seattle aus dem Jahr 2011. [1] Einige Freunde, die eine Sammlung von Texten und Erinnerungen an die Oscar-Grant-Rebellion zusammengestellt haben – prophetisch Unfinished Acts genannt – schlossen ihren Sammlung mit einem Stück Text mit dem Titel „You Can’t Shoot Us All“ [2], der so klingt, als könnte er von einem Teilnehmer des sich entfaltenden Kampfes in Atlanta geschrieben worden sein – und tatsächlich wurde er durch ein Transparent mit der gleichen Botschaft, das auf der Rache-Demo in ATL zu sehen war, die einige Tage nach dem Mord an Tort stattfand, in die Gegenwart getragen. Es enthält diese erstaunliche Eröffnungspassage:

“Als uns klar wurde, dass unser Leben in den Augen der Mächtigen nur ein Haufen Knochen ist, die darauf warten, zerschmettert zu werden, Arterien und Venen, die kurz davor sind, aufzureißen, Herzen und Lungen, die in dem Moment aufhören zu schlagen und sich auszudehnen, in dem sie den Abzug betätigen, blieb uns nichts anderes übrig, als zusammenzukommen und sie vor uns erzittern zu lassen…

Ich wollte Fensterscheiben einschlagen, Brände legen, jeden Polizisten auf den Straßen in dieser Nacht in Angst und Schrecken versetzen. Ich wollte den Mächtigen zeigen, dass auch sie die Bedeutung von Gewalt erfahren würden, so wie wir immer wieder gezwungen wurden, sie zu lernen. Sie mussten verstehen, dass wir nicht vergessen, wir mussten spüren, dass wir noch am Leben sind”.

Die Autoren der epochalen queeren nihilistischen Zeitschrift Baedan, deren erste Ausgabe 2012 erschien, haben „You Can’t Shoot Us All“ auf diese Weise verortet:

“Während in den darauffolgenden Tagen und Monaten Aktivisten und Politiker aller Couleur versuchten, aus einer Umschreibung dieser Krawalle Kapital zu schlagen, zeigen die Worte [dieser] Teilnehmer ein Projekt der Erinnerung und des Hasses, das sich der Erfassung durch die Politik entzieht.“ [3]

Wie unzählige frühere Generationen von Anarchisten und anderen Befreiungskämpfern haben wir durch diese Zyklen der Revolte viel darüber gelernt, was man feiern und worauf man im Kampf gegen autoritäre Macht achten muss, und es scheint, dass viele dieser Lektionen glücklicherweise bereits Teil der Kampagne zur Verteidigung des Weelaunee-Waldes sind. Wir haben gelernt, unsere realen und digitalen Identitäten zu verbergen, im Schutz der Dunkelheit zu kämpfen, zu verduften und der Verhaftung zu entgehen, wenn es brenzlig wird, mit den Repressionskräften zu tricksen und zu spielen, um sie in die Irre zu führen, den Widerstand breit und experimentell zu organisieren und in unserem täglichen Leben niemals NGOs, den Medien, kommunistischen Tarngruppen wie der RCP und PSL oder irgendjemandem zu vertrauen, der mit dem System oder „innerhalb“ des Systems arbeitet. Kultiviert eine Atmosphäre der gemischten Wut und Freude, vergesst niemals die Namen der Gefallenen, unterstützt diejenigen, die von der Polizei gefangen genommen wurden, passt aufeinander auf und erinnert euch daran, dass wir einfach nur Menschen sind, fehlbar, zerbrechlich, flexibel, wertvoll, dass wir organische Lebensformen sind, die sich entschieden haben, eine anorganische und monströse globale Todesmaschine zu bekämpfen, die viele Namen hat, aber viele von uns immer noch den Leviathan nennen. Die Bullen sind überall unser absoluter Feind, einfach weil sie die Gesellschaftsordnung verteidigen, die dieses Ungeheuer propagiert. Vieles von dem, was wir alle in jenen Jahren erlebt und gelernt und in die Kämpfe mitgenommen haben, die in den zehn Jahren nach Ferguson folgten, taucht immer wieder in Atlanta und anderswo auf, und um ein Fragment unserer geliebten Dichterin Diane Di Prima zu entleihen:

Wir kehren zurück mit den Meeren, den Gezeiten

wir kehren zurück, so oft wie Blätter, so zahlreich

wie das Gras, sanft, beharrlich, wir erinnern uns

an den Weg

Keiner der Aufstände oder Angriffe oder anhaltenden Kämpfe hat Oscar Grant oder John T. Williams oder einen der unzähligen anderen, die von den Agenten der Ordnung abgeschlachtet wurden, lebendig zu uns zurückgebracht, und auch der fortgesetzte Angriff auf das Cop City Projekt wird Little Turtle nicht zurückbringen, aber die Wut, die Sachschäden, die heimliche und fortgesetzte Sabotage und die Ausweitung des öffentlichen Kampfes, um den Wald vor der Zerstörung zu bewahren, weben einen schützenden und wärmenden Mantel um unseren revolutionären Geist, um ihn zu heilen und unser kollektives Herz vor Resignation zu schützen.

II. Das Innere

Es gibt noch eine weitere Schildkröte, die es verdient, dass man sich an sie erinnert und sie feiert. Ihre Taten sind ein wichtiger Teil unserer Litanei des anarchischen Gedächtnisses und ihre Worte zeugen von der Kraft der Solidarität und unserer beharrlichen Weigerung, von unseren wilden Überzeugungen abzurücken. Luciano „Tortuga“ Pitronello ist ein chilenischer Anarchist, der 2011 schwer verwundet wurde, als eine Bombe, die er in einer Bank in Santiago platzieren wollte, vorzeitig explodierte, ihn nahezu erblinden ließ und ihm eine Hand abriss. Nachdem er gefangen genommen, zum Terroristen erklärt und inhaftiert worden war, tauschte er sich in Briefen mit Einzelpersonen und Gruppen außerhalb des Gefängnisses über das Gefängnis, den internationalen anarchistischen Kampf, die Verwundung und Isolation sowie den Willen zu überleben und weiter zu kämpfen aus. Er weigerte sich, sich zu entschuldigen oder sich von seinen Taten zu distanzieren, und unter so vielen unglaublichen Passagen in der Sammlung seiner Gefängnisbriefe ‘An die unbezähmbaren Herzen’ finden wir diese:

“Ich denke, dass ein Rebell zum Krieger wird, wenn er in der Lage ist, gestärkt wieder aufzustehen, wenn er in der Lage ist, die Realität zu sehen, auch wenn er alles zu verlieren hat; ein Krieger muss nicht unbedingt wissen, wie man eine Bombe baut oder mit ihr umgeht, und er muss auch keine Tarntechniken beherrschen, das sind Dinge, die man nebenbei lernt, Krieger sind gefährlich wegen ihrer Ideen und Prinzipien, weil sie den ganzen Weg bis zu den endgültigen Konsequenzen sehen, immer fest, unerschütterlich, weil sie weder sich selbst noch ihre Kameraden verraten, weil sie immer aufmerksam sind, weil sie sich nicht von Blödsinn oder Gerüchten mitreißen lassen, weil sie, wenn sie Probleme haben, sich ihnen stellen, wenn sie Schmerz empfinden, weinen, und wenn sie glücklich sind, lachen; weil sie wissen, dass sie ein erfülltes Leben leben können, auch wenn es deshalb nicht friedlich sein wird – das sind die wahren Kämpfer [. ..]

Was meine Wunden angeht, so sind sie alle verheilt, leider werden die Spuren immer bleiben, aber ich trage sie mit demselben Stolz wie meine Tätowierungen, denn sie sind der beste Beweis dafür, dass ich von meinen Idealen überzeugt bin – wie könnte ich das nicht sein? Ich trug diese Bombe mit Träumen und Hoffnungen, und diese sind nach wie vor intakt.” [4]

The Prison Letters of Luciano „Tortuga“ – Audio Zine

Tortuga war (und ist, wie wir sehen werden, immer noch) ein Teilnehmer der lebendigen und generationenübergreifenden anarchistischen Bewegung in Chile und anderswo in Südamerika und hatte Glück, dass er überlebte, weitaus mehr Glück als ein anderer geliebter chilenischer Genosse, Mauricio Morales, der 2009 getötet wurde, als eine Bombe, die er in seinem Rucksack trug, explodierte, bevor er sein Ziel – ein Ausbildungszentrum der Polizei – erreicht hatte. In meinen frühen Jahren als Anarchist wurde Maurios Geschichte zu einem lehrreichen Kanon, zu einem Teil unseres Mythos des Widerstands, der durch die von seinen GenossInnen in der anarchistischen Bibliothek „Sacco und Vanzetti“, in der er mitgewirkt hatte, veröffentlichten Kommuniqués in Erinnerung gerufen wurde, in denen sie erklären:

“Genossinnen und Genossen, wir sind uns darüber im Klaren, was jetzt passieren wird, wir wissen, dass schwierige Tage und Monate kommen werden. Aber wir wissen auch, dass der Schmerz und die Traurigkeit über den Tod unseres Bruders uns nicht lähmen können. Wir erinnern uns eindringlich daran, dass er im Kampf gestorben ist, dass die Offensive verschiedene Formen hat, dass niemand mehr wert ist als ein anderer. Wir appellieren daher, dass die schöne Flamme seines anarchistischen Herzens den unauslöschlichen Wunsch verbreitet, die herrschende Realität zu vernichten.

Sein Körper bleibt heute ein Gefangener in den Händen der Polizei und ihrer Söldner, aber die Energie seines Lebens bleibt bei uns, bei den Genossinnen und Genossen, die gemeinsam mit ihm und auf unterschiedliche Weise denen entgegentreten, die uns in Sklaven verwandeln wollen.

Ein Kämpfer ist gestorben, aber unser Feuer erlischt nicht”

Mauris Aktionen gegen das kapitalistische Todessystem in Chile sind weithin in Erinnerung geblieben, und der Text „Punky Mauri Presente” [5], aus dem das obige Zitat stammt, teilt mit, dass sein Tod Teile der Bewegung wachrüttelte und zu einer Kraft wurde, die rebellische Individuen ermutigte, sich – in Chile und anderswo – zu finden und aktiv zu werden. Ich werde mich immer an mein Lieblingsplakat in einem kollektiven Haus erinnern, das in der Zeit von 2006 bis 2012 als Zentrum und Bibliothek diente – ein Bild von Mauri, der lächelt und von diesem Satz umgeben ist:

IN SEINEM RUCKSACK

TRUG ER SEIN HERZ

Später, während der ‘Saga’ von Luciano „Tortuga“ Pitronello, waren mein Kollektiv und ich zutiefst bewegt von dem internationalen Geflecht aus Briefen, Mitteilungen und feurigen Aktionen, die ihn im Gefängnis unterstützten. In einem aussagekräftigen Interview [6] mit ihm aus dem Jahr 2017, nachdem er die Freiheit erlangt hatte und sich draußen wieder der anarchistischen Strömung anschloss, erzählt er, welche Kraft dieser Teppich aus Taten und Worten für ihn hatte:

“Ich komme zu dem Schluss, dass die Wurzel meines Überlebens die Solidarität war, die die Genossinnen und Genossen mir entgegenbrachten. Denn in jedem dieser drei Prozesse – im Gefängnis eingesperrt zu sein, als Terrorist oder Staatsfeind angeklagt zu werden und behindert geworden zu sein – wurde ich in jedem dieser Prozesse von dieser Waffe ergriffen, die wir als Anarchisten haben, nämlich der Solidarität.”

Indem ich die Geschichten dieser entfernten anarchistischen Kameraden in Erinnerung rufe, möchte ich nicht andeuten, dass die Bewegung zur Verteidigung von Turtle Island und des Weelaunee-Waldes speziell zu aggressiveren Taktiken wie Bombenangriffen übergehen sollte, obwohl jede Person in diesem Kampf die unantastbare Macht hat, ihren eigenen Weg des Widerstands zu wählen. Ich wollte meine Erinnerung an die Auswirkungen ihrer ‘Sagas’ auf das Leben und die Ideen der Generation von Anarchisten, mit denen ich über die Jahre zusammengewachsen bin, mit euch teilen, weil sich ihre Worte zeitlos und prophetisch anfühlen und immer noch so lebendig und inspirierend sind wie vor über einem Jahrzehnt.

In Atlanta wurden bisher mindestens 15 oder sogar mehr Verteidiger des Waldes angeklagt und wegen „Inlandsterrorismus“ angeklagt, und da die Repressionswelle gegen die Bewegung anhält, werden es wahrscheinlich noch mehr werden. Einige der Verhafteten sind immer noch eingesperrt und in den Händen des Staates, und es war ergreifend, die Welle von öffentlichen Aktionen und Veranstaltungen sowie die heimlichen Bemühungen zu sehen, Cop City nach der Ermordung von Tort und den Verhaftungen der Genossen zu stoppen. Die Strategie des Systems besteht darin, diejenigen, die handeln, zu terrorisieren und zu versuchen, uns mit unbegründeten und eindeutig absurden Anschuldigungen in die Unterwerfung zu prügeln, in der Hoffnung, dass die Menschen sich zurückziehen und die Niederlage akzeptieren werden. Den Kampf nach außen fortzuführen, um unsere Leute im Inneren zu unterstützen, und in der Tat alle Menschen, die in den Gefängnissen dieser verlogenen und verrottenden Zivilisation eingesperrt sind, ist eine der wichtigsten Aufgaben, die uns zukommt. Die Geschichten von Mauri und Tortuga sowie die aktuelle weltweite Welle der Solidarität mit Alfredo Cospito, einem Anarchisten der Aktion, der sich derzeit in Italien im Hungerstreik befindet, waren immer eine wichtige Erinnerung daran, dass man unsere inhaftierten Freunde nicht nur mit Briefen, Geld, Bildern und Besuchen unterstützen kann, wenn man kann, sondern auch mit Propaganda der Tat.

Die Erfahrung der aufständischen anarchistischen Bewegung von Mitte der 2000er Jahre bis in unsere Zeit enthält auch zwei weitere gelebte Lektionen, die die meisten GenossInnen in Atlanta bereits verinnerlicht zu haben scheinen, die es aber zu bekräftigen gilt: die Bedeutung des Diskurses, des Austauschs von Ideen und der Fähigkeit, in gutem Glauben Feedback und Kritik von Menschen im Kampf vor Ort und im Ausland zu geben und zu empfangen, wenn die Kommunikationskanäle offen sind; und die entscheidende Bedeutung der Beibehaltung eines experimentellen, informellen und fröhlichen Ansatzes selbst bei den militantesten Widerstandsprojekten. In den vergangenen zwei Jahren, in denen ich den Kampf gegen Cop City aus der Ferne unterstützt habe, war ich wirklich erstaunt über die umfassende Strategie der Bewegung, Komplexität, Spontaneität, Informalität und Humor zu bewahren. Die Tendenz zur offensichtlichen Spezialisierung und Militarisierung kann ein Fallstrick des klandestinen Kampfes sein und ist für uns besonders wichtig zu vermeiden. Diejenigen, die im Schutze der Dunkelheit die Maschinerie der Macht angreifen, sind intelligent, gesegnet und mutig, bei weitem mutiger als jeder Polizist, aber sie stehen nicht über dem Rest der Bewegung. Wie unser altes Sprichwort sagt, braucht die Revolte alles. Es gibt wichtige Erfahrungen, die einige informelle anarchistische Gruppen in den letzten fünfzehn Jahren gemacht haben, wie zum Beispiel die Verwandlung der inhaftierten Zelle der griechischen Verschwörung der Zellen des Feuers (CCF) von einer der unnachgiebigsten und visionärsten revolutionären Gruppen auf dem Planeten zu einer Gefängnisbande, die sich selbst als die einzig wahren Anarchisten der Tat bezeichnete, sowie die beunruhigende Spirale der mexikanischen öko-extremistischen Gruppe ITS (Individualists Tending Toward the Wild in Englisch) zu einem Todeskult, der nur von Internet-Fanboys unterstützt wird. Auch wenn einige klugerweise den Weg des Attentats und des Bombenbaus wählen, wenn es nötig ist, sind wir keine Agenten des Todes. Viele unserer Vorfahren auf dem anarchistischen Weg haben diesen Weg gewählt, und wir begrüßen den Tod als Teil der großen Zyklen des Lebens – aber Anarchie ist gelebte Freude, Freiheit, chaotische Harmonie. Ein Freund teilte letzten Sommer ein Bild von einer Party irgendwo im Südosten, das es besser ausdrückt, als ich es kann: „This Life is a Miracle. Alle Liebe ist möglich.

So wie es eine tiefe Verbindung zwischen Tortuguita und der Schildkröteninsel gibt, für die sie starb, so gibt es eine tiefe Resonanz, eine okkulte Bedeutung der Verbindung zwischen Luciano „Tortuga“ Pitronello und unserer gefallenen Tortuguita. Zwei Schildkröten, die unsere Welt tragen, die wirkliche Welt, die Welt der Tiere und Pflanzen, der Ozeane und Winde, der friedlichen und intimen Freude, die von Menschen ohne die Fesseln der Hierarchie geteilt wird, eine Welt, in der wir Mahlzeiten und Ressourcen teilen, kostenlose Partys veranstalten, den immensen Schaden beheben, den Jahrtausende der Klassengesellschaft und des Patriarchats und des Kolonialismus und all die anderen Strategien der Herrschaft angerichtet haben, in der wir uns an die Lieder und Träume derer erinnern, die diese Erde noch verehren, diesen lebendigen Stein, der durch die singende Leere rast. Unser Zuhause

Viele meiner Freunde haben in den letzten Jahren Kinder in die Welt gesetzt, und die Zeit, die ich mit ihnen verbringe, indem ich ihnen zusehe, wie sie von Liebe umgeben aufwachsen und von ihrer Familie und ihren erwachsenen Freunden geschätzt und unterrichtet werden, erinnert mich daran, dass es trotz des zynischen und passiven Nihilismus unserer Zeit viele mögliche Zukünfte gibt, und wir sind ihre Erschaffer. Die gleiche Energie spürt man in den ersten Wochen des Frühlings, wenn die grüne Lunte brennt und sich die Regenbogenbanner der Blumen entfalten, eine Zeit, die in einem der heiligsten Tage unserer alten Widerstandsbewegung gipfelt: Der 1. Mai, der Tag, an dem wir uns eine freiere Zukunft vorstellen, an dem wir den Aufruf erneuern, an dem wir feiern und uns an unsere Geschichte erinnern, der Tag, an dem wir immer gewinnen.

Das Zusammensein mit diesen neuen Seelen hat mich in die genau entgegengesetzte Richtung des patriarchalischen Narrativs des konservativen „reproduktiven Futurismus“ getrieben, das die Autoren von Baedan 2012 kritisiert haben – in dem die Freude und die Freiheit und das queere chaotische Potenzial der Gegenwart durch eine sich immer weiter ausbreitende Reproduktion der gegenwärtigen unfreien Gesellschaft im Namen zukünftiger Generationen verhindert wird. Stattdessen hat es die Dringlichkeit erneuert, diese Gesellschaft zu Fall zu bringen und den Zyklus der Reproduktion dieser Zivilisation zu stoppen; am Ende meines Lebens möchte ich mir und den Jüngeren sagen können, dass wir alles getan haben, was wir konnten, und dabei eine absolut wilde Zeit hatten. Die Polizei und die Reaktionäre werden immer mein absoluter Feind sein, weil ich möchte, dass sie, die Jungen, es schaffen, dass sie ein erfülltes Leben in seiner vollen Blüte führen können, dass sie niemals Angst haben müssen, von einem Agenten der Herrschaft niedergestreckt zu werden, wenn sie ihren eigenen Weg wählen. Niemand sollte jemals fühlen müssen, was Tortuguitas Familie immer noch fühlen muss. In der Nähe von kleinen Kindern zu sein, die diesen wunderschönen Planeten zum ersten Mal erleben, hat die schwarze Flamme, die in meinem Inneren brennt, weiter angefacht und den ursprünglichen Drang geweckt, sie gegen diejenigen zu verteidigen, die Projekte wie Cop City bauen, die Wälder weiter abholzen und unser Paradies zwischen den Sternen in ein Grab verwandeln würden.

Tortuguita starb, um unsere Welt, die reale Welt, zu schützen. Die Polizisten und alle anderen, die diese als Gegenwart bekannte Tragödie verteidigen, leben in einem Hologramm, einer anorganischen Rückkopplungsschleife, einem Albtraumkonstrukt, und alle, die gegen sie vorgehen, egal wie wir uns identifizieren, werden sich mit dem System, das sie schützen, im Krieg befinden, bis es zerbricht und alle Teile davon zerschmettert, begraben und vernichtet sind.

III. Das Unendliche

Der Kampf um den Schutz des Waldes von Atlanta und um die Verhinderung von Cop City, diesem wahrhaft gewaltigen und dystopischen Polizeiausbildungszentrum, das der amerikanische Todeskult anstelle von Hunderten von Hektar vitalen und lebendigen Waldes errichten will, ist eine der jüngsten Manifestationen eines Metakonflikts, der sich über den gesamten menschlichen Äon erstreckt. Er nimmt viele Formen an, trägt viele Masken, taucht auf und verschwindet wieder in den Schatten der Geschichte und der Erinnerung wie ein Gespenst, das wie eine Glut in den Tiefen der Welt brennt und darauf wartet, zu explodieren. Unsere Bewegung zur Verteidigung dieser Welt und der freien Wesen, die auf ihr verbleiben, gegen die Mächte der Herrschaft findet seit Jahrtausenden statt und nimmt zunehmend titanische, manichäische, apokalyptische Dimensionen an, Dies wird durch ein aktuelles Beispiel aus den weit verbreiteten Aufständen gegen die Staatsgewalt und die Wirtschaft auf dem ganzen Planeten veranschaulicht – unter den kaum glaublichen Bildern von deutschen Bereitschaftspolizisten, die das Widerstandsdorf Lutzerath räumen, um einen riesigen Kohletagebau zu erweitern, findet man ein Bild von einigen Polizisten, die den riesigen Kohlebagger schützen, der den Boden unter dem Dorf zerstören wird und der wie ein gigantisches Bergbaugerät auf einem fremden Planeten aussieht.

Der „Fortschritt“ derjenigen, die sich nicht als natürliche Bewohner und Kinder dieser Erde sehen, gipfelt in einem solchen surrealen und schrecklichen Bild. Das Todessystem des Leviathan ist jetzt komplex, viel weiter verbreitet und komplexer als je zuvor, und es muss auf jede erdenkliche Art und Weise und mit allen möglichen Mitteln bekämpft werden, von der Kunst über die Musik bis hin zum Aufruhr, von der Desertion bis hin zur Magie, von der direkten Aktion bis hin zum Traum. Vor allem Träume. Wenn wir den Traum verlieren, verlieren wir alles.

Nachdem die Genehmigung für den Bau von Cop City nach Torts Ermordung erteilt worden war, inmitten des ohrenbetäubenden Schweigens der Machtstruktur von Atlanta, der Lügen, die von den Bullen über Torts Tod verbreitet wurden, und der Verdunkelung des Kampfes durch die Mainstream-Medien, erinnerte uns das DTAF-Pressekollektiv an etwas, das wir tief in unseren Herzen schon immer wussten: Nichts ist vorbei. Schnell wurde zu einer Woche der weltweiten Solidarität und einer Aktionswoche in Atlanta Anfang März aufgerufen. Der Kampf geht weiter.

Wir haben zahllose Märtyrer. Wir brauchten keinen weiteren. Und doch sind sie hier, ihr Lächeln und ihre sanfte Präsenz bleiben im ätherischen Gewebe unserer gelebten und digitalen Erinnerungen, ihr Verlust verfolgt uns, ihre Taten ermutigen uns, weiter zu leben, weiter zu kämpfen, weiter unsere Heimat zu verteidigen.

Tort: Wir erinnern uns, wir lassen sie nicht vergessen, und wir vergeben niemals. Wir sehen uns auf der anderen Seite, wenn die Zeit reif ist.

Kodama-Zelle

Wölfe der Solidarität (West)

Fussnoten

[1] https://www.scribd.com/document/251460817/Against-the-Police-and-the- Prison-World

[2] https://unfinishedacts.noblogs.org/you-cant-shoot-us-all/

[3] https://theanarchistlibrary.org/library/baedan-baedan

[4] https://theanarchistlibrary.org/library/luciano-tortuga-pitronello-letters

[5] https://theanarchistlibrary.org/library/punky-mauri-presente

[6] https://theanarchistlibrary.org/library/the-ex-worker-podcast-luciano-pitronello-at-the-root-of-my-survival

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Bonustracks.

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Erklärung bei der Anhörung am 19. Juni 2023 vor dem Berufungsgericht Turin

Alfredo Cospito 

Diese Erklärung von mir steht in engem Zusammenhang mit diesem Prozess, da sie sich mit den Gründen für die mir auferlegte verschärfte Behandlung befasst. Eine Sanktionierung, die verfassungswidrig ist und gegen Ihre eigene Gesetzgebung verstößt. Eine Sanktionierung, 41bis, die den angeblichen Zweck meiner Inhaftierung verzerrt und mir eine sinnlose Zensur auferlegt, die mein Recht auf Verteidigung einschränkt.

Jedem ist klar, dass mein Prozess von einer politischen Partei, der „Regierung“, als eine Art Knüppel gegen eine andere politische Partei, die so genannte „Opposition“, benutzt wurde. Meine Verlegung in letzter Minute von einer Sektion in eine andere in Erwartung der Ankunft der PD-Parlamentarier (Partido Democratico, Sozialdemokraten Italiens, d.Ü.) ist ein krasses Beispiel dafür. Es zeigt, wie die DAP (Gefängnis Administration, d.Ü.) und der 41bis für politische Zwecke instrumentalisiert wurden.

Diese Tatsachen stehen in engem Zusammenhang mit diesem Prozess, denn sie sind das Produkt der politischen Dynamik der Vergangenheit, die zu unserer unverhältnismäßigen Verfolgung und Verurteilung wegen eines ‚politischen Tötungsdelikt’ geführt hat. Jetzt den Mund zu halten, zu dem einzigen Zeitpunkt, an dem ich mich verteidigen kann, würde bedeuten, diese gefährliche und totalitäre Entwicklung zu billigen. Bevor ich über Fossano (1) und das so genannte „Massaker“ spreche (obwohl es da wenig zu sagen gibt, es würde genügen, sich die Bilder der Schäden der ‘gewaltigen Explosion’ anzusehen), muss ich zwei Minuten lang drei Todesfälle erwähnen, von denen ich mich für zwei irgendwie mitverantwortlich fühle, der dritte Tod, der von Cosimo, ereignete sich im Gefängniskrankenhaus Opera, Station 41bis.

Sie alle sind Todesfälle, die mit meinem Fall verbunden sind, weil sie mit der Ungestraftheit des Regimes verbunden sind, gegen das ich ein Jahr lang kämpfen und überleben musste, um nicht zu unterliegen. Ich kann nicht schweigen, das bin ich den zum Tode Verurteilten schuldig, die in dieser Anstalt eingesperrt sind, das bin ich denen schuldig, die man hat sterben lassen, und denen, die sich in diesem Moment im Gefängnis von Sassari das Leben nehmen, um sich Gehör zu verschaffen. 

Ich schulde es Domenico Porcelli, der sich seit vier Monaten im Hungerstreik befindet. An seiner Seite sind seine Kinder und Maria Pintus, seine Anwältin. Ihm zur Seite stehen die wenigen anarchistischen, kommunistischen und sardischen Unabhängigkeits-Revolutionäre, die gegen den 41bis kämpfen und dafür Gefängnis und Repression in Kauf nehmen. Domenico ist für den Staat ein Mafioso, also unverbesserliches Kanonenfutter, für ihn gilt die Verfassung nicht. Für ihn gibt es keine kuschelige Parade von Politikern, keine Aufmerksamkeit der Medien. Ich bin sicher, dass Domenico auch nach seinem Tod keine Schlagzeilen machen wird. So wie es schon zwei armen Schluckern ergangen ist, die nacheinander im Augusta-Gefängnis im Hungerstreik gestorben sind. Dafür fühle ich mich verantwortlich, denn unter dem Einfluss der Medien, die meinen Streik verfolgten, haben sie alles riskiert und sind schnell dabei ums Leben gekommen. Ihr Tod hat kein Aufsehen erregt, ein komplizenhaftes und obszönes Schweigen umhüllte sie. Einer von ihnen war russischer Staatsbürger und bat einfach um seine Rückführung. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn es ein Italiener gewesen wäre, der in einem russischen Gefängnis verhungert wäre… humanitäre Organisationen und die Medien hätten einen Aufschrei verursacht. Stattdessen blieb sein Tod unbemerkt, es herrschte völlige Gleichgültigkeit, was das heuchlerische, rassistische und imperialistische Gesicht des Westens offenbart. Das heuchlerische Gesicht desselben ‘ethischen Staates’, der, um seine historische Mitschuld zu verbergen, die 41-bis-Horrorshow aufrechterhält. Ein offenes Geheimnis, seit 30 Jahren, das niemand sich wehrt, das niemand den Mut hat, sich ihm zu stellen, das jeder stirbt, der diesen Status anrührt… und der nach dem Willen derer, die ihn erdacht haben, erst dann enden wird, wenn der letzte Zeuge dieser historischen Vereinbarung zwischen dem Staat und der Mafia tot und in diesen Mauern begraben ist.

Manchmal zweifle ich daran, dass es das System selbst ist, an das man das alles adressieren sollte. Warum sonst sollte man nach Opera verlegen, in eine Einrichtung, die Nordio (ital. Justizminister, d. Ü.) als eine medizinische Spitzeneinrichtung zu bezeichnen wagte. In Wahrheit ein chaotischer und tödlicher Slum, in dem die Alten und Sterbenden in Einsamkeit geparkt sind und auf den Tod warten. In dieser Unterart von Asyl regnet es in die Gänge, im Sommer stirbt man an der Hitze, die Klimaanlage funktioniert nicht, im Winter stirbt man an der Kälte. An den Fenstern wimmelt es von Schaben, Kakerlaken, Ameisen und Mücken, die bettlägerige, gelähmte, alte, sterbende und blinde Menschen quälen.

Zwischen Juni und Oktober 2022 haben in einer Gefängsniskrankenabteilung, die 12 Personen „aufnehmen“ kann, sechs nicht überlebt. Wenn man ein paar Tage oder Stunden vor dem Tod Glück hat, wird man in ein Krankenhaus verlegt, wo die Behandlung humaner ist, wo man aber immer unter Fremden stirbt, ohne die Zuneigung seiner Angehörigen. Alles liegt auf den Schultern der Jungen und Mädchen, die putzen und zwischen Windeln und Medikamenten hin- und herpendeln, und der Krankenschwestern und -pfleger, die ihr Bestes geben, aber nur wenige sind. Die verantwortliche Ärztin schiebt die Verantwortung auf die Krankenschwestern ab und meldet sich oft selbst krank, was ziemlich peinlich ist. Da es sich um Insassen in einer prekären gesundheitlichen Situation handelt, in der man nur noch ein bisschen mehr vernachlässigt werden muss, um in den Tod zu rutschen, gibt es natürlich kaum Proteste von Seiten der geschwächten Kranken. Aber ein paar furchtlose Gefangene haben protestiert und die Gerichte haben ihnen Recht gegeben, aber wenn wir vom 41bis sprechen, einer Welt für sich und Kindern eines geringeren Gottes, ist alles beim Alten geblieben.

Niemand sollte isoliert in einer Zelle sterben, unter den kalten Augen einer Kamera, die ihn 24 Stunden am Tag in seinem Zimmer filmt. So wie es im Juni 2022 mit Cosimo Di Lauro geschah. Dieser Häftling starb an Hunger, er war nicht im Hungerstreik, er hatte einfach aufgehört zu trinken und zu essen, nach den Aussagen, die ich gehört habe, und nicht nur von Häftlingen, war er „nicht bei Sinnen“. Eines Morgens fand ihn der Wärter tot in seiner Zelle auf, überwacht von einer Kamera, die seinen Todeskampf filmte, ohne dass jemand einen Finger rührte. Di Lauro hat es nie ins Krankenhaus geschafft, im Gegensatz zu mir, der beim geringsten Anzeichen von Krankheit ins Krankenhaus gebracht wurde, obwohl sein Leben nicht in unmittelbarer Gefahr war. Cosimo, ein einfacher „Mafioso“, der zudem nicht in der Lage war, zu realistischen Entscheidungen zu gelangen und seine Rechte geltend zu machen, wurde dem Tod überlassen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, Zeugenaussagen wurden aufgenommen, darunter die eines mutigen Häftlings, aber alles wurde vertuscht, zumindest bis heute…

Es gibt so viele Dinge, die ich in meinem Jahr mit 41bis erlebt habe. Es sind nicht nur Todesfälle, die vertuscht werden, sondern es kann passieren, dass 41bis für andere Zwecke instrumentalisiert wird. Und diese „missbräuchliche“ Verwendung wird vertuscht. Es ist die allzu offensichtliche Benutzung der DAP durch die Regierung, um die sogenannte „Opposition“ zu beschuldigen, die verschleiert wird. Ich spreche von der Parade der PD-Abgeordneten in Sassari und der Instrumentalisierung der DAP-Informationen durch die Regierung, die mich benutzen, um die PD zu beschuldigen. Um es klar zu sagen: die dumme Platzierung des ganzen durch die Fratelli d’Italia im Parlament. Es ist bezeichnend, dass ich wenige Tage vor der Ankunft der Abgeordneten (von der die Regierung sicher wusste) von einer „ruhigen“ Sektion, in der ich meine Tage in Einsamkeit verbrachte, in eine Sektion verlegt wurde, in der sich nach dem verzerrten Bild der DAP die „großen“ Figuren von Sassari, die so genannten Bosse, befanden. Die übrigens alles taten, um mich davon zu überzeugen, mit dem Streik aufzuhören, und die dann wegen mir in den Medien an den Pranger gestellt wurden. Es geht mir nicht aus dem Kopf, dass die DAP von der Regierung „inspiriert“ wurde. Kurz nach dem Besuch der Abgeordneten wurde die Sektion aufgelöst und ich nach Opera verlegt.

Wie viele perfide Fallen wurden mir gestellt, die dann regelmäßig nach hinten losgingen. Die Beschlagnahmung von Notizen aus den Gerichtsverfahren, die sich in Pizzini (Link d.Ü) verwandelten, die lächerliche Anschuldigung einer Allianz zwischen Mafia und Anarchisten, die surreale Anschuldigung, einen Hungerstreik nur vorgetäuscht zu haben.

Die Überzeugung, die ich im Laufe des letzten Jahres gewonnen habe, ist, dass der 41bis nicht wirklich das Ziel hat, das Phänomen der kriminellen Organisationen zu zerschlagen. Sondern um eine Generation von Mafiosi zu knebeln, die der Staat vor 30 Jahren benutzt und dann verraten hat. Sie hier einzusperren, bis sie sterben, und ihnen für immer den Mund zu verschließen, und das aus Angst, dass die dunklen Geheimnisse der Republik aufgedeckt werden könnten, sobald sie draußen sind. Das ist, wie ich schon sagte, das offene Geheimnis hinter der Unantastbarkeit dieses Haftregimes. (2) 

Die Bedingungen des 41bis Regimes werden aufgehoben, wenn der letzte unbequeme Zeuge dieser Ära tot ist. Das heißt natürlich, wenn es nicht auf den Rest des sogenannten „Justizsystems“ ausgedehnt wird, denn bekanntlich neigt die Barbarei dazu, sich auszubreiten, und sie kann außer Kontrolle geraten. Zwischen der Mafia und dem Staat gibt es viele Ähnlichkeiten: Hegemonialer Wille, Gewaltmonopol, Hierarchie, Autoritarismus. Und dann habe ich festgestellt, dass es neben diesen unbestreitbaren Gemeinsamkeiten eine Art „Erbsünde“ gibt, die ein freiheitsfeindliches System wie das der Mafia braucht, um ihre Teile zusammenzuhalten, ohne die das System als Ganzes zusammenbrechen würde. Genau das ist die Unantastbarkeit des 41bis, die zum Dreh- und Angelpunkt des gesamten totalitären demokratischen Systems geworden ist, zum wahren Gesicht der italienischen Republik.

Was den Rest betrifft, was soll ich sagen… es hat sich nichts geändert, die Fotos meiner Eltern, die vor einem Jahr hier in Sassari beschlagnahmt und bei meiner Ankunft in Opera mit dem Zensurstempel zurückgegeben wurden, wurden bei meiner Ankunft in Sassari wieder einbehalten. Keine Musik, meine Bitte, einen CD-Player zu kaufen, wurde von der Gefängnisleitung abgelehnt. Offensichtlich werden Bücher und Musik von der DAP weiterhin als etwas Subversives angesehen, und damit haben sie ja auch recht.

Seit ich im 41bis bin, habe ich keinen Grashalm, keinen Baum, keine Blume berührt, nur Zement, Gitter und Fernsehen. In den letzten Monaten habe ich es nur mit großer Mühe geschafft, ein Buch erwerben zu dürfen, und das auch nur, weil die Medien über mich berichtet haben. Besuche nur einmal im Monat mit Trennscheibe und der metallischen Stimme der Gegensprechanlage. Meine Schwestern und mein Bruder, die einzigen, die mich besuchen können, werden bei ihrer Ankunft an ihren Tätowierungen und Ohrringen mit Wachs behandelt, weil sie durch die tätowierten Muster kryptische Botschaften übermitteln könnten.

Diese Beschwerden werden jedoch lächerlich, wenn man bedenkt, was ich in der Krankenabteilung in Opera gesehen habe. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Staat das Gesetz der Rache ‘ethisch einwandfrei’ auf alte und kranke, wehrlose und halb demente Menschen anwendet.

Mein naiver Wunsch nach Büchern, Musik, anarchistischen, wissenschaftlichen, historischen Zeitschriften und einer Wiese zum Herumtollen und ein paar Bäumen wurde angesichts dessen lächerlich, fast schon widerwärtig. Das ist mir klar.

Für die Abschaffung des 41bis.

Danke Genossen und Genossinnen.

Immer für die Anarchie.

Alfredo Cospito

(In einer Videoschalte aus dem Gefängnis von Bancali, Sassari, 19. Juni 2023)

Übersetzt aus dem Italienischen von Bonustracks.

Fussnoten der Übersetzung 

  1.  Angriff mit Sprengstoff am 2. Juni 2006 auf die Allievi-Carabinieri-Schule in Fossano, bei dem lediglich Sachschaden verursacht wurde, für die aber Alfredo und andere zu extrem hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Revisionsverfahren gegen das Urteil und die damit verbundene Auferlegung der verschärften Haftbedingungen laufen derzeit. 
  2. Die Zusammenarbeit zwischen Teilen des Staatsapparates und einem Großteil der Parteien mit den verschiedenen italienischen Mafia-Organisationen sind seit Jahrzehnten ein mehr oder weniger offenes Geheimnis. Kurz angerissen z.B. in diesem DLF Beitrag über das wichtige Buch „La Convergenza“.
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Erinnerung an den Juni 2013: 10 Jahre seit dem Rückzug des „Caveirão“ in Rio de Janeiro

Camila Jourdan

Heute, am 20. Juni, wird es 10 Jahre her sein, dass rund 1 Million Menschen in der Innenstadt von Rio de Janeiro auf die Straße gingen und von der Polizei brutal angegriffen wurden. Ein historischer Tag im brasilianischen Kampf des Volkes, an dem die aufständische Bevölkerung das Symbol des Todes in den Favelas auf der Avenida Presidente Vargas zurückschlug: den „Caveirão“, ein gepanzertes Polizeifahrzeug, das mit Stöcken und Steinen angegriffen wurde. Das werden wir nie vergessen.

Um an dieses historische Datum der Volksbewegungen in Rio und Brasilien zu erinnern, veröffentlichen wir hier einen Auszug aus dem Text „Was ist 2013 eigentlich passiert?“ aus dem Buch von Camila Jourdan, Professorin für Philosophie an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro, „2013 – Erinnerungen und Widerstandsbewegungen

(Vorwort Media 1508)

Im Jahr 2013 erlebten wir in Brasilien einen Volksaufstand, einen Aufstand, wie so viele, die in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten der Welt stattfanden: Wall Street, Griechenland 2008, Seattle. Die Merkmale dieser Volksaufstände sind im Allgemeinen: organisatorische Horizontalität; die Ablehnung des institutionellen Weges und des Reformismus der Parteilinken; eine ausdrückliche Aufwertung des Anarchismus und der Werte, die historisch mit der libertären Tradition verbunden sind, unter denen die Suche nach direkter politischer Beteiligung hervorsticht; die Ablehnung von Hierarchien und die Ablehnung des repräsentativen Paradigmas. Das Jahr 2013 zu verstehen bedeutet, unsere Zeit zu verstehen, und es ist von grundlegender Bedeutung, dass wir unsere eigene Geschichte erzählen können. Gegenwärtig können wir in den diskursiven Auseinandersetzungen darüber, was 2013 bedeutet hat, noch einige Deutungsmuster erkennen.

Die erste wird von der PT und ihren Verbündeten verteidigt, die 2013 als eine von der Rechten grundlegend manipulierte Bewegung betrachten, die der Vorbereitung des Putsches gegen die PT diente und sie daher negativ bewertet. Die zweite wird von den Ultraliberalen vertreten, die versuchen, die politische Bedeutung der Straßenaktionen zu entleeren, indem sie sie mit „reinem leerem Vandalismus“ oder sogar mit „terroristischen Aktionen“ in Verbindung bringen, wobei einige sogar behaupten, dass diese Vandalen von der PT selbst bezahlt wurden. Neben diesen beiden disqualifizierenden Lesarten gibt es zwei mögliche Interpretationen im Zusammenhang mit der institutionellen Linken. Die eine ist positiv, weil sie davon ausgeht, dass die Kritik an der PT-Regierung die Chancen auf einen Wahlsieg oder ein Wachstum der linken Parteien erhöht, aber sie wird in dem Maße negativ, in dem es diesen Parteien nicht gelingt, den Prozess zu lenken, was ihre Entfremdung von der Bevölkerung deutlich macht. Es gibt auch faschistische Gruppen, die ebenfalls die Angriffe auf die Institutionen und das Kapital auf der Straße kritisieren und im Jahr 2013 zu einer militärischen Intervention aufrufen.

Die Lesart, die wir hier vorschlagen, weicht von all diesen Einschätzungen ab und stellt sich gegen sie und nähert sich einer aufrührerischen Wahrnehmung von 2013. Im Jahr 2013 gingen Tausende im ganzen Land auf die Straße und forderten echte soziale Transformationen. Wir sahen die Ausbreitung von Rebellion, Empörung, Revolte, Hass auf den repressiven Staat, den Kampf um Gesundheit, Wohnraum und Bildung, die direkte Konfrontation mit dem Kapitalismus, mit dem Monopol des öffentlichen Verkehrs, den Angriff auf die Banken und den Widerstand gegen Agenten des Staates und andere Repressionsorgane. Dies war auch, und vielleicht vor allem, das Jahr, in dem die Taktik des Schwarzen Blocks in Brasilien aufkam.

Diese Taktik trug dazu bei, den Protesten auf der Straße eine Stimme zu geben, eine radikale Kritik am System zum Ausdruck zu bringen und ihre Fähigkeit zu stärken, sich gegen die Angriffe der Polizei auf die Bevölkerung zu wehren. Diese Taktik, die bereits an vielen Orten der Welt bekannt war, entstand hier inmitten der Juni-Proteste und ermöglichte es den Menschen, die tagtäglich von der Waren-Maschinerie gegeneinander ausgespielt werden, sich auf der Straße als gleichberechtigt zu erleben und vereint auf die Gewalt zu reagieren, die dem täglichen Leben in den Städten innewohnt und die für die Aufrechterhaltung dieser ungleichen Gesellschaft grundlegend ist. Um zu lernen, Widerstand zu leisten, das Monopol der staatlichen Zerstörungsgewalt in Frage zu stellen und die Menschen selbst und den Staat, der sie unterdrückt, daran zu erinnern, woher ihre Macht stammt. Und es gab Tausende von jungen (oder nicht mehr ganz so jungen) Menschen, die mit improvisierten Schilden, Masken oder was auch immer sie finden konnten, Widerstand gegen die Polizeigewalt leisteten.

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Der Aufstand im Juni war geprägt von einer massiven Beteiligung der Bevölkerung, von Menschen, die noch nie zuvor an einer Demonstration teilgenommen hatten, von Leuten, die auf der Straße lebten, von Schwarzen aus den Außenbezirken der Großstädte, von Feministinnen, Schwulen, Lesben…

Es handelte sich nicht um eine Bewegung der weißen Mittelschicht, wie die Mainstream-Medien zu behaupten versuchten. Es war auch keine Bewegung, die hauptsächlich aus „entfremdeten Menschen“ bestand, die nicht wussten, wofür sie kämpften, wie ebenfalls behauptet wurde. Der Juni 2013 war noch nicht „der Beginn des Putsches“, wie uns der hegemoniale Medienapparat der parteipolitischen Linken weismachen will. Das Volk weiß sehr wohl, was es unterdrückt, und es ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass kein aufgeklärter Intellektueller ihm das sagen muss.

Das Ziel der Volksrevolte waren die Agenten ihrer tagtäglichen Unterdrückung: Busse, Bankfilialen, Paläste der Macht, die gesetzgebende Versammlung, Fahrzeuge des manipulativen Medienmonopols, Polizeiautos. Schon seit langem wird die Favela niedergebrannt, wenn die Polizei ein Kind tötet, und die Menschen zünden Busse und Züge an, wenn der ohnehin schon prekäre Verkehr gerade noch rechtzeitig zusammenbricht, um nach Hause zu kommen. Niemand muss jemandem eine Revolte beibringen. Aber was dieses Mal gefunden wurde, war die Sichtbarkeit der Straße. Es war nicht möglich zu sagen, dass der Aufstand von Drogenhändlern inszeniert wurde, es war nicht möglich, die politische Dimension des Aufstandes zu leugnen, ein großer Teil der Bevölkerung war dabei, sah ihn. Die Macht des Juni bestand darin, dass die Sichtbarkeit der Straße – wo die Kugeln in den meisten Fällen Gummigeschosse sind – mit einer gewissen „Demokratisierung“ der staatlichen Gewalt für Teile der Bevölkerung zusammenkam, die es nicht gewohnt waren, diese Gewalt zu erleiden.

Es handelte sich nicht um eine orchestrierte Aktion, und jeder Versuch, eine einzige konvergierende Agenda zu entwickeln, die politisch leer war und den Klassenkampf beschwichtigen würde, wurde von den Straßen zurückgewiesen. In diesem Sinne war die Vielfalt der Agenden und der diffuse Charakter eine weitere Stärke der Bewegung, es war eine ganze Lebensweise, die abgelehnt wurde. Nicht, dass die Feinde nicht konkret und identifizierbar gewesen wären, aber es gab keinen Reformismus, keine spezifische Forderung, die einfach erfüllt werden konnte, so dass die gesamte Struktur so blieb, wie sie war, und somit der Aufstand gestoppt wurde. Dies war der Grund, warum der Bewegung so oft vorgeworfen wurde, utopisch und unkonkret zu sein, aber es war ihre Stärke und ihre Identität. Vielleicht haben wir zum ersten Mal wirkliche und radikale Veränderungen gefordert, die ohne strukturelle und konkrete Veränderungen nicht möglich waren. Und das Aufbrechen des Informationsmonopols, das durch das Internet möglich wurde, erlaubte es, die Bilder direkt zu zeigen. Das Volk, die Gesellschaft, übernahm die Rolle des historischen Subjekts, die Bevölkerung beteiligte sich an der Bearbeitung der Geschichte, sie war nicht nur Zuschauer. Das Internet schafft natürlich keine soziale Bewegung. Im Gegenteil, es erscheint als eine weitere Form der Kontrolle und des Kommerzes, aber es kann angeeignet werden, es kann auch ein Instrument des Kampfes sein. Die Kommunikation wurde vernetzt und hat sich exponentiell verbreitet. Digitale Medien und soziale Netzwerke haben auch dazu beigetragen, die ständige Desinformation der bürgerlichen Presse zu widerlegen.

Wir dürfen nicht übersehen, wie wichtig die Entwicklung von Technologien ist, die noch nicht vollständig vom Staat kontrolliert werden und die die Schaffung von befreiten Territorien, von autonomen virtuellen Zonen ermöglichen. Und diese offenen Brüche haben es ermöglicht, dass sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung im ganzen Land ausbreiten konnte. Darüber hinaus dürfen wir nicht die Beteiligung der Arbeiter vergessen, die Streiks, die nicht institutionalisiert waren und von der Basis unabhängig von den Gewerkschaftsvertretungen durchgeführt wurden, und die die Jahre 2013/2014 prägten. Radikalisierte Streiks, die von Lehrern, Busfahrern und Müllmännern durchgeführt wurden, haben die Stadt zum Stillstand gebracht, Forderungen vereinheitlicht und wurden vom Staat massiv unterdrückt und kriminalisiert.

Aber die tagtägliche Gewalt war schon vorher da. Die kapitalistischen Konzerne und Finanzinstitutionen sowie der Staat, der diese Konzerne vertritt und dazu dient, die Menschen zum Schweigen zu bringen, erzwingen eine Situation des permanenten Krieges. In jüngster Zeit ist die Offensive durch die für Mega-Events erforderlichen Städteprojekte noch deutlicher geworden: Umzüge; Räumungen; Schulschließungen; Befriedungsprojekte in Favelas; Massaker; „Demokratisierung“ eines Teils der bereits vorherrschenden Gewalt in den Slums und Vororten auch für die städtischen Zentren der Mittelschicht; Megaprojekte wie Belo Monte; zunehmende Gewalt auch auf dem Lande; Vorstoß auf indigenes Land; Gentrifizierung im Allgemeinen; Anstieg der Lebenshaltungskosten mit Anreiz zur Aufrechterhaltung des Konsums, was zu einer enormen Verschuldung der Bevölkerung mit gigantischen Zinssätzen führt; Notstandsgerichte; Aussetzung des Demonstrationsrechts; Aussetzung des Rechts zu kommen und zu gehen…

Der Staat hat kein Problem mit der Anwendung von Gewalt, im Gegenteil, er beansprucht das Recht auf sein Monopol. Wenn das nicht der Fall wäre, was wäre dann mit Pinheirinho, den Militärstützpunkten in den Favelas, den Brandstiftungen, Belo Monte, den überfüllten Gefängnissen? Eine entscheidende Episode in Rio de Janeiro war die Räumung des Viertels Maracanã. An diesem Tag griffen die Menschen nach dem zügellosen Einsatz von Polizeigewalt die Polizeiautos vor der Alerj (Assembleia Legislativa do Rio de Janeiro, d.Ü.) mit Kokosnüssen an – dieselbe Alerj, die einen Monat später von der Bevölkerung mit Steinen und Stöcken gestürmt werden sollte. In diesem Zusammenhang diente dann eine Fahrpreiserhöhung als Wassertropfen, um die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zum Überlaufen zu bringen, aber davor war der Hauptauslöser die Räumung des Viertels Maracanã und der darauf folgende Widerstandskampf. In Rio de Janeiro war es nicht die ‘Freifahrtschein’-Bewegung, die Millionen auf die Straße brachte, und auch nicht in São Paulo (obwohl sie zu Aktionen aufrief, die sich später massenhaft verbreiteten). Es war ein völlig anderer Kontext, aus Gründen, die schon vorher existierten, die sich aber in diesem beispiellosen sozialen Aufruhr in unserer Gesellschaft zugespitzt haben. Zum ersten Mal wurde die Manipulation durch die herrschenden Oligarchien durchbrochen, im Gegensatz zu dem, was bei „Fora Collor“ geschah (Bewegung, die 1992 die Amtsenthebung des Präsidenten Fenando Collor de Melo forderte, d.Ü.). Vielleicht haben wir zum ersten Mal wirkliche Veränderungen gefordert, die mit der derzeitigen gesellschaftlichen Struktur nicht erreichbar wären.

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Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch durch Bonustracks. Der Originalartikel erschien bei MIDIA 1508.  

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