Verjährte Erinnerungen an eine unverbrüchliche Freundschaft [Lektoriert]

Julien Coupat

Dieser kurze Text wurde am 23. Mai 2023 anlässlich des 25-jährigen Bestehens des französischen Verlags La fabrique, gegründet und geleitet von dem französischen Schriftsteller Éric Hazan, veröffentlicht. [An dieser Stelle auf Wunsch des Autors eine von einem Genossen aus Frankreich lektorierte, zutreffendere Fassung.]

Es ist notwendig, neu anzufangen.

Auguste Blanqui, 1871 

Als ich das erste Mal mit La fabrique in Berührung kam, war es nur ein Computer in einem kleinen Raum im hinteren Teil von Érics Wohnung in der Rue du Faubourg du Temple [in Paris]. Wir hatten ihn einige Monate zuvor kennengelernt, er hatte uns in unserem Treffpunkt in der Rue Saint-Ambroise besucht. Absurderweise war es für [Alain] Brossat wichtig, dass Éric uns eines Tages anrief. Für diejenigen, die einander begegnen sollen, ist der Vermittler unerheblich. Das war in einem anderen Jahrhundert, im Jahr 1999.

Die erste Ausgabe von Tiqqun war gerade erschienen. Eine Handvoll Leute, die die ganze Epoche, ihre unreflektierte Moral und die ihr zugrundeliegende Politik in Frage stellten, lösten damals nicht die Angst vor dem Verlust jeglicher gesellschaftlicher Glaubwürdigkeit aus; wir erhielten sogar eine reiche Korrespondenz und einige beleidigende Briefe. Die Konfrontation von Franz Kafka und Carl Schmitt, Georg Lukács und Ernst Jünger, der Theorie des jungen Mädchens und Carla Lonzi mit dem, was wir „die Welt der autoritären Ware“ nannten und sich inzwischen so genau verwirklicht hat, mag einige Linke irritiert haben, aber sie diente nicht als Grundlage für eine öffentliche Hetzkampagne; dafür gab es noch zu viele Leser.

Wir hatten die Idee, die Hauptartikel der Zeitschrift, die unverhältnismäßig lang waren, als zugespitzte Sonderdrucke zu veröffentlichen. Um die Wahrheit zu sagen, haben wir die Idee immer noch: es ist mehr als zwanzig Jahre her, dass wir die Thesen über die Imaginäre Partei im Hinblick auf ihre separate Veröffentlichung aufgreifen wollten, aber wir sind langsam, sehr langsam, fast geologisch, und einige juristische Wechselfälle haben dazu geführt, dass wir ein Jahrzehnt oder so für dieses lobenswerten Projekt verschenkt haben.

Um es kurz zu machen: Im März 2000 wurde die ‘Theorie vom Bloom’ bei La fabrique veröffentlicht, ein „redaktioneller Virus“ nach unserer Manier, in dem das Unsichtbare Komitee zum ersten Mal definiert wird, eine Tatsache, die dem Scharfsinn der polizeilichen Ermittler zum Glück entging. Es hätte gereicht, den Klappentext zu lesen: „Unsichtbares Komitee, eine anonyme Verschwörung, die durch Sabotage und Aufstände die marktwirtschaftliche Herrschaft im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts beendet“ – die Zeit läuft definitiv ab. Es war das achte Buch des noch jungen Verlags, wenn ich mich recht erinnere. Es war auch der Beginn einer merkwürdigen familiären Freundschaft, die mich seither mit Éric verbindet. Ich muss zugeben, dass es nicht oft vorkommt, dass ein Verleger, den man gerade erst kennengelernt hat und von dem man an einem Samstagnachmittag mit nach Hause genommen wird, um „einige letzte Korrekturen“ am Layout eines zu veröffentlichenden Buches vorzunehmen, einen allein vor seinem Mac in seiner Wohnung sitzen lässt, mit der einzigen Anweisung, dass man beim Hinausgehen die Tür schließen soll, da er selbst dringend weg muss. Und dass er Ihnen hinterher nicht vorwirft, das Layout mit den Hunderten von Ergänzungen und Änderungen, die Sie an der endgültigen XPress-Datei vorgenommen haben, vermasselt zu haben.

Bisher haben mir die unentschuldbaren Verzögerungen bei der Ablieferung von Manuskripten oder die endlosen Korrekturrunden, selbst beim zweiten Nachdruck unserer Bücher, nur milde Tadel auf dem Anrufbeantworter eingebracht: Freundschaft ist zwar nicht von einer gemeinsamen Anforderung aneinander ausgenommen, aber sie ist auch nicht exklusiv für solche Nachsicht. Es ist also nicht verwunderlich, dass die zweite Ausgabe von Tiqqun im Jahr 2001 trotz ihres rigorosen Selbstverlags und ihres absolut skandalösen Inhalts im Namen von La fabrique bei Belles Lettres vertrieben wurde und dass ihr Bestand zusammen mit der gesamten Sammlung von Guillaume Budé verbrannt ist, zum großen Vorteil des Opfers, das vorteilhaft versichert war.

Unsere Freundschaft stand bereits in Flammen, was soll ich sagen? Die konspirative Veranlagung ist einer echten Freundschaft in dieser Welt inhärent. Die Subjekte lösen sich an dem Punkt auf, an dem sie sich begegnen, was keine Polizei tolerieren kann. Das muss der geheime Grund sein, warum die Mikrofone bei Érics erstem Besuch in [dem Gefängnis von] La Santé nicht funktionierten, den die DGSI [Generaldirektion für innere Sicherheit] somit nicht ausspionieren konnte. Es gab immer eine blanquistische Freude mit Éric, gemeinsam an dieser oder jener Passage aus der ‘Anleitung zum Bürgerkriegs’ oder den ‘Ersten revolutionären Maßnahmen’ (Premières mesures révolutionnaires) zu arbeiten. Wenn Freundschaften angeborene Codenamen haben, dann passt „Blanqui“ zu unserer, auch für das, was wie an leicht sturer Härte, Eigensinn und Vorurteilen gegen Ideologie enthält.

Ich muss sagen, dass ich, als ich 2006 das Vorwort zu Blanquis Essaysammlung ‘Maintenant, il faut des armes’ schrieb, eine Vorahnung hatte, dass ich im Begriff war, eine unglückliche Affinität zum Gefängnis zu entwickeln, eine Affinität, die wir offensichtlich nicht rechtzeitig auflösen konnten. Diese Vorahnung war so stark, dass wir es einige Monate später, als es an der Zeit war, ‘Der kommende Aufstand’ zu veröffentlichen, vorzogen, keinen Vertrag zu unterzeichnen, um die Arbeit der Polizei nicht durch Geldströme zu erleichtern. Mit seinem Titel, einer freundschaftlich-polemischen Anspielung auf Giorgio Agambens ‘Die kommende Gemeinschaft’, seiner durchsichtigen Signatur und seinem dem Aufruf entnommenen Umschlag war die Herkunft des Buches kaum ein Rätsel, aber schließlich ist ein Netz von Hinweisen nichts gegenüber einem hieb-und stichfesten Beweis von Geldüberweisungen, wie alles, was folgte, hinreichend bestätigen sollte. Zusammen mit einigen heilsamen Vorsichtsmaßnahmen reichte dies für die Polizei aus, um die Herkunft des Buches nicht beweisen zu können. Also vereinbarten wir mit Éric mündlich, dass La fabrique die Rechte für den Verkauf von weniger als 10.000 Exemplaren behalten würde, und dass wir darüber hinaus dafür sorgen würden, dass sie in der einen oder anderen Form an uns abgetreten werden würden.

Es gelang uns schließlich, mehr als 10 000 Exemplare zu verkaufen, aber erst nach unserer Verhaftung, und da war es schon zu spät, um irgendeine Art von Transfer zu organisieren, abgesehen von ein paar Überweisungen an Anwälte oder für die Organisierung dieser oder jener unschuldigen Handlung. Wenn dies die verlustreiche Veröffentlichung von Louis Ménards Prologue d’une révolution oder Amnon Raz-Krakotzkins Exil et souveraineté kompensiert hat, dann ist das ein Grund zum Feiern. Ich muss sagen, dass mein Talent, die wenigen kommerziellen oder wertschätzenden Erfolge, für die ich verantwortlich war, an andere weiterzugeben, nie nachgelassen hat,was mich eher befriedigt. Ich habe mich immer vor der Bedrohung des Schreibens durch Geld oder Ruhm gehütet: Man schreibt schneller für Geld oder Ruhm, als man denkt, und nicht, um das auszudrücken, was die Zeit von einem verlangt.

Nun, da es eine Verjährungsfrist gibt, müssen wir zugeben, dass „Der kommende Aufstand“ ein völliger Fehlschlag war. In Unkenntnis des damaligen Status des geschriebenen Wortes und noch in der Begeisterung des Kampfes gegen den Erstbeschäftigungsvertrag (CPE) hofften wir, mit diesem Buch, das im März 2007, zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen, veröffentlicht und von vielen anderen Ungezogenheiten begleitet wurde, den Wahlkampf und die Wahl von Nicolas Sarkozy in einen Sturm zu verwandeln. Es scheint, dass wir unsere Kräfte ein wenig überschätzt haben, aber letztendlich waren wir guten Willens. Es ist nicht wahr, dass die Übertreibung der eigenen Kräfte nicht manchmal die Überwindung eines Hindernisses ermöglicht, das sonst unüberwindbar wäre. Der Fehler besteht darin, daraus eine Methode zu machen. Um die Stimmung zu veranschaulichen, die beim Schreiben von ‘Der kommende Aufstand’ herrschte, und um sie sowohl greifbar als auch amüsant zu machen, muss ich eine Erinnerung erzählen: die an unsere bescheidene „Polen-Kampagne“.

Anfang Februar 2007, als ich gerade dabei war, die Korrekturfahnen von ‘Der kommende Aufstand’ fertig zu lesen, kamen wir auf die glänzende Idee, uns international auszudehnen, indem wir unsere Verbindungen zu derselben Antiglobalisierungsbewegung erneuerten, die wir 2003 mit ‘Aufruf’ verächtlich verlassen hatten. Wir wollten wieder mit ihr in Kontakt treten, aber von einer anderen, klareren und weniger schwankenden Basis aus, aufgeladen mit unserer eigenen Energie, wie ein Torpedo in einer Bewegung, der immer noch auf Kurs ist. Zu diesem Zweck beschlossen wir, Europa in einem neunsitzigen Volkswagen T4 mit abgelaufenen deutschen Transitkennzeichen nach Warschau zu durchqueren. Wir glaubten fest daran, dass die deutschen Zöllner in Frankfurt an der Oder uns auf dem Hin- und Rückweg in ihrer legendären Lässigkeit durchlassen würden. Unsere Crew aus politisch engagierten Franzosen, Amerikanern auf der Flucht und kanadischen Meuterern sollte nach Warschau reisen, um dort an einem Vorbereitungstreffen für den Gegengipfel in Heiligendamm teilzunehmen, der für Juni 2007 geplant war.

Wie Sie sich vorstellen können, begann unsere „Polen-Kampagne“ zu Fuß, im Februarschnee, auf der Autobahn von Frankfurt an der Oder nach Warschau, da unser Fahrzeug natürlich vom deutschen Zoll beschlagnahmt worden war. Zu sagen, dass das Trampen auf einer polnischen Autobahn im Winter mit Rucksäcken und Daunendecken auf dem Rücken eine vielversprechende Aussicht ist, ist eine Untertreibung. Aber wir waren, wie gesagt, voller guten Willens und kamen schließlich mit dem Zug in Warschau an. Das internationale Treffen des Netzwerks von Globalisierungsgegnern, dem wir uns anschlossen, noch vom Furor gegen den CPE angetrieben, war offensichtlich, wie wir später, zu spät feststellen sollten, ein Nest von Spionen.

Allein in der britischen Delegation gab es mindestens zwei von ihnen, angefangen bei unserem geschätzten Mark Kennedy von der Londoner Metropolitan Police, den wir zu diesem Zeitpunkt gerade kennenlernen wollten. In den wenigen Worten, die wir mit ihm in einer Bar wechselten, teilte er uns seinen Verdacht über den anderen britischen Offizier mit, der für wer weiß welchen rivalisierenden Dienst arbeiten muss – es sei denn, es ist Teil eines Handbuchs für den perfekten Infiltrator, seine Zweifel an Kollegen gegenüber Aktivisten zu äußern, um seine eigene Legende zu sichern. Unter diesen Bedingungen, am Rande dieses Treffens, bei dem wir auch zukünftige und sehr wertvolle Genossen treffen sollten, las ich in einem besetzten Haus in Warschau zwischen Treffen, Bier und Spionen die Korrekturfahnen von ‘Der kommende Aufstand’. Dann kam der letzte Moment, der mehrmals verschoben wurde, um meine Litanei von Korrekturen per E-Mail an Stéphane zu schicken, Érics damaligem Komplizen bei La fabrique.

Dazu mussten wir alle handschriftlichen Notizen der Dokumente in eine einzige Datei kopieren. Aber es war bereits dunkel, und wir befanden uns am Bahnhof von Poznan, wo wir den Frühzug zurück nach Frankfurt nehmen sollten, wo unser beschlagnahmter T4 auf uns wartete. Was einen Ort mit etwas Licht, wenn auch flackerndem, sogar Stroboskoplicht, und einer Steckdose für einen Laptop an einem Sonntagabend um elf Uhr in Poznan anging, so war alles, was wir, geleitet vom Lärm, finden konnten, eine schäbige Diskothek in einem Hinterhof. Erst am nächsten Morgen konnten wir Stéphane unsere letzten Korrekturen schicken, aber letztlich war es unseren Mitstreitern zu verdanken, die auf die Tanzfläche eilten, um die Schließung bis in die Mitte der Nacht hinauszuzögern, gerade lange genug, damit wir alle Ergänzungen fertig kopieren konnten. Es ist leicht einzusehen, dass der Reprint unter diesen Bedingungen noch einige kleinere Korrekturen benötigte, vom Perfektionismus einmal abgesehen.

So viel zum Pikaresken, das ich bis jetzt nicht erzählen konnte. Es wird mein Geburtstagsgeschenk für diese fünfundzwanzig Jahre sein, denn ich habe nur wenig Sinn für Jahrestage oder die Dauerhaftigkeit von nominellen Realitäten. Aber Freundschaften sind es immer wert, gefeiert zu werden. Jüngere Erinnerungen und zukünftige Projekte behalten wir besser für uns. Erstere sind noch nicht durch ein glückliches Gesetz abgedeckt, und letztere verwelken, wenn sie beschworen werden, bevor sie Wirklichkeit geworden sind. Das Politische ist hier natürlich nicht das Thema. Wie Mascolo in seinen Notizbüchern notierte: „Wenn ich Fremden gegenüber meine Identität angeben muss, werde ich ziemlich schnell dazu gebracht, zu sagen, dass ich Kommunist bin. Und dies ist nicht politisch.”

Dieser Text erschien auf spanisch auf Artillería inmanente (vielleicht findet er sich auch irgendwo in digitaler Form im französischen Original) und wurde von Bonustracks ins Deutsche übertragen. 

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„ES GIBT NICHTS MEHR ZU PLÜNDERN“

DIJIMI DIALLO

Seit etwas mehr als einer Woche sind die Explosionen der Pyrotechnik in den Großsiedlungen seltener geworden. Die Kakophonie des Kommentariats hingegen hat nicht aufgehört: weiche humanistische Positionen, Aufrufe zur Ruhe und zum republikanischen Geist, sicherheitspolitische und ultrarepressive Antworten fluten weiterhin in Richtung der „Kolonisierten des Inneren“. Djimi Diallo erläutert in drei Punkten, was sich im Herzen der Revolten dieses Frühsommers abgespielt hat und was sie über ein bestimmtes Verhältnis zum Ort, zur Sprache, zur Linken und zur Verzweiflung aussagen. (Vorwort Lundi Matin)

1. NICHTS ZU ERWARTEN, NICHTS ZU VERLIEREN

Um den afropessimistischen Philosophen Frank B. Wilderson zu paraphrasieren, ist die Entmenschlichung von Schwarzen (und im französischen Fall von Arabern) für die Existenz der Gesellschaft notwendig. Schwarz und arabisch zu sein ist keine Identität, sondern eine Position, „gegen die sich die Menschheit etabliert“, gegen die sie ihre Kohärenz aufrechterhält und erneuert. Die Gewalt, die wir erleiden, ist exzessiv und irrational: Sie ist ihr eigenes Endprodukt. Dies ist der libidinös-morbide Kern des weißen supremacism, den Idris Robinson in „Wie es geschehen sollte“ (auf deutsch in 08/2020 auf Sunzi Bingfa, d.Ü.) beschrieb: Gewalt gegen nicht-weiße Körper in Frankreich ist eine Sache des Genießens, und dieses Genießen, ausgenommenen Körpern Gewalt zuzufügen, ist der Stoff, aus dem sich das Gewebe des gesellschaftlichen Lebens zusammensetzt. Die Individuen, aus denen sich die (französische) Gesellschaft zusammensetzt, erkennen sich selbst als Menschen („Gleichberechtigte“) an, im Gegensatz zu den Kolonisierten im Inneren, die von den Sklaven und Kolonisierten der Vergangenheit abstammen. 

„Schwarze“ und „Araber“ sind die Namen zweier seltsamer Wesen: ein Ausschluss aus der weißen Gesellschaft, der auf der Zerstörung aller Bedingungen für die Möglichkeit einer Separation beruht, die im Sinne einer Autonomie (d. h. einer wirtschaftlichen und politischen Selbstbestimmung) verstanden wird. Die Position, auf die wir manchmal punktuell, oft systematisch durch staatliche Gewalt zurückgeworfen werden, existiert nur, um der Gesellschaft zu ermöglichen, in ihrem Sein zu verharren, und verweist keineswegs auf ein „Vorher“: Dies ist die Grundlage unseres Pessimismus. Da die meisten von uns hier leben und eine Minderheit sind, können wir uns nur auf die Fähigkeit der Weißen verlassen, ihren Rassismus einzudämmen/zu kontrollieren – aber rassistische Gewalt ist eine konstitutive Gewalt ihrer Gesellschaft, in der jede Schicht durch denselben Gegensatz zu der Position, die man (notwendigerweise) einnimmt (einnehmen muss), determiniert ist.

Die Befreiung postkolonialer Subjekte kann daher nicht mithilfe der Emanzipationsgrammatik der Linken (sei sie marxistisch, feministisch oder ökologisch) betrachtet werden: Es gibt keine Zeit, die man sich wieder aneignen muss, keine beschissenen Beziehungen, aus denen man aussteigen muss, um seine Individualität wiederzufinden, kein Land, das man zurückgewinnen muss. Es gibt nur eine Würde, die man wiedererlangen kann, indem man der Welt des Rassismus (der Negrophobie und Arabophobie) ein Ende setzt. Ruhm den Aufständischen, die diesen Sachverhalt perfekt verstanden haben: Ihr Ziel war es nicht, die Gesellschaft zu reparieren und ihren pathologischen Rassismus zu heilen, sondern ihre Institutionen, ihre Logistik, ihre Symbole anzugreifen und die Zirkulation ihrer Ware zu unterbrechen. Der Aufstand ist Ausdruck eines radikalen Antagonismus: Entweder sie oder wir. Die Revolte dieser Jugend lässt sich nicht in die Sprache übersetzen, die im weißen, liberalen öffentlichen Raum üblich ist: Sie entfaltet sich in einem Außerhalb, das die Politik nicht einfangen kann.

Die Unruhen können multi-ethnisch sein (und waren es zum Teil auch, je nach Stadt), aber das Eintreten für die Unruhestifter ist ein Eintreten für die Zerstörung der Welt, in der rassistische Kategorien relevant sind – und sie reißen die Organisation des großstädtischen Raums und die Arbeitsteilung, die sie strukturieren, mit sich. Das Feuer kommt, um Räume zu verzehren, die uns ohnehin nicht gehören – wir sind in diesen heruntergekommenen Sozialwohnungen nicht zu Hause, diese Schulen dienen nur unserer Ausgrenzung, diese öffentlichen Verkehrsmittel sind nur ein Symbol für unsere Arbeitszwang und unsere zerbrochenen Träume, diese Polizeistationen haben nur die Funktion, Gewalt gegen unsere Körper auszuüben.

2. KEINE ALLIANZEN

All das scheint die Linke immer noch nicht zu verstehen. Also im Gegensatz zu 2005 schien die Linke zunächst den Ernst der Lage zu erkennen. Das heißt, außer der Linken, die die sozialen Netzwerke abschalten möchte, um die Ordnung wiederherzustellen. Wir können auch diejenige ausschließen, die Macron zu Hilfe ruft, um die BRI/die Raid in ihre Stadt zu schicken. Wir können auch diejenige ausschließen, die an Kundgebungen zur Unterstützung eines rechtsextremen Bürgermeisters teilnimmt, während Kinder in Sofortverhandlungen verurteilt werden. Diejenige, die eine „Reform“ der Polizei fordert und jede Analyse ihrer Rolle bei der Gewalt, die den Körpern nicht-weißer Männer in Frankreich zugefügt wird, ablehnt. Sie hat nur Analysen über die „Klassengewalt“ der Polizei und der Justiz zu bieten, wenn es um Jugendliche geht, die gerade mit ansehen mussten, wie einem Kind in den Kopf geschossen wurde und andere sechs Monate eingesperrt wurden, weil sie eine Hugo-Boss-Jeans von einem heißen Boden aufhoben. Die, die erklärt, dass „man so keine Revolution macht“, oder dass diese Kinder nur „von einem Gefühl der Selbstzerstörung“ getrieben werden. Schließlich können wir all die „Ältesten“, „großen Brüder“ und anderen selbsternannten Vertreter ausschließen, die zur Ruhe gemeinsam all diesen Menschen aufrufen, weil „es offensichtlich ein Fehler ist, Schulen und Bibliotheken anzugreifen“. Ups, jetzt sind nicht mehr viele übrig.

Was sich im Vergleich zu 2005 geändert hat, ist, dass ein Teil der Linken zwar „helfen“ möchte, sich aber weigert, die Situation zu verstehen. Sie sammeln „Zeugenaussagen“ und analysieren die Situation dann mit ihren Worten, ihren Referenzen und ihrer polizeilichen Sozialwissenschaft. Die Dümmsten rufen dazu auf, mehr in die Polizei zu investieren (angeblich, um sie vom Boden bis zur Decke zu erneuern), die Waghalsigsten fordern den Aufbau einer „breiten Front“ (die seltsamerweise die oben erwähnten Verräter einschließt), die dazu dienen soll, diese Revolte in eine Bewegung „mit klaren Forderungen“ zu verwandeln, und die Wohlmeinendsten bieten wertvolle Solidarität auf der Straße und in den Gerichten, haben aber noch Schwierigkeiten, eine Analyse und einen Diskurs zu formulieren, die es ihnen ermöglichen würden, die Materialität der ethnischen Kategorien tatsächlich zu verstehen und die Grenzen, die sie errichten, zu überwinden (aber das kommt vielleicht noch).

3. FRANKREICH HAT UNS NICHTS ZU BIETEN

Die Linke ist scheiße, versucht aber manchmal, weniger scheiße zu sein (und das ist ein Fortschritt). Der Rest des Landes hingegen versinkt in Rassismus und Gleichgültigkeit. Es hat etwas Ekelhaftes und Obszönes, dass fast die gesamte Öffentlichkeit ihre „Ordnungskräfte“, „kleinen Ladenbesitzer“ und „Institutionen“ unerschütterlich unterstützt. Frankreich sah den Horror dessen, was die Polizei einem Teil seiner Jugend zufügte, und nahm Stellung…. Für diese Gewalt. Der Hass dieses Landes auf seine nicht-weiße Jugend ist unveränderlich, unbeweglich – notwendigerweise. Und die Entfaltung der justiziellen Polizeigewalt nach dem Aufstand ist die perfekte Fortsetzung der Rhetorik der Regierung und der extremen Rechten: Man hat gesehen, wie Kinder mit automatischen Waffen überwältigt und in den Würgegriff genommen wurden. Man hat gesehen, wie in Französisch-Guyana ein Mann in allgemeiner Gleichgültigkeit getötet wurde. Man hat gesehen, wie Panzer in als problematisch eingestuften Stadtvierteln eingesetzt wurden. Man sah, wie Bürgermeister (auch linke) Ausgangssperren für Jugendliche einführten. Die Region Île-de-France hat den öffentlichen Nahverkehr ab 21 Uhr in der kleinen und großen Agglomeration abgeschaltet. Wir haben gesehen, wie 3000 Personen in nur 72 Stunden von der Polizei festgenommen wurden. 

Wir haben gesehen, wie Nazis an die Stelle der Polizei traten und mit Billigung der Ordnungskräfte Jugendliche verhafteten. Wir haben gesehen, wie der Mörder von Nahel dank der Solidarität all derer, die uns hassen, innerhalb weniger Tage zum Millionär wurde.

Die Unterdrückung durch die Justiz ist vielleicht noch ekelhafter: Hier ist alles nur ein einziger Ausnahmezustand, ein Beispiel. Es geht weniger darum, die Aufständischen zu bestrafen, als vielmehr darum, die Gruppe, der sie angeblich angehören, zu terrorisieren. Die „Hierarchie“ (um eine Staatsanwältin aus Marseille zu zitieren) zwischen dem Staat, der durch seine Polizei verkörpert wird, und den „Jugendlichen aus den Stadtvierteln“ soll um jeden Preis aufrechterhalten werden. Kinder werden zu Bewährungsstrafen verurteilt, weil sie bei der Plünderung eines Kaufhauses einfach nur anwesend waren, Jugendliche erhalten Haftstrafen, weil sie ein Paar Nike-Schuhe aus einem zwei Stunden zuvor aufgebrochenen Geschäft aufgehoben haben, junge Männer erhalten schwere Strafen, weil sie mit einem ‘Mörser’ in der Hand erwischt wurden oder weil sie es gewagt haben, bei ihrer gewaltsamen Festnahme Widerstand zu leisten. Nur Schwarze und Araber, die im Schnellverfahren vor Gericht gestellt werden. Die Repression funktioniert: Die Bewegung auf der Straße ist bereits beendet. Friedliche Demonstrationen, die „nach Wahrheit und Gerechtigkeit“ oder „nach einem Ende der Polizeimorde“ rufen, werden zwar wieder aufgenommen, aber alles scheint bereits zu spät zu sein. Mütter haben Angst und machen Märsche, um zur Ruhe aufzurufen, und abends traut sich niemand mehr auf die Straße.

Aber noch trauriger könnte der Grund für das Ende der Bewegung sein. Ein älterer Mann aus Le Clos français (einer Siedlung im oberen Montreuil) und ein geschätzter Genosse sagten uns in der Vollversammlung am Sonntag, dem 2. Juli: „Die Demonstrationen werden wahrscheinlich aufhören, weil es nichts mehr zu plündern gibt“. Dort, wo wir aufgewachsen sind, ist bereits nichts mehr übrig. Nichts verbindet uns mehr mit dieser Welt, nicht einmal die Zirkulation der Waren. Es fehlt uns bereits an allem. Und Frankreich hat uns nichts mehr zu bieten, außer seiner Gewalt. Uns bleibt nur die kollektive Solidarität, die wir mit allen teilen, die es wollen, und die Fantasie einer Organisation, die sich als zerstörerische Kraft aufstellt, die in der Lage ist, der supremacistischen Gewalt zu widerstehen.

Aber seien wir doch mal ehrlich: Die Zeit ist reif für Pessimismus, ja sogar für Verzweiflung. Vielleicht wird es hier nie ein Leben für uns geben. Wir sagen es immer wieder: Es ist immer schon zu spät. Es wird immer zu spät sein, etwas zu unternehmen, solange sich die Weißen untereinander als Weiße erkennen. Solange sie die gesamte Ordnung des Lebendigen nach einem hierarchischen Schema angehen, das „die Menschen“ von vornherein an die Spitze stellt und als Folge davon eine untergeordnete und antagonistische Gruppe von „fast Menschen“ schafft. Solange sie weiterhin Freude und Stolz aus ihrer Fähigkeit ziehen, frei über unsere Körper zu verfügen. Unsere Niederlage scheint in unserem Handeln enthalten zu sein, denn sie werden auf unsere Hilferufe niemals anders reagieren als mit kriegerischen Handlungen. Als Anti-Rassist in den öffentlichen Raum einzutreten, bedeutet, direkt gegen eine Wand zu fahren. Sich mit all jenen zusammen in eine Ausweglosigkeit zu begeben, die ein Interesse daran haben, dass die Welt, in der einige von unserer Tötung, Einsperrung, Überausbeutung und der Zurschaustellung unserer Körper profitieren, vollständig zerstört wird.

Erschienen im Original am 10. Juli 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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AUF DIE SCHREIE UND WORTE DER REVOLTIERENDEN HÖREN

ALESSANDRO STELLA

Seit jeher wurden die Aufstände der Unterdrückten von den herrschenden Eliten stigmatisiert und als Unruhen, Tumulte, plötzliche und unverständliche Explosionen von verwirrten, hasserfüllten Menschenmengen, anonymen Massen ohne Anführer oder Verstand, als Lärm und Wut, die die anständigen Leute in Angst und Schrecken versetzten, bezeichnet. Seither spricht man von Wut, Zorn und unerklärlichen und unentschuldbaren Gewalttätigkeiten der „Aufrührer“. Die Disqualifizierung der Revolte und die Kriminalisierung der Revoltierenden dienen dazu, ihre Unterdrückung zu legitimieren. Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse und schnellen Abfolgen dieser Revolte von Ende Juni 2023 in Frankreich, der sogenannten Revolte der Vorstädte.

Der Mord an dem 17-jährigen Nahel, der am Morgen des 27. Juni 2023 in Nanterre von einem übereifrigen und hochdekorierten Polizisten begangen wurde, hat in allen Arbeitervierteln Frankreichs die Stimmung angeheizt. Es war der x-te Mord, den Polizisten an rassistisch diskriminierten Menschen verübten, die in den städtischen Randgebieten lebten. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nahel hatte einen leistungsstarken Mercedes gemietet und fuhr mit zwei gleichaltrigen Freunden durch die Straßen seines Viertels, aus Spaß, aus Angeberei, aus dem jugendlichen Drang, das Leben zu genießen, bisweilen vielleicht auch nur unbewusst. Abgesehen von den genauen Umständen seiner Festnahme kann man die Hypothese aufstellen, dass die Polizisten, die im Dienst mächtige Motorräder vom Typ Yamaha 1200 fuhren um Abends mit ihrem armseligen Clio nach Hause zu fahren, es für unerträglich hielten, dass drei rebellische Jugendliche mit einem Luxusauto herumfahren konnten.

Nachdem die Polizisten den Mord begangen hatten, fühlten sie sich durch die Straffreiheit, die der Staat seinen bewaffneten Dienern gewährt, geschützt. Ihre Version der Ereignisse (Notwehr, wie üblich) wurde jedoch schnell durch die von Passanten aufgenommenen Bilder entkräftet. Das brachte die Familie, die Freunde und die Bewohner der Arbeiterviertel von Nanterre und anderswo sofort zum Kochen. Bereits am Abend des 27. Juni brachen in Nanterre und anderen Städten im Großraum Paris „Unruhen“ aus, die sich am nächsten Tag und in den darauffolgenden Tagen auf alle Städte in Frankreich ausbreiteten, in denen sich Schlafstädte befinden, die überwiegend von Schwarzen und Arabern bewohnt werden, die sozial abgehängt, diskriminiert und rassistisch ausgegrenzt sind, mit einer noch größeren Intensität als bei früheren Aufständen in den Vorstädten, insbesondere in den Jahren 2005 und 2007.

Die ersten Ziele der Aufständischen waren Polizisten und Gendarmen, wobei Dutzende von Polizeistationen und Gendarmerieposten gestürmt wurden und es immer wieder zu Zusammenstößen mit den Ordnungskräften kam. Dann griffen die aufständischen Demonstranten Präfekturen und Rathäuser an, bevor sie ihre Aktionen gegen Banken, Versicherungen, Luxusboutiquen und Supermärkte richteten. Aber auch gegen öffentliche Gebäude, Schulen, Arbeitsämter und Mediatheken. Innerhalb von sechs Tagen wurden ein Dutzend Einkaufszentren, 200 Supermarktketten, 250 Tabakläden und 250 Bankfilialen teilweise oder vollständig zerstört. Auch zahlreiche Mode-, Sport- und Telekommunikationsunternehmen sowie Restaurants wurden beschädigt oder geplündert“ (Libération, 3. Juli 2023, S. 3).

Allein in Montreuil, einem Pariser Vorort, in der Nacht vom 28. auf den 29. Juni: Angriff auf das Rathaus und die Polizeistation, systematische Zerstörung der Schaufenster und Geldautomaten der Banken, Verwüstung und Plünderung der Geschäfte im Einkaufszentrum des Rathauses, der Bar-Tabac in Croix de Chavaux, von Monoprix und Franprix, des Lidl und der Bar-Tabac in der Rue de Rosny, der in Paul Signac oder auch zweier Geschäfte an Tankstellen in Ober-Montreuil. Dagegen waren weder das Kino Méliès noch das öffentliche Theater in Montreuil oder die kleinen Läden im Stadtzentrum betroffen. Erwähnenswert ist auch, dass es zwar auf der Höhe des Lycée Jean Jaurès in der Rue de Rosny zu Mülltonnenbränden und Barrikaden kam, der dortige Tabakladen jedoch verschont wurde (vermutlich aus Respekt vor dem eigenen Zuhause).

In einer ersten Phase waren die Behörden und die Ordnungskräfte überfordert. Erstens, weil „die Unruhen“ in den Vorstädten stattfanden, wo die Polizeipräsenz, die in normalen Zeiten natürlich einschüchternd und alltäglich war, dem Ansturm lokaler Gruppen, die ihr Gebiet kannten und von den Bewohnern des Viertels unterstützt wurden, nicht gewachsen war. Zweitens, weil die Aufständischen es verstanden, eine moderne und einfallsreiche Stadtguerilla zu praktizieren: massiver Einsatz von horizontal abgefeuerten Feuerwerksmörsern, Diebstahl von Autos von Abschleppdiensten und von Autohändlern (schlüsselfertig …), um sie als Rammbock zum Aufbrechen von Türen und Toren zu verwenden, Einsatz von Baumaschinen, denen sie auf dem Weg begegneten, schnelle Aktionen und Mobilität der Gruppen, Einsatz verschlüsselter Anwendungen, um sich gegenseitig Informationen zu übermitteln und sich zu verabreden. Und vor allem, am wichtigsten, überwältigten die Aufständischen die Polizeikräfte zahlenmäßig: Hunderttausende von Menschen dürften auf die eine oder andere Weise an dem Aufstand beteiligt gewesen sein. Während der Nacht, wenn alle Katzen grau sind.

Wie zu Beginn der Gelbwesten-Bewegung hat auch die Bewegung der Bewohner der Banlieues die autoritäre Macht unvorbereitet getroffen. Trotz vierzig Jahren Protesten, Unruhen und Revolten hatte der Staat die Aufstände in den Vorstädten nicht kommen sehen. Nachdem er den Volksaufstand gegen die Rentenreform niedergeschlagen hatte, waren seine Augen auf die Unterdrückung der ‘Aufstände der Erde’ (soulèvements de la terre) gerichtet. Doch dann explodierte eine andere, unerwartete Revolte mitten in seinem Gesicht. Und zwar unkontrollierbar! Denn das Feuer war überall, in Hunderten von Städten in Frankreich, an Tausenden von Orten, verstreut. Wie bei der Gelbwesten Bewegung sah sich der Staat mit einer Bewegung konfrontiert, die im ganzen Land verankert war, keineswegs konzentriert, überhaupt nicht zentralisiert. Von den Metropolen bis zu den kleinen Provinzstädten, überall dort, wo der Staat seit Jahrzehnten Schlafstädte errichtet hatte, um die für die industrielle Entwicklung nützlichen und notwendigen Arbeitsmigranten unterzubringen, kam es zum Aufstand. Durch kleine, affine, selbstorganisierte Gruppen, die durch gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen miteinander verbunden waren, in einer Selbstidentifikation als diskriminierte, misshandelte und verachtete Bevölkerungsgruppen.

Denn das Profil der Aufständischen dieses Sommers 2023 in Frankreich sieht folgendermaßen aus. Es handelt sich um junge Leute (17 Jahre alt war das Durchschnittsalter der Verhafteten, so alt wie auch Nahel), in ihrer großen Mehrheit Söhne, Enkel und Urenkel von afrikanischen und nordafrikanischen Einwanderern, die als billige Arbeitskräfte nach Frankreich kamen, um die Industrie und später die Dienstleistungen und den Vertrieb am Laufen zu halten. Diese Menschen wurden ausgebeutet und in Ghettos in den städtischen Randgebieten untergebracht. Ehemalige Kolonisierte, die ihres Landes beraubt und dann gezwungen wurden, sich für einen Job, einen Lohn und eine Unterkunft in einem Kaninchenkäfig in die Emigration zu fügen. Eigentlich Franzosen, die aber wie Schwarze und Araber behandelt wurden, also in der identitätsstiftenden Vorstellungswelt der „Stammfranzosen“ als weniger als nichts, als minderwertig angesehen wurden.

Und der Staat bekam Angst. Er setzte schnell den gesamten Repressionsapparat ein: 45.000 Polizisten und Gendarmen wurden mobilisiert, um die Revolte niederzuschlagen, 60.000 Feuerwehrleute wurden zu ihrer Unterstützung eingesetzt, auf Antiterrorismus spezialisierte Einheiten wurden eingesetzt, eine beeindruckende Offensivbewaffnung wurde eingesetzt, darunter auch die Panzer der Gendarmerie in den Straßen von Marseille.

Die Reaktion des Staates auf die an einen allgemeinen Aufstand grenzende Revolte in den Vorstädten war erbarmungslos. Tausende Polizisten und Gendarmen gingen wie Kampfhunde auf die Demonstranten los, setzten alle möglichen Waffen ein und verletzten Hunderte von Menschen durch Schlagstöcke, LBD, Reizgas und Schockgranaten. Mehr als 3500 Personen wurden innerhalb weniger Tage festgenommen und von Sondergerichten im Schnellverfahren abgeurteilt, die die von der Regierung gewünschte Doktrin der harten Urteile anwandten. Hunderte von Gefängnisstrafen für Jugendliche und junge Erwachsene. Darüber hinaus wird damit gedroht, dass die Eltern der verurteilten Minderjährigen für die Millionen Euro an zivil- und strafrechtlichen Schäden aufkommen müssen. Sehr harte Strafen, um ein Exempel zu statuieren, die Ausbreitung der Bewegung zu stoppen und die Revoltierenden zu warnen, es nicht noch einmal zu versuchen. Die Polizisten schlagen zu und verhaften, die Richter schicken in den Knast, ohne zu hinterfragen, warum Menschen das Risiko eingegangen sind, verprügelt, verstümmelt zu werden oder im Gefängnis zu landen.

Wie jedes Mal, wenn eine Revolte ausbricht, stellt sich die Frage nach den Gründen, den Motiven für die Aktionen und Gewalttaten. Aber wo findet man die Worte der „Randalierer“? Die der Gelbwesten standen auf der Rückseite der Weste, wurden in den sozialen Netzwerken niedergeschrieben, bei Demonstrationen unmittelbar gesprochen und an die Wände gesprüht. Die Worte der Aufständischen in den Vorstädten scheinen noch seltener und schwerer zu hören zu sein, da sie grundsätzlich über freundschaftliche, nachbarschaftliche und kameradschaftliche Netzwerke laufen, über die kurzlebigen Apps der Smartphones, geschrieben und gesungen von Rappern. Was die Aussagen der Angeklagten vor Gericht betrifft (die von den Mainstream-Medien zur Erstellung eines „Profils der Aufrührer“ herangezogen werden), so weiß jeder gewissenhafte Analyst genau, dass diese Rede nicht frei ist, sondern im Gegenteil.

Wo findet man also das Wort der Aufständischen? Eine gute Quelle sind die Aktionen, die anvisierten Ziele. Denn die Aktionen der „Randalierer“ sind allesamt Worte, die von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verfasst wurden, die es nicht gewohnt sind, gelehrte Texte, Petitionen oder Beschwerdeschriften zu verfassen. Dennoch sind es klare Worte, wenn man sich die Mühe machen will, sie zu lesen.

Die Angriffe auf die Polizei, die Polizeistationen, die Präfekturen, die Gerichte und die Gefängnisse sprechen eine deutliche Sprache. Muss man an die täglichen Schikanen von Polizisten erinnern, die in den Arbeitervierteln patrouillieren, an das „Delikt des Gesichtes“, die Schikanen, Demütigungen, Schläge und Beleidigungen, denen schwarze und arabische Jugendliche systematisch zum Opfer fallen? Unter dem Vorwand, den Drogenhandel und die Kriminalität zu bekämpfen, verhalten sich die in den Arbeitervierteln tätigen Polizisten seit Jahrzehnten nicht als Friedenshüter, die sie eigentlich sein sollten, sondern als Schürer des Hasses. Eine Haltung, ein Geist, der in der Mitteilung vom 30. Juni 2023 der UNSA Police (die übrigens regelmäßig den Ordnungsdienst bei Gewerkschaftsdemonstrationen stellt), Hand in Hand mit der Alliance Police Nationale, den Fascho-Bullen, gut zum Ausdruck kommt, in der dazu aufgerufen wird, „den Krieg gegen die Schädlinge zu führen“.

Auch die Angriffe auf die Rathäuser sprechen eine deutliche Sprache. Die Bewohner der Arbeiterviertel haben es nicht mit dem Elysée-Palast, nicht mit Matignon (Sitz des PM, d.Ü.) zu tun. Für sie ist das Rathaus die Macht, dort werden ihre Wohnungsanträge, ihre Anträge auf Arbeit, Ausweispapiere und Soforthilfe bearbeitet und manchmal, oftmals sogar, abgelehnt. Wie sollte man den aufgestauten Hass der Bewohner der Schlafstädte von Hay-les-Roses, einer schicken und teuren Gemeinde im Département 92, gegen die Stadtverwaltung und ihren Bürgermeister nicht verstehen, der nur darauf aus ist, die gutbürgerlichen Eigenheimbesitzer zu bedienen, und sich einen Dreck um die Wohnbedingungen und den Alltag der Bewohner der Großwohnsiedlungen schert?

Die Geografie der „Unruhen“ lässt keinen Zweifel. Es handelt sich um einen Angriff von Bewohnern der Arbeiterviertel, der Siedlungen, der Hochhäuser und der Wohnriegel, wo man auf dem freien Gelände unterhalb des Gebäudes grillen muss, auf die wohlhabenden Innenstädte und die privilegierten Wohnviertel, die von gutbürgerlichen oder kleinbürgerlichen Erben bewohnt werden, die es sich gut gehen lassen. Von L’Hay-les-Roses bis Montargis, von Vernon (Eure) bis Saint-Florentin (Yonne) stürmten die Ausgegrenzten, die Verlassenen, die Verachteten, die rassistisch Sigmatisierten, die Peripherisierten gegen die Stadtzentren, gegen die Einkaufszentren, gegen alle Zentren und Symbole der wirtschaftlichen, politischen und symbolischen Macht. Eine räumliche, architektonische, soziologische und ethnische Kluft.

Auch die Angriffe auf Banken und Versicherungen sind von eklatanter Offensichtlichkeit. Wie oft wurde Bewohnern von Arbeitervierteln, vor allem Jugendlichen, ein Kleinkredit verweigert, das Konto geschlossen oder ihnen sogar die Eröffnung eines Kontos verwehrt? Wie könnte man den Groll der Armen, der Prekären, der Bürgenlosen gegen die Herren des Geldes nicht verstehen?

Nun musste zwar die gesamte politische Klasse, angefangen bei Macron und seiner Regierung, den Mord an Nahel verurteilen (angesichts der offensichtlichen Fakten …), und die Linksparteien äußerten Verständnis für die Wut der „Vorstadtjugendlichen“ über die Polizeigewalt, aber niemand wagte es, die „Plünderer“ zu verteidigen. Im Gegenteil, die Verwüstung und Plünderung von Geschäften diente allen Reaktionären, von den Faschisten über die KPF (Kommunistische Partei), die Rechte, die Mitte bis hin zu all den moralisierenden Gutmenschen, dazu, die Schuld umzukehren und eine große Kelle gegen die „Wilden“, die „Kriminellen“, die „schlecht Erzogenen“, kurz „das Gesindel“, auszuteilen.

Zwar scheinen die Verwüstungen und Plünderungen von Geschäften aus politischer Sicht weniger verständlich, ja sogar unverständlich zu sein. Die etablierten Analysten und die Leitartikler der klügsten Medien können allenfalls die Diebstähle in Supermärkten verstehen, wenn man die strukturelle Armut der Bewohner der Siedlungen, die galoppierende Inflation und die explosionsartige Zunahme von Lebensmitteltafeln und Armenküchen zur Unterstützung der Bedürftigsten, die sich nicht angemessen ernähren können, bedenkt. Was nicht durchgeht und von keinem Kommentator gerechtfertigt wird, ist die Plünderung von Modegeschäften, Telefon- und Computerläden, Tabakläden und natürlich Waffenläden.

Erinnern wir uns: Im Ancien Régime waren Adel und Bürger empört über die Croquants, die aufständischen versklavten Bauern, die sich nicht nur gegen ihre Herren auflehnten und es wagten, ihre Schlösser oder Abteien anzugreifen, sondern sich auch in ihren Kellern wälzten, um ihren Wein zu stibitzen. Warum also sollte man sich wundern, dass die mittellosen Armen von heute nicht nur Lebensmittel stehlen, sondern auch ein Auge auf Kleidung, Mobiltelefone, Tablets, Zigarettenstangen und Rubbellose geworfen haben? Jede Zeit bringt ihre Wünsche und Begierden hervor, ob es den Spießern nun gefällt oder nicht, die sich daran stören, dass ein schwarzer oder arabischer Jugendlicher am Steuer eines Mercedes sitzt, der in ihren Augen zwangsläufig ein Drogendealer oder Dieb ist. Natürlich wurden die Zigarettenstangen, die aus den Tabakläden gestohlen wurden, weiterverkauft, aber man muss sich auch vorstellen, wie glücklich sich ein Teenager fühlt, wenn er eine Schachtel Zigaretten in der Tasche hat, anstatt sich mühsam drei Groschen zusammenkratzen zu müssen, um sich im Laden an der Ecke einzelne Zigaretten zu kaufen.

Die Regierung, aber auch sogenannte linke Politiker, spielen die Brände von Sekundarschulen und Mediatheken hoch, um die Bewegung zu kriminalisieren und gegen „nihilistische Schläger“ vorgehen zu können. Wenn man jedoch ein veröffentlichtes Wort von den Urhebern dieser Brände hätte, könnte man vielleicht die Gründe für diese Wut hören. Zum Beispiel erfahren, dass sie im Laufe ihrer Schulzeit gemobbt und gedemütigt wurden und sich von dieser republikanischen Schule ausgeschlossen fühlten, deren Vorzüge der Integration als Bürger und der Chancengleichheit sie preisen sollten. Und sie haben sich ganz einfach, fast instinktiv, gerächt. Das mag Menschen schockieren, die sich für rechtschaffen und zivilisiert halten und sogar den Zurückgelassenen wohlwollend gegenüberstehen. Aber wenn Unterdrückung, Elend, schreiende Ungleichheit, Rassismus, Klassismus und jede Art von Verachtung für andere durch einen friedlichen Dialog, ruhig diskutierte Argumente, Frieden und Gerechtigkeit bekämpft werden könnten, hätte sich das schon lange herumgesprochen.

Im Original erschienen am 11. Juli 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

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Donnerschläge und blitzende Wut. Aktuelle Anmerkungen aus Frankreich

Simone Le Marteau

I. Der Apparat. Seit den 1990er Jahren sind eine Reihe sozialer Veränderungen, die sich in der vorangegangenen Periode langsam anbahnten, voll zum Tragen gekommen, Veränderungen, die den Beginn einer neuen Ära markieren, die weitaus beunruhigender ist als die vorangegangene. Der Übergang von einer Produktions- zu einer Dienstleistungswirtschaft, die Dominanz des Finanzwesens über den Staat, die Deregulierung der Märkte (einschließlich des Arbeitsmarktes), das Vordringen neuer Technologien und die damit einhergehende Künstlichkeit des Lebensumfeldes, das Aufkommen monolithischer Medien, die vollständige Kommerzialisierung und Privatisierung des Lebens und das Aufkommen totalitärer Formen der sozialen Kontrolle sind Realitäten, die unter dem Druck neuer Notwendigkeiten entstanden sind, die von einer Welt auferlegt wurden, in der die wirtschaftlichen Bedingungen der Globalisierung herrschen. Diese Bedingungen lassen sich auf drei Aspekte reduzieren: technische Effizienz, beschleunigte Mobilität und die ewige Gegenwart“ (Miguel Amorós). Um ehrlich zu sein, war dieser Prozess in Frankreich schon immer von Protestbewegungen und Kämpfen, Unruhen und städtischer Gewalt begleitet.

Außerdem sind heute, im Kontext von Krieg, Klimakrise,Inflation und der Umstrukturierung des Kapitals, die verhängnisvollen Ergebnisse der neoliberalen Politik für alle sichtbar. Die Einwanderer, die Ausgegrenzten, die Marginalisierten, die Armen sind und bleiben für diesen technisch-wissenschaftlich-militärischen Apparat nur „Abfallmaterial“; so wie die Umweltfrage zu einer technischen Frage wird, wird die soziale Frage zu einer reinen Strafrechtsfrage. In Frankreich sind die sozialdemokratische Implantation, die „Entwicklung der digitalen Wirtschaft“, das „hyper-innovative Frankreich“, die „Start-up-Nation“, mit Raubzügen, “Vandalismus” und einem molekularen Bürgerkrieg untrennbar verbunden.

II. Widersprüche. Nachdem die Phase des Wohlfahrtsstaates, des Dialogs und der sozialen Vermittlung, des Reformismus und der „freundlichen“, den Benachteiligten und Ausgegrenzten nahestehenden Administration Vergangenheit ist, nachdem die Rolle des Sanierers und des Soziologen, das „Prestige“ des Vermittlers und des Mullahs erschöpft ist, bleibt nur noch die soziokulturelle Atomisierung. Während also auf der einen Seite die „intelligente Stadt“ mit ihren Sensoren und Glasfasern, ihren Kameras und Gesichtserkennungsgeräten immer mehr Gestalt annimmt, haben wir auf der anderen Seite den Nutzer mit seinem iPhone, der jedoch seiner sprachlichen Mittel beraubt, verarmt und verblödet ist. Wir haben es mit einer tödlichen und explosiven Mischung zu tun, deren Komponenten sich aus Neokolonialismus und Fassadenökologismus, Integrationspolitik und staatlichem Rassismus, Telearbeit und neuen Formen der Ausbeutung, glänzenden neuen Waren und Ausgrenzung, produktivistischer Ideologie und prekären Gesundheitsarbeitern, ökologischem Übergang und dem Verbot ökologischer Bewegungen zusammensetzen (siehe die letzte Woche verbotene Gruppe Les Soulèvements de la Terre).

Die Einsicht der „prometheischen Scham“ (Günther Anders), wonach „unsere eigene Metamorphose hinterherhinkt; unsere Seele ist weit hinter dem Punkt zurückgeblieben, an dem die Metamorphose unserer Produkte, d.h. unserer Welt, angekommen ist“, ist heute offenkundig. Fluktuation, Flexibilität, Fehlen stabiler Beziehungen, allgemeine Vereinzelung, „stumme“ und irrationale Gewalt, Stress, Raserei, Unzufriedenheit und Psychopharmaka: das ist das Wesen des städtischen Umfelds in der heutigen Gesellschaft; ob man nun in den Vororten oder im Zentrum, in einer Metropole oder in einer kleinen Gemeinde lebt, das ist der modus vivendi des Neo-Bürgers. Bereits 1967 betonte Guy Debord in ‘Die Gesellschaft des Spektakels’, dass „der gegenwärtige Moment bereits der der Selbstzerstörung des städtischen Zentrums ist. […] die Momente der unvollendeten Reorganisation des städtischen Gefüges sind auf prekäre Weise um die ‚Fabriken der Verteilung‘ polarisiert, die die riesigen Supermärkte sind, die auf nacktem Boden, auf einem Sockel von Parkplätzen gebaut sind; und diese Tempel des schnellen Konsums sind selbst in der zentrifugalen Bewegung auf der Flucht, die sie wegstößt, da sie selbst zu überladenen sekundären Zentren werden, da sie eine teilweise Zusammensetzung der Agglomeration bewirkt haben. Aber die technische Organisation des Konsums steht nur an der Spitze der allgemeinen Auflösung, die die Stadt dazu gebracht hat, sich selbst zu verzehren“.

III. Die Revolte. Seit der Hinrichtung des jungen Nahel in Nanterre, eines 17-jährigen jungen Mannes, der in seinem Auto von zwei Polizisten angehalten und getötet wurde, kam es in fast allen Städten Frankreichs zu unzähligen Ausschreitungen. Viele ähnliche Fälle der letzten Jahre haben die sogenannte „öffentliche Meinung“ aufgewühlt. Seit 2017 sieht das Gesetz des ‘Code de la sécurité intérieure’ in der Tat vor, dass Polizei und Gendarmerie ihre Waffen im Falle einer „absoluten Notwendigkeit und in streng verhältnismäßiger Weise im Falle einer Verweigerung“ einsetzen können. In diesem Fall bestand das Problem darin, dass die Polizisten aus Nanterre zunächst behaupteten, es handele sich um einen „absoluten Notfall“. Kurz darauf kursierte jedoch ein Video, auf dem zu sehen war, wie der Polizist, der am Rande des Fensters stand und somit nicht wirklich in Gefahr war, absichtlich das Feuer auf den jungen Mann eröffnete und ihn tötete. Sofort rief die Mutter über die sozialen Medien zu einer „weißen Marsch“ auf und plädierte für eine Revolte. Diese Demonstration, an der mehr als 6.000 Menschen teilnahmen, endete in Zusammenstößen, die sich in den folgenden Stunden auf das gesamte Hexagon ausweiteten. Macron berief sofort mehrere interministerielle Krisenstäbe ein, um die Ordnung wiederherzustellen. Für den Fall, dass das Feuer der Revolte nicht erlöschen würde, sollte der Ausnahmezustand ausgerufen werden.

Das Ergebnis: die Verschärfung der Zusammenstöße in Intensität und Ausmaß allerorts. Der Rest ist eine Chronik des Aufruhrs… Viele Lagerhäuser werden gestürmt und Einkaufszentren geplündert. Polizeistationen wurden in Brand gesetzt. In L’Haÿ-les Rose wird die Residenz des Bürgermeisters mit einem brennenden Auto angegriffen. Gaskanister werden an Straßenkreuzungen als Flammenwerfer eingesetzt, Stadtmobiliar wird völlig verwüstet und Kameramasten werden mit Hilfe elektrischer Winkelschleifer abgerissen. Mit Kalaschnikows und Schrotflinten bewaffnete Personen in Marseille und in Limas. Einige wenige Polizisten scheinen ins Visier genommen worden zu sein, die sich allerdings mit kugelsicheren Westen retten konnten. “C’est une guérilla urbaine“: In Marseille ruft der Präsident der Arbeitgebervereinigung zu einer Ausgangssperre ab 20 Uhr auf. Außerdem: Autos werden als Rammböcke benutzt, um die Rollläden von Einkaufszentren zu öffnen. Paris, Lyon, Marseille und viele andere Städte…. immer wieder die Heimtücke kleiner, mobiler, schneller und gut organisierter Rebellengruppen, wie Fachleute betonen. Carl Schmitt, der die Figur des „Partisanen“ historisch analysierte, argumentierte, dass „er [der Partisan] sogar eine technokratische Raserei provoziert. Das Paradoxe seiner Anwesenheit offenbart einen Kontrast: die technisch-industrielle Perfektion der Ausrüstung einer modernen regulären Armee gegenüber der vorindustriellen, agrarischen Primitivität der Partisanen, die ebenfalls effektiv kämpfen. Ein Kontrast, der schon Napoleons Wutanfälle gegen den spanischen Guerillero hervorgerufen hatte und der sich mit der fortschreitenden Entwicklung der Technologie noch verstärken sollte“.

Im gleichen Tenor wundern sich die Medien über den Grad der Offensivität der Krawalle und sprechen von einer „Spirale nie dagewesener Gewalt“, die vielleicht noch ausgeprägter sei als bei den Krawallen 2005. Ein nationaler Delegierter der CRS (Syndicat Alliance) murmelt dem Journalisten zu: „Die Strategie besteht darin, mit einer sehr großen Truppe präsent zu sein, auch wenn es kompliziert ist, denn wir haben die Zahlen stark reduziert, vor allem bei der CRS. Aber das Ziel ist, das Feld so weit wie möglich zu besetzen“.

IV. Ordnung. An der Front der Kontrolle und Repression: Seit vier Nächten finden in ganz Frankreich Massenverhaftungen statt, um die Welle der Wut gegen die Polizeigewalt zu stoppen. Nach Angaben des Innenministeriums gab es in der zweiten Nacht von Mittwoch auf Donnerstag 150 Verhaftungen. In der dritten Nacht von Donnerstag auf Freitag: 875 Verhaftungen. In der vierten Nacht von Freitag auf Samstag: 1311 Verhaftungen. In der fünften Nacht, von Samstag auf Sonntag, wurden 719 Personen verhaftet. Insgesamt wurden also 3055 Personen in Zellen gesteckt, manchmal gewaltsam, oft willkürlich, weil sie sich in einem Viertel aufhielten, in dem die Polizei eingriff, oder in der Nähe eines eingeschlagenen Fensters. Gleichzeitig identifiziert die Polizei Personen anhand von Videos, die auf Snapchat gepostet werden. 45.000 Polizisten und Gendarmen sind auf den Straßen im Einsatz; die RAID („Suche, Unterstützung, Intervention, Abschreckung“), diese Anfang der 1980er Jahre gegründete Eliteeinheit, die „prestigeträchtigste der nationalen Polizei“, ist auch für die Verhaftung einiger Aktivisten der Action Direct verantwortlich. Maskierte „Anti-Terror“-Agenten und Flash Balls. Die überflüssigen Bilder der RAID mit ihren gepanzerten Fahrzeugen auf den Straßen von Marseille oder in der Region Paris, die 48 Stunden lang live im Fernsehen übertragen wurden, könnten wie die Bilder einer Stadt aussehen, die in die Hände einer südamerikanischen Militärdiktatur gefallen ist.

Macron kündigte in Bezug auf Snapchat und TikTok, die für ‚gewalttätige Versammlungen‘ verantwortlich gemacht werden, an: ‚Wir werden in den kommenden Stunden mehrere Maßnahmen ergreifen […], zunächst in Bezug auf diese Plattformen, um die Entfernung der sensibelsten Inhalte zu organisieren. Auf jeden Fall werden alle Videos, die die Proteste betreffen, überwacht und die betreffenden Konten werden gesperrt.” Es hat den Anschein, dass die Leiter von Meta, Snapchat, Twitter und TikTok bereits von der französischen Regierung vorgeladen worden sind. Die Macht plant sogar, das Internet in bestimmten Gebieten komplett abzuschalten. Am Freitag fragte sie bei den Telekommunikationsbetreibern Orange, Bouygues, SFR und Free an, ob es für sie „technisch möglich“ sei, mobile Daten, 4G und 5G, in bestimmten Bezirken Frankreichs abzuschalten. Diese Unternehmen antworteten, dass dies „in der Nacht zum Freitag technisch nicht machbar“, aber „danach machbar“ sei. Sie äußerten jedoch einige Vorbehalte, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung der Polizeikommunikation, die ebenfalls von diesen lokal begrenzten Unterbrechungen betroffen wäre, und forderten einen rechtlichen Rahmen für solche Netzausfälle, der auch Notrufe in den betroffenen Vierteln verhindern würde.

Auf Seiten der PCF rief der nationale Sekretär Fabien Roussel an diesem Samstag zum „sozialen Ausnahmezustand“ auf und schlug vor, die sozialen Aktivitäten zu „reduzieren“, „wenn es im Land heiß hergeht“ (siehe „Contre Attaque Nantes“). Vielleicht mehr als je zuvor spielten technologische Hilfsmittel und soziale Netzwerke eine wichtige Rolle bei der Kommunikation und der Koordinierung von Aktionen, aber es ist klar, dass diese Hilfsmittel verschiedene Nachteile haben (zum Beispiel die Möglichkeit der allgemeinen Kontrolle). Elisabeth Borne kündigte dann am Freitag, den 30. Juni, den Einsatz gepanzerter Gendarmeriefahrzeuge an, darunter vierzehn gepanzerte Radfahrzeuge (VBRG) und des ‘Centaures’, der offizielle Nachfolger des 1974 in Dienst gestellten gepanzerten Radfahrzeugs der Gendarmerie, der zum ersten Mal in den Einsatzgebieten der Île-de-France und ihrer Umgebung eingesetzt wird. Es handelt sich um ein beeindruckendes gepanzertes 4×4-Fahrzeug mit einem Gewicht von 14,5 Tonnen (zwei Tonnen mehr als der VBRG), das von dem auf Verteidigung und Sicherheit spezialisierten Unternehmen Soframe hergestellt wird. „Er ist 6,2 Meter lang, 2,45 Meter breit und 2,5 Meter hoch. Im Gegensatz zu seinem Vorgängermodell verfügt er über gleichmäßige Schub- und Räumfähigkeiten dank der auf Pneumatikzylindern montierten Schaufeln, die an der Vorderseite des Fahrzeugs angebracht sind. Schließlich verfügen diese Fahrzeuge über moderne optronische Ausrüstungen und ferngesteuerte Fähigkeiten zum Abfeuern und Werfen von Granaten“, heißt es auf der Website des Innenministeriums.

V. Gedächtnisstütze. In der französischen Gegeninformationszeitschrift „Clash“ vom Sommer 1982 las ich: „Die imperialistische Bourgeoisie braucht die Zustimmung der Massen, um die Macht zu haben, ihre Herrschaft über die von ihr ausgeplünderten Völker zu erhalten. Keine imperialistische Bourgeoisie ohne Konsens in der Metropole, kein Konsens ohne Demokratie: Demokratie ist die normale Funktionsweise der imperialistischen Metropole. Sie ist die Garantie und Bestätigung für die Systemtreue der ‘breiten Massen’. Aber diese Demokratie ist nur möglich, wenn es einen Konsens gibt, wenn alle Parteien die Spielregeln respektieren. Die wichtigste dieser Regeln ist die Vereinbarung über den Imperialismus, und alle großen Parteien haben ihre Zustimmung gegeben. Ist es nicht bezeichnend, dass die erste einstimmige Zustimmung in der Abgeordnetenkammer seit dem Ende des Krieges diejenige war, die der Regierung von Guy Mollet die volle Befugnis gab, die Ordnung in Algerien wiederherzustellen und 1956 die Truppen in Massen zu schicken?“

Nun wäre es dringend notwendig, die soeben erwähnte Argumentation im Hinblick auf die neuen französischen Militärmissionen im Ausland und die Eröffnung der neuen Heimatfront zu aktualisieren, ebenso wie es interessant wäre, die extraktivistische Politik mit der Kontrolle der „internen Kolonien“ zu verknüpfen, nicht zuletzt, weil, wie Jean-Marc Rouillan uns erinnert, „in einem zu Ungleichgewichten verurteilten System, in jedem kapitalistischen Land, das in immer mehr externe und interne Konflikte hineingedrängt wird, es weder eine Befriedung noch einen Rückzug des Klassenkampfes geben kann. Auf den Trümmern des Fordismus, in die Enge getrieben durch die sinkenden Profitraten, hatte die Bourgeoisie keine andere Wahl, als ein neues Akkumulationsmodell durchzusetzen und die Errungenschaften der sozialen Kämpfe, wie die Aufgaben des Sozialstaates, zu demontieren. Diese Umwälzungen sind nie friedlich verlaufen, sondern haben zu heftigen Repressionen (militärisch-polizeilich und wirtschaftlich) geführt, auf die das Proletariat historisch mit aufständischen Widerstand geantwortet hat“.

VI. Eine nützliche Pille. An einem Morgen in diesem Winter betreten wir das französische Rathaus zu einer Fortbildung und sitzen vor dem Standbild einer Fassade des Rathauses von Bordeaux, das während der Proteste gegen die Rentenreform in Brand gesetzt wurde. Der Dozent (der uns schon in der ersten Stunde gewarnt hatte, dass das, was in diesem Raum gesagt wird, auch dort bleiben sollte), ein Mann mit intelligentem, eifrigem Charakter, argumentiert, dass die Institution, die den Staat am nächsten zum Bürger vertritt, nicht die Kommune, sondern die Präfektur ist (in der Tat ist die Figur des Präfekten, die 1800 mit Napoleon Bonaparte geboren wurde, der Vertreter des Staates in einem Departement und einer Region). Um die Figur des Präfekten in Frankreich zu verstehen, müsse man zunächst zwischen zwei für das französische Verwaltungsrecht typischen Begriffen unterscheiden: Dezentralisierung und Delegation: Ersterer entspreche der Zuerkennung einer gewissen Autonomie an ein Kollektiv, das sich durch gewählte Räte und unter staatlicher Kontrolle frei verwalte; letzterer sei durch das Eingreifen einer nicht zentralen staatlichen Behörde gekennzeichnet. Der Präfekt ist in diesem System also eine typische Form der Delegation des Staates: Er übernimmt die Rolle des Vertreters des Staates auf dem Gebiet des Departements, dessen Ernennungsverfahren in der Verfassung geregelt ist. 

So setzte der Dozent seinen Vortrag der politischen Bildung über die Rechte und Pflichten des Bürgers und der demokratischen Institutionen fort. Offensichtlich gibt es in seiner demagogischen Vorstellung, die leider immer noch von vielen hier in Frankreich geteilt wird, einen Teil des „guten Staates“, der dann auch „wir“ sein würde, der das Fundament der Republik respektieren und durchsetzen muss: Liberté, Égalité, Fraternité. Prinzipien, die immer gültig und ewig sind, die aber, so der Dozent, auf lange Sicht erreichbar sind (wie lange, boh?). Es bleibt jedoch die Frage, ob seine Ausführungen über die Verantwortung der Präfekturen ein eindeutiger Hinweis waren…

VII. Zur Sache. Die aktuellen Ereignisse des allgemeinen Ungehorsams signalisieren meiner Meinung nach einmal mehr die Unruhe, die Lebendigkeit (ein sozialer Körper, der angesichts der Ungerechtigkeit nicht mit der Wimper zuckt, ist krank) und die Solidarität der Bevölkerung auf französischem Boden. Verstrickt in eine kolonialisierte und kommodifizierte Vorstellungswelt (Raubzüge auf technologische Produkte und Designerkleidung), gefesselt von Apparaten und sozialer Dynamik (viele Menschen filmten sich selbst während der Zusammenstöße im Livestream), verzweifelt über ihre innere Leere (Fälle von Zerstörung öffentlicher Kindergärten, Stadtteilbibliotheken oder Sozialwohnungen, in denen sich Menschen aufhalten), ist das französische Jugendproletariat da, um uns laut und deutlich zu sagen, dass es nicht länger bereit ist, die Dosis der täglichen Gewalt von Missbrauch, Ausbeutung und Ungerechtigkeit zu schlucken. Wohl wissend, dass weder eine „gerechtere Reform“ – vielleicht die der Staatspolizei, die durch eine vorausschauende Polizei (P. K. Dick) ersetzt wird, die dank neuer Software und künstlicher Intelligenz in der Lage sein wird, Verbrechen vorherzusehen – noch ein Regierungswechsel ihre gedemütigte Lage ändern wird, haben die nunmehr Ausgegrenzten kein Vertrauen in dieses mafiöse und politische System.

Man will einfach sein verleugnetes Leben leben, und wenn das Maß voll ist, beginnt man, die universelle Sprache der Zerstörung zu sprechen. Dann rächt man sich für jeden Traum, der auf der Straße durch eine polizeiliche Exekution getötet wird. Schließlich sind die schönen Worte der totalitären Neo-Sprache – Resilienz, Nachhaltigkeit, Grün, partizipative Demokratie – für die meisten nur weitere Phrasen.. Wer weiß, ob die ‘Tecno-Ribelle’ (E. Jünger) des 21. Jahrhunderts nicht schon längst das Prinzip der Herrschenden verwirft, wonach „da die Welt in erster Linie als Rohstoff betrachtet wird, der Teil der Welt ‚Mensch‘ auch als solcher betrachtet werden muss“ (G. Anders).

In einem Zeitalter wie dem unseren, in dem die Denker nach mehr Rechten und Gesetzen und die Händler nach mehr Behörden und Gefängnissen verlangen, hallen der Donner und der Blitz, die vom französischen Territorium ausgehen, überall wider und dienen als Warnung für die Herrschenden sowie als auch als Weckruf für die Resignierten in Europa. Bei alledem bleibt zu verstehen, wo die revolutionäre Option liegt, was aus dem utopischen Horizont geworden ist, wie man sich konkret aus dieser Art der gesellschaftlichen Organisation befreien kann, um sich wirklich in einer menschlichen Gemeinschaft zu erkennen. Bislang bleibt die „Gemeinschaft, die sich frei durch gewählte Räte verwaltet“ – oder die der „Allmende“, wenn man so will – bestenfalls ein Leichnam in den Mündern von Sachverwaltern und schönen Seelen, schlimmstenfalls etwas Unverstandenes, Fremdes und Unterdrückendes. In der Zwischenzeit ist der französische Aufstand mit seinen Widersprüchen und Impulsen da, um uns daran zu erinnern, dass die Polizeigewalt von Nanterre die Norm der bürgerlichen Justiz ist und dass im Gegensatz dazu die Gerechtigkeit der ‘Von Unten’ weiterhin Gewalt genannt wird.

Simone Le Marteau,

Haute-Savoie, Anfang Juli 2023

Erschienen auf Italienisch auf Il Rovescio, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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Die Medien und die Lüge ohne Wahrheit

Giorgio Agamben

Es gibt verschiedene Arten von Lügen. Die häufigste Form ist die derjenigen, die, obwohl sie wissen oder zu wissen glauben, wie die Dinge sind, aus irgendeinem Grund wissentlich das Gegenteil sagen oder auf andere Weise auch nur teilweise leugnen, was sie als wahr erkennen. Dies geschieht beim Meineid, der aus diesem Grund als Verbrechen geahndet wird, aber auch unschuldiger, wenn wir uns für ein Verhalten rechtfertigen müssen, für das wir getadelt werden.

Die Lüge, mit der wir es seit fast drei Jahren zu tun haben, nimmt nicht diese Gestalt an. Es ist vielmehr die Lüge eines Menschen, der die Unterscheidung zwischen Worten und Dingen, zwischen Nachrichten und Fakten verloren hat und deshalb nicht mehr wissen kann, ob er lügt, weil für ihn jedes mögliche Kriterium der Wahrheit verschwunden ist. Was die Medien sagen, ist nicht wahr, weil es der Realität entspricht, sondern weil ihr Diskurs die Realität ersetzt hat. Die Korrespondenz zwischen Sprache und Welt, auf der die Wahrheit einst beruhte, ist einfach nicht mehr möglich, weil beide eins geworden sind, die Sprache ist die Welt, die Nachricht ist die Wirklichkeit. Nur so ist es zu erklären, dass die Lüge es nicht nötig hat, sich als Wahrheit auszugeben, und dass sie in keiner Weise verschleiert, was denjenigen, die sich noch an das alte Regelwerk der Wahrheit halten, als offensichtliche Unwahrheit erscheint.

So haben die Medien und die offiziellen Stellen während der Pandemie nie geleugnet, dass sich die von ihnen verkündeten Todeszahlen auf die positiv getesteten Verstorbenen bezogen, unabhängig von der tatsächlichen Todesursache. Obwohl diese Zahlen offensichtlich falsch waren, wurden sie als wahr akzeptiert. In ähnlicher Weise bestreitet heute niemand, dass Russland zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums erobert und annektiert hat, ohne das die ukrainische Wirtschaft nicht überleben kann; und doch sprechen die Nachrichten nur von Zelenskys Sieg und Putins unvermeidlicher Niederlage (in den Nachrichten ist es ein Krieg zwischen zwei Menschen, nicht zwischen zwei Armeen).

Die Frage ist nun, wie lange eine solche Lüge aufrechterhalten werden kann. Wahrscheinlich wird sie früher oder später einfach fallen gelassen, um sofort durch eine neue Lüge ersetzt zu werden, und so weiter, und so weiter – aber nicht unbegrenzt, denn die Realität, die man nicht mehr wahr haben wollte, wird sich irgendwann einstellen und ihre Berechtigung einfordern, wenn auch um den Preis von nicht unbeträchtlichen Katastrophen und Unglücken, die schwer, wenn nicht gar unmöglich zu vermeiden sein werden.

Erschienen im italienischen Original am 3. Juli 2023, übertragen ins Deutsche von Bonustracks. 

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Rache für M., der von den Bullen im CRA* Vincennes getötet wurde: Chronologie einer Mobilisierung und ihrer Unterdrückung

[*CRA, Les centres de rétention administrative (Zentren für administrative Abschiebungen)]

In den Tagen nach dem Tod von M., der am 26. Mai starb, nachdem er von Polizisten geschlagen worden war, beschlossen die Insassen des Abschiebegefängnisses Vincennes, kollektiv zu kämpfen (Hungerstreik, Zusammenstöße mit den Bullen, Klagen…). Die besonders intensive Repression hat jedoch im Laufe der Tage die Mobilisierung im Inneren untergraben. Draußen versuchten Personen, diese Kämpfe sichtbar zu machen und zu unterstützen.

Freitag, den 26. Mai

Ein im Centre de rétention administrative (CRA) in Vincennes festgehaltener Mann wurde am frühen Morgen von seinem Zellengenossen tot aufgefunden. Er war am Vortag und am Tag davor von der Polizei verprügelt worden.

„Seit einer Woche war er krank und bat darum, ins Krankenhaus gehen zu dürfen. Die Sanitäter weigerten sich und sagten ihm nur, er solle Doliprane (ein leichtes Schmerzmittel, d.Ü..) nehmen. Hier ist es so. Du wirst nie gut versorgt. Um einen Arzt zu sehen, musst du schreien und in den Hungerstreik treten“, erklärt ein Insasse.

„Die Bullen haben ihn geschlagen und getreten. Sie haben ihn in Einzelhaft gesteckt und da weißt du, wie es läuft. Es gibt keine Kameras und die Bullen schlagen dich, schlagen dich…“, fährt er fort.

Die Polizisten brachten ihn dann am Donnerstag wieder in seinen Raum zurück. „Am Abend hatte er Schwierigkeiten zu atmen. Er sagte mir, dass er sterben würde. Er hatte Schwierigkeiten zu essen, weil sie ihm die Zähne ausgeschlagen hatten. Ich bin für ihn zur Krankenstation gegangen, aber sie haben sich nicht bewegt, sie wollten nicht zu ihm kommen. Ich kannte ihn seit einem Monat, wir kamen gut miteinander aus“, berichtet ein anderer CRA-Insasse.

Die Feuerwehr, deren Zugang zum CRA regelmäßig von den Bullen verhindert wird, schaffte es nicht, ihn wiederzubeleben. Die Polizisten nahmen seine Sachen und sein Handy und begannen zu erzählen, dass er an einer Überdosis gestorben sei. „Sie werden alles tun, um es so aussehen zu lassen, als ob sie es nicht gewesen wären. Aber wir wissen, was passiert ist“, erklärte ein anderer Internierter.

Die Nachricht von diesem Tod verbreitete sich schnell im gesamten CRA. Nach denen in Gebäude 1 traten auch die Abschiebehäftlinge in den Gebäuden 2A und 2B sofort in den Hungerstreik. Am späten Nachmittag kam es zu Zusammenstößen zwischen den Abschiebehäftlingen aus 2B und der Polizei. Mehrere Personen wurden von den Bullen verletzt, vier wurden in Einzelhaft gebracht und zwei beschlossen, sich selbst zu verstümmeln.

Draußen zirkulierte ab dem Zeitpunkt, als der Tod von M. bekannt wurde, ein Termin in den Netzwerken. Eine erste Unterstützungsversammlung vor dem CRA (was als “ parloir sauvage“ bezeichnet wird) findet am Ende des Tages statt. Etwa 70 Personen schimpften gegen die CRA, die PAF (Grenzpolizei) und die Bullen und marschierten an den Gebäuden entlang, um den Eingeschlossenen Kraft zu verleihen. Auf der anderen Seite der Mauern und des Stacheldrahts wurde ebenfalls geschrien. Dann in der Nacht blühten Schriftzüge „Rache für M, getötet von den Bullen im CRA Vincennes“, „CRA Assassin“, „Vincennes – Plaisir, CRA in Flammen, Bullen mittendrin“ auf den Mauern neben der CRA.

Am Samstag, den 27. Mai

In allen Gebäuden setzt ein Teil der Internierten den Hungerstreik fort. Sie verneinen die Version der Bullen und haben gemeinsam beschlossen, dafür zu kämpfen, dass der Tod von M. nicht unter den Teppich gekehrt wird. Es kommt zu starken Repressionen, die Bullen üben Druck auf einige der Festgehaltenen aus und führen allgemeine Durchsuchungen in den Gebäuden durch.

Ein Text, der anhand von Zeugenaussagen der Internierten erzählt, was am Vorabend und am Tag vor M.s Tod passiert ist, wird zusammen mit einem Aufruf zu einer Demonstration am Sonntag veröffentlicht. In der Nacht wurden die Wände um die S-Bahn-Station Joinville-le-Pont, von der aus man in das CRA Vincennes gelangt, aber auch die Straßen, die zum CRA führen, mit Slogans zur Unterstützung der Festgehaltenen geschmückt.

Sonntag, den 28. Mai

Die Internierten versuchen, gleichzeitig mit der Unterstützungsdemo zu demonstrieren, die in Joinville-le-Pont festgesetzt wird. Die Bullen gehen mit Gaspatronen und Schlagstöcken dagegen vor. Die Festgehaltenen, die es wagen zu sagen, dass die Bullen für den Tod von M. verantwortlich sind, werden verprügelt. So rief uns ein Internierter an und berichtete, dass ein Team von Wächtern, nachdem sie ihn gewürgt und getreten hatten, ihm drohten, nachts in seinen Raum zu kommen, wenn er weiterhin so etwas sagen würde. Ein anderer, dem die Polizisten vorwarfen, „schlecht mit ihnen zu reden“, wurde den zweiten Tag in Folge in Einzelhaft verprügelt. Einige Abschiebungshäftlinge weigern sich immer noch zu essen.

Zum Zeitpunkt des Treffpunkts für die Demonstration sind die Bullen natürlich vor Ort. Ein Transparent wird entrollt und ein Teil der Anwesenden beschließt, nach vorne zu gehen. Sie werden schnell blockiert und bleiben über drei Stunden lang eingepfercht, bevor sie ohne Identitätskontrolle hinausgehen können. Währenddessen werden Anrufe in den Telefonkabinen des CRA getätigt und über ein Megaphon abgespielt: Die Internierten erzählen, wie M. gestorben ist. Die Festgehaltenen demonstrierten auch im Hof, bevor sie von den Polizisten mit Schlagstöcken und Gas niedergeschlagen wurden. Rund um den Kessel diskutieren Menschen, Kontakte werden geknüpft. Trotz einer großen Verbreitung über soziale Netzwerke hält sich der Zulauf in Grenzen: insgesamt weniger als hundert Personen.

Montag, 29. und Dienstag, 30. Mai

Einige Festgehaltene befinden sich noch im Hungerstreik, aber die Bewegung schwächt sich ab. Mehrere Abschiebungshäftlinge haben beschlossen, dass sie wegen der erlittenen Gewalt gegen die Polizei klagen werden. Sie haben sich gemeinsam dazu entschlossen, stoßen aber auf zahlreiche Hindernisse. Die Polizisten verwehren ihnen den Zugang zum Arzt, die Krankenstation ist nicht entgegenkommend und Assfam (NGO zur rechtlichen Unterstützung von Internierten in Abschiebegewahrsamen, d.Ü.) unterstützt sie nicht… Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr verblassen die Spuren der Schläge.

Die Polizisten sagen den Abschiebehäftlingen, dass sie Personen von außerhalb, die sie besuchen oder anrufen, um ihre Unterstützung zu bezeugen, nicht trauen sollen. Zu Beginn oder am Ende der Besuche versuchen sie herauszufinden, wer diese Personen sind.

Um den Pariser/innen, die auf dem Rückweg von einem dreitägigen Wochenende im Stau stecken geblieben sind, etwas zu lesen zu geben, hängt ein großes Transparent „Rache für M., der von den Bullen im CRA Vincennes getötet wurde – Solidarität mit den Revoltierenden“ an der Brücke über der Autobahn, die am CRA vorbeiführt. Am Abend werden Feuerwerkskörper abgebrannt, was im Inneren zu schönen Jubelschreien führt.

Mittwoch, 31. Mai und Donnerstag, 1. Juni

Die Polizei führt gezielte Zellendurchsuchungen durch. Viele der Festgehaltenen haben Angst, was es schwierig macht, ein Kräfteverhältnis aufzubauen. Diejenigen, deren Räume immer noch durchsucht werden, werden weiter isoliert und stehen somit noch mehr im Visier der Bullen. Dasselbe gilt für diejenigen, die weiterhin eine Anzeige erstatten wollen.

Einige Festgehaltene weigern sich weiterhin, in die Kantine zu gehen. Die Situation im Gewahrsam bleibt angespannt. Die Abschiebehäftlinge berichten uns, dass die Bullen in großer Zahl anwesend sind und ständig Pfefferspray dabei haben.

Während des wilden Besuchs am Mittwoch (siehe unten) wollten die Abschiebehäftlinge in den Hof gehen, um zu demonstrieren, wurden aber von den Bullen daran gehindert und niedergeschlagen. „Wir konnten nichts tun. Letztes Mal haben sie uns alle mit Gas besprüht, wenn wir geschrien haben. Aber diese Demonstrationen geben einem Kraft“. Dasselbe in Gebäude 2B: Die Bullen hindern sie daran, die Räumlichkeiten zu verlassen.

Es wird eine öffentliche Versammlung auf einem Platz im 20. Bezirk von Paris angekündigt, um eine breite Mobilisierung gegen die CRA zu starten und um M. nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Termin für die Versammlung hat sich so gut herumgesprochen, dass Polizisten in Zivil anwesend sind. Es wird beschlossen, an einen anderen Ort umzuziehen. Etwa 60 Personen bereiten dort das Programm für die nächsten Tage vor. Motiviert machen sich etwa zwanzig von ihnen auf den Weg zum “wilden Sprechzimmer.” Die kleine Gruppe schreit und klopft gegen die Gitter des CRA 1, um ihre Solidarität mit den Eingeschlossenen zu zeigen. Im Gebäude versuchen die Festgehaltenen, in den Hof zu gelangen, aber sie werden von den Polizisten zurückgedrängt. Auch draußen sind die Bullen schnell in Massen präsent (mehr als 10 Wannen kommen in wenigen Minuten): Auf dem Rückweg treiben sie die Freund*innen erst an und dann gewaltsam zurück zur S-Bahn, wobei sie Transparent und Megaphon konfiszieren.

Freitag, 2. Juni

Ein Vorgesetzter lädt einen Festgehaltenen, der eine Anzeige erstatten wollte, vor, um ihm zu sagen, dass er dies nicht tun sollte. Der besteht darauf, ein ärztliches Attest zu erhalten, um die erlittene Gewalt zu beweisen. Der Beamte macht ein Foto von seinen Verletzungen, um ihm zu zeigen, dass es einen Beweis geben wird. Ein weiterer Mythos.

Sonntag, 4. bis Dienstag, 6. Juni

Etwa zehn Tage nach dem Tod von M. hat die Repression die Aufstandsbewegung vorerst besiegt. Einige Internierte leisten weiterhin Widerstand, sie organisierten eine kleine Demo im Hof, sangen und riefen Slogans. Aber es ist ruhiger geworden, zumal die Polizisten weiterhin diejenigen schikanieren, die nicht locker gelassen haben und Anzeige erstatten wollen. Es wird alles getan, um die Solidarität zu brechen.

Ein neuer Text wird veröffentlicht und ins Arabische übersetzt. Er wird verteilt und an die Wände in Barbès geklebt, wo die Demonstration zu Ehren von Clément Méric am Sonntag, den 4. Juni, beginnt. Anschließend werden auf der gesamten Demonstrationsroute Plakate geklebt und Flugblätter verteilt. Am Ende des Flugblattes wird ein Termin für denselben Tag angegeben, um erneut einen “wilden Sprechtag” durchzuführen. Etwa 50 Personen treffen sich dort und machen sich auf den Weg zum CRA, um erneut ihre Solidarität mit den Festgehaltenen zu zeigen und ihre Wut über den Tod von M. herauszuschreien.

Die letzte Demo gegen die Rentenreform am Dienstag, den 6. Juni, bietet die Gelegenheit, erneut zu werben und den Termin für eine weitere öffentliche Versammlung bekannt zu geben. Ein Transparent hängt an den Gittern des Val de Grace und auf der gesamten Strecke sind zahlreiche Tags gegen die CRA zu lesen. Auch in Saint-Etienne werden Tags zur Unterstützung der Revolte von Vincennes gesichtet und einige Tage zuvor wurde ein Banner über einer Umgehungsstraße in Caen entrollt.

Mittwoch, 07. Juni

Die Polizei „untersucht“ den Tod von M. Vor einigen Tagen kamen Polizisten, um Fotos von der Zelle zu machen, die immer noch abgesperrt ist. Und am Mittwoch hörten Polizisten einige der Insassen an, die mit ihm die Zelle teilten. Sie stellten viele Fragen, wollten wissen, ob er Medikamente nahm, und schrieben alles auf ihren Computern auf. „Alle Leute, die seine Zelle teilten, wurden von den Ermittlern angehört und alle sagten das Gleiche: Vor seinem Tod haben die Bullen ihn getreten, am Vortag und am Tag davor.“

Die Sendung „carapatage“ berichtet unter anderem über den Tod von M. und die Situation in Vincennes (https://carapatage.noblogs.org/carapatage-52-de-vincennes-a-mayotte-comment-les-cra-enferment-expulsent-et-tuent-07-06-23/).

Donnerstag, 8. bis Samstag, 10. Juni

In den letzten Tagen fanden mehrere Durchsuchungen statt und die Bullen konfiszierten Mobiltelefone, die gerade aufgeladen wurden, um Druck auf die Abschiebehäftlinge auszuüben. Diejenigen, die protestieren, werden direkt in Einzelhaft gesteckt. Eine Person verbrachte dort mehr als vier Stunden und wurde von fünf oder sechs Bullen verprügelt. Sie verbieten ihm, zum Arzt zu gehen, obwohl er glaubt, eine gebrochene Rippe zu haben. „In der Krankenstation haben sie mir gesagt, dass ich nichts habe und dass man nichts machen kann, wenn die Rippe gebrochen ist. Aber ich habe Schmerzen beim Atmen“.

Zweite öffentliche Versammlung, etwa 40 Personen anwesend.

Sonntag, den 11. Juni

Der Alltag in der CRA, der von Schikanen der Polizisten, dem Hin und Her in die Einzelhaft, den Streitereien zwischen den Abschiebehäftlingen usw. geprägt ist, scheint nach und nach die Bewegung auszulöschen, die es anlässlich von M.s Tod gab. „Einige Personen wurden freigelassen, neue kamen hinzu, andere sehen ihre Familie zu Besuch, was sie beruhigt, andere wollen keine Streitereien mehr mit den Polizisten, also geht es nach einer Weile weiter“, erklärt ein Abschiebehäftling. Aber nicht alle resignieren. Vor einigen Tagen hat ein Mann versucht, aus dem Gebäude 1 zu fliehen: „Er hat sich in Bettlaken und Handtücher gewickelt und um 2 Uhr morgens ist er über den Hof gelaufen, über den ersten Zaun geklettert und hat es geschafft, den Stacheldraht zu überwinden. Aber dann stand er vor dem zweiten Gitter und da haben sich die Bullen auf ihn gestürzt“, berichtet ein Zurückgehaltener.

Wie so oft in Zeiten des intensiven Kampfes im Inneren verlieren wir nach und nach einige unserer engsten Kontakte und erfahren von anderen, dass einige von ihnen „ausgeflippt“ sind, sich mit Medikamenten vollpumpen und vom Trauma gelähmt sind.

Montag, 12. Juni 

Wir verlieren nicht den Rhythmus .

Eine kleine Gruppe von etwa zwanzig Personen kehrt zu den Mauern des CRA Vincennes zurück, um Slogans zu rufen und sich mit den Festgehaltenen hinter Gittern auszutauschen.

Mittwoch, 14. Juni 

Überraschungsbesuch in den Räumlichkeiten der Assfam im 9. Arrondissement von Paris, der im CRA Vincennes vertretenen Organisation, die bei der Bekanntgabe von M.s Tod kein Wort für ihn übrig hatte (außer, dass sie versucht hat, sich selbst zu verstecken…). Gewalt durch Polizei und Ärzte, ständige Schikanen, Rassismus… Die Assfam sieht nichts von all dem und prangert nie etwas an. Man muss dazu sagen, dass sie mehr als 5 Millionen Euro an Subventionen für ihre Präsenz in den CRAs erhält. Der Preis für ihre Komplizenschaft. Die Leute haben sie also mit Transparenten, Flugblättern, Plakaten und Slogans daran erinnert, dass sie Hand in Hand mit dem Staat arbeitet und an seiner Politik des Einsperrens mitwirkt (https://abaslescra.noblogs.org/au-centre-de-retention-administrative-cra-de-vincennes-la-police-tue-lassfam-ferme-les-yeux/).

Ohne den Kampf der Gefangenen im CRA Vincennes hätte niemand von diesem x-ten Todesfall in einem Ort der Gefangenschaft erfahren. Ihr Mut war immens, und mehrere Gefangene mussten teuer dafür bezahlen, dass sie es wagten, ihren Mund gegen die Polizeigewalt und gegen das gesamte System, das sie unterstützt (Präfekten, Hilfsorganisationen, Krankenstationen…), aufzureißen.

Wir haben unsererseits versucht, sie mit allen möglichen Mitteln zu unterstützen, um das Schweigen um M.s Tod zu brechen und weiterhin die ganze Scheiße, die täglich in den CRAs passiert, ans Licht zu bringen. Aber die Kämpfe, sowohl innerhalb als auch außerhalb, werden weitergehen: Nur so können wir den CRAs ein Ende setzen.

Die Kämpfe der Eingeschlossenen zu unterstützen ist auch eine Ameisenarbeit, die täglich geleistet wird, indem man Verbindungen nach innen herstellt und pflegt, indem man unsere Aktionen unter den Gefangenen bekannt macht, um ihnen vor allem in Momenten wie diesen Kraft zu geben. Wir erinnern daran, dass die Nummern der Telefonkabinen auf dem Blog zu finden sind, zögern Sie nicht anzurufen!

Wir sehen uns bald auf der Straße oder vor einem CRA für den nächsten “wilden Besuchsraum”.

Solidarität ist eine Waffe! Freiheit für alle, Feuer für die CRAs!

Übersetzt vom Blog À BAS LES CRA von Bonustracks.

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Rache für M., der von den Bullen im CRA* Vincennes getötet wurde: Chronologie einer Mobilisierung und ihrer Unterdrückung

VERRÜCKTHEITEN

Vom weißen Marsch zum allgemeinen Aufstand. Bericht über einen sehr langen Tag.

„Jeder hat seine eigene Bande, jeder hat seine eigene Mutter. Aber wenn du einen von uns anrührst, rufen wir unsere Banden zusammen, um dich in die Luft zu jagen“.

Jul, Temps d’avant

„Indem das Proletariat die Verneinung des Privateigentums fordert, erhebt es nur das zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft als Prinzip für sich aufgestellt hat.“

Karl Marx, Beitrag zur Kritik des Hegelschen politischen Rechts

Die Menschenmenge ist dicht gedrängt. Die Menschen drängen sich um den gemieteten Lastwagen, auf dem Nahels Mutter Mounia und ihre Angehörigen stehen. Drumherum besetzen Motorradfahrer die Bürgersteige und lassen die Motoren aufheulen. Es ist heiß. Wir erreichen den Palast der sogenannten Justiz. Die Architektur ändert sich. Die Atmosphäre ebenfalls. Die schattigen, von Häusern umgebenen Straßen weichen Milchglasblöcken, einem Kreisverkehr und einer riesigen französischen Flagge. Hier will sich die Republik sichtbar machen. Heute sieht es so aus, als würde sie sich selbst denunzieren. Gruppen überqueren die mit hohem Gras bewachsenen Randstreifen und huschen zwischen den Blüten der wilden Kräuter hindurch.

Plötzlich geht es am Place des Droits de l’Homme – wir haben „askip“ (slang: augenscheinlich d.Ü.) auf das Straßenschild geschrieben – drunter und drüber. Die Polizei wird an einer Ecke angegriffen, sie weicht zurück. Der vorherrschende Style ist: nackter Oberkörper, T-Shirt-Vermummung, Gürteltaschen. Wir befinden uns auf einer kleinen Anhöhe an einer Abzweigung der Peripherie. Die Polizisten halten den Platz, mehr aber auch nicht. Der Wind bläst das Tränengas in ihre Richtung zurück. Dann sagt jemand: „Wir machen alles platt“. Die Idee wird wörtlich genommen. 20 Minuten lang wird alles herausgerissen: Schilder, Bäume, Steine, Zäune. Innerhalb von Sekunden wird eine Baustelle in eine Barrikade verwandelt. Ein Typ öffnet eine Garage, holt einen blechernen Eimer raus und schlägt damit gegen die Fenster. Ein anderer hat eine Schaufel. Minutenlang machen sich die Leute an den Blechen der Autobahnauffahrt zu schaffen. Dann werden auf der Straße alle erreichbaren Fensterscheiben mit Tritten zertrümmert. Jemand sprüht mit einem Feuerlöscher um sich. Die Fronttür der Bank öffnet sich inmitten kleiner Rauchwolken. Die Akten fliegen im Wind, die Schaufenster stürzen weiter ein.

Schließlich rückt die Polizei vor und drängt uns nach oben. Wir rennen zwischen den Büschen und den zersplitternden Schaufenstern hindurch. Flashballs. Ein Auto auf dem Dach liegend steht in Flammen, ein umgekippter Porsche Cayenne wird zur Barrikade. In dem Durcheinander kreisen Motorroller und Motorräder wie panische Wespen umher. Wir bitten Einheimische um ein schnelles geografisches Update: Wohin sollen wir fliehen? Sie sagen uns, in diese Richtung, zum Park und dann nach Picasso, dem Treffpunkt des heutigen Marsches.


Wir werden von einer Ladung Bastarde bis zum Park zurückgedrängt. Die Familie fährt mit dem Lastwagen um den ganzen Stadtteil herum, die Jugendlichen halten den Park wie eine ZAD. Jemand sagt: „Das ist Athena 2“. Ein Mann auf dem Rücksitz einer Motocross-Maschine warnt die Menge von einem kleinen Hügel aus. Die Polizei versucht, den Eingang zum Park zu erobern, ein langer Kampf um den Eingang zum Park. Tränengas, Granaten. Kleine Kinder verstecken sich in den Hainen. Wir stehen auf einer der Anhöhen, die den Eingang dominieren. Von dort aus sagen die Großen: „Vermummt eure Gesichter“. Zwei Hubschrauber kreisen am Himmel. Letzte Ladung für den Parkeingang. Die ersten Reihen springen über die Zäune und über die Büsche. Schöne Flugfiguren, um den Polizisten zu entkommen. Diejenigen, die sich unter den Bäumen verstecken, lachen. Dahinter kauern Vermummte im Gras. Bagger werden angezündet.

Gruppen, die im Unterholz auf der Lauer liegen. Man greift nach allem, was sich herausreißen und werfen lässt. Es ist ein Tornado von Materialien, der auf die CRS niedergeht: Holz, Steine, Feuer, Raketen. Ein Gerücht macht die Runde: Die BRI ist soeben in Nanterre eingetroffen. Eine Karussellbude wird aufgebrochen, alle stürmen hinein. Jemand betätigt das Ding, das die Spielzeuge zum Drehen bringt. Im Inneren bricht Jubel aus. Dutzende von Aufständischen springen auf und schreien wie verrückt, während sie das kleine rosa Pony in die Y-Position bugsieren. Dann sagt ein Typ: „Alle raus, wir zünden es an“, alle hören auf ihn, Ende der Pause. Der Pavillon mit den roten Planen brennt auf einmal, riesiger schwarzer Rauch.

Verfolgungsjagd durch die Hügel, auf dem Weg brennen die hölzernen Masten der Niederspannungs-Freileitungen. Wir werden bis zum Eingang von Picasso zurückgedrängt. Gebäude, die wie Fabrikschornsteine aussehen. Riesige zylindrische Türme in Pastellfarben mit Fenstern, die wie Bullaugen aussehen. Der Architekt, der diesen Komplex entworfen hat, ist ein kranker Mann. Der Abgeordnete, der beschlossen hat, ihn Picasso zu nennen, ist ein Zyniker. Aus der Siedlung werden uns Geschosse in Einkaufswagen gebracht. Einer davon ist mit Feuerlöschern gefüllt. Eine Spur mit kleinen Klumpen aus weißem, gelbem und grauem Rauch, die schließlich eine Wolke bilden. Ohne einen Laut beginnen die Menschen dahinter zu rennen, es regnet Steine, die geblendete und mit Steinen beworfene Polizei wird weiter zurückgedrängt.

„Wartet bis heute Abend, Jungs“. Eine kontrollierte Ruhe stellt sich ein. „Warte auf die Nacht, warte“. Wir gehen durch Picasso. Hinter den höchsten Türmen des Viertels befinden sich riesige, bedrohlich wirkende Glaswürfel: La Défense. „Warum greifen wir La Défense nicht an?“ Ende der Peripherie, Treppen, röhrenförmige Fußgängerbrücken, Firmentürme. Auf der Suche nach der RER durchqueren wir das Labyrinth, überwinden die unsichtbaren und städtebaulichen Grenzen, die das Finanzzentrum von Nahels Siedlung trennen. Wir verschmelzen mit einer anderen – gleichgültigen und geschäftstüchtigen – Menschenmenge. Wir kehren nach Paris zurück, Richtung Nachbarschaft.

***

Die Nacht bricht über den Nordosten von Paris herein. Wir sitzen in unserem Mietshaus – mit der Idee, vielleicht in einen nahegelegenen Vorort zu ziehen. Doch ein Feuer entfacht plötzlich die benachbarte Straße. Wir treffen uns an der Kreuzung, die wir alle so gut kennen. Jemand stellt geschickt Mülltonnen auf und zündet sie an. Dann zerschlägt er methodisch Glas auf der Straße. Die Kreuzung führt in die Straße x, die in die Siedlung x führt. Auf der gesamten Länge der Straße werden Feuer angezündet. Entzücken darüber, wie unsere Straßen in Flammen aufgehen. Mehrere Mülltonnenfeuer stromaufwärts und stromabwärts schützen den Zugang zu x. Einige Feuerwerksraketen werden von einem vermummten jungen Mann in die Luft geschossen. Es ist 23:00 Uhr, ein Schrei: „Es geht los, los, wir hauen rein“.

Ein älterer Mann, der die Arme vor der Brust verschränkt hat, stimmt dem Geschehen ohne Zweifel zu. Ein Mann im Anzug steigt aus seinem Mini und möchte durchfahren. Der Brandstifter sagt zu ihm: „Tut mir leid, aber da können wir Sie nicht durchlassen. Es tut mir wirklich leid, mein Herr, da müssen Sie wohl drum herum fahren“. Der andere ist hartnäckig: „Du wirst mein Auto nicht anzünden, wie alt bist du?“ Wir nähern uns sicherheitshalber dem Disput, „22 Jahre“. Wir sagen ihm, er solle sich verziehen und uns in Ruhe lassen, „Ciao, du Bevormunder“, sagt einer von uns. „Danke, Bruder, für die Sache bist du ein guter Mann“. Der alte Mann sagte: „Hey, der mit der Krawatte, für wen hält der sich?“. Am Eingang der Siedlung halten sich die Leute bereit. Eine Gruppe wirft den anderen zu: „Ihr wollt Krieg führen, also macht das auch, Jaap!“. Einige sehr junge Leute fahren zu zweit auf einem Scooter vorbei: „Na, Ihr Flocken?“. Mit Mörsern in der Hand warten sie auf die Polizei. Wir beschließen, in ihrer Nähe zu bleiben. Sie sehen ziemlich sexy aus und einer von uns kennt sie gut.

Ein Polizeiwagen kommt von der linken Seite und durchbricht die brennenden Barrikaden in einem Zug bis zum Zugang der Siedlung, wobei er auf die dort stehenden Menschen draufhält. Von rechts kommen ein paar Einheiten. Es sind nicht viele, sie sehen aus, als kämen sie gerade aus dem Büro und würden zum ersten Mal einen Helm aufsetzen. Es mangelt an Truppen. Die Siedlung wird belagert, aber sehr schnell zieht die Polizei unter Hurra-Rufen und Mörserbeschuss ab. Gerüchte machen die Runde: Alle Siedlungen in Frankreich organisieren sich, sie sind überfordert.

Wir hängen in der Gegend herum. Ein paar Straßen weiter steht auch die Siedlung Y in Flammen, ein umgekipptes Auto brennt langsam vor dem Eingangsbereich. Weiter hinten hören wir Feuerwerkskörper, die Siedlung Z muss sich ebenfalls erhoben haben. Vor unseren Augen entsteht eine andere Geografie: die der Siedlungen im Stadtteil mit ihren Mäulern, ihren Banden, ihrer Revolte. In mehreren Straßen ist das Licht erloschen, abgeschaltet. Einsatzkräfte biegen ab und nähern sich: Sie beleuchten die Gebäude mit ihren Lampen und ziehen unter Buhrufen und Feuerwerkskörpern wieder ab.

Letzter Versuch einer Intervention in der Siedlung X: Ein einsamer Kleinbus nähert sich, fährt an einigen Barrikaden vorbei, verängstigte Polizisten steigen aus, werden unter Dauerfeuer genommen, ein Feuerwerkskörper fliegt in das Fahrzeug, sie ziehen sich an eine Wand zurück, steigen wieder in ihr Fahrzeug und verschwinden. Auf dem Weg nach oben nimmt der Bullentransporter uns ins Visier – er sieht aus wie ein Gespensterwagen. Sie trauen sich nicht mehr auszusteigen. Wir rennen wie verrückt die Straße hinauf und werden von Phantom-Bullen verfolgt. Um uns herum explodieren die Feuerwerkskörper in einem ohrenbetäubenden Lärm, „Bruder zielt besser“. Wir flüchten durch eine der vielen kleinen Seitenstraßen.

Wir gehen zurück zur Kreuzung in der Siedlung X. Alles ist ruhig, die Feuer werden geschürt und die Flammen steigen in die Höhe. Wenn ein Bullenwagen auftaucht, wird er unter Beschuss genommen. Alle warten darauf, dass die Bullen auftauchen, sie sind das Ziel Nummer eins. Aber sie kommen nicht mehr. Eine Oma im Nachthemd mit ihrem Mann beobachtet die Szene mit unverhohlener Freude. Sie sagt: „Warte, wir rufen sie an“. Die Jugendlichen antworten „ja ja“ und lachen und alle rufen gemeinsam an. Aber die Telefonzentrale ist überlastet und niemand kommt.

Die Straßen gehören uns. Die Plünderungen beginnen, von einem zum nächsten Laden. Aldi, Auchan, Monoprix, Picard, alles ist offen. Zuerst die Supermärkte, dann die Tabakläden und schließlich die Apotheken. Ende des Eigentums, für diese Nacht. Es ist ein Fest der Straffreiheit und doch werden nur die kapitalistischen Symbole ins Visier genommen, erstaunlich, nicht wahr? Die Granden der Siedlung gehen an der Kasse vorbei, die Späher reichen Poliakov Vodka durch die Autotür. Jemand bringt eine Tüte mit Süßigkeiten mit, die geteilt werden sollen. Die Plünderung erfolgt schrittweise: Zuerst der Alkohol, die Flaschen stammen aus dem Laden, Whisky, Wodka und Champagner. Dann werden die gepackten Tüten immer größer. Verächtlich werden Flaschen für 100 Euro ins Feuer geworfen, um die Flammen anzufachen. Wir gehen aus zum Essen: Jeder hat sein eigenes kleines Vergnügen, Nutella B-ready oder Oreo. Dann kommen einige Schwestern vorbei und gehen „einkaufen“. Sie verdecken ihr Gesicht mit einem Kopftuch und steigen durch das aufgebrochene Fenster ein. Dort liegen die Waren in greifbarer Nähe. Die Regale sind unbeleuchtet, aber frei zugänglich und kostenlos. Eine Aubergine liegt auf dem Boden. Nach stundenlanger Plünderung scheint der Laden immer noch voll zu sein.

https://twitter.com/callzoRL/status/1674539013955256322

Ein paar kleine, vermummte Kinder rennen mit einer Packung Waschmittel unter dem Arm davon. Es ist verrückt, jeder will Waschmittel haben. Stundenlang kommen verstohlene Gestalten aus dem Loch. Das Spektakel ist euphorisch. Immer größere und unwahrscheinlichere Taschen: Sporttaschen, Mülltüten, Körbe. Aus einem Beutel, der aussieht wie ein Sack des Weihnachtsmanns, dringt das Geräusch von aneinander schlagenden Flaschen. Eine Frau geht mit einem vollen Einkaufswagen zwischen zwei Feuerstellen aus Sitzmöbeln hindurch. Limonadenpack in einer Hand, offene Bierpackungen in der Mitte der Straße. “ Wollen wir rauchen?“, eine Gruppe geht in die Nacht hinaus. Jemand findet einige Päckchen und verteilt sie. Einer entdeckt eine kugelsichere Weste, die er sofort anzieht, bevor er seinen Posten auf der Barrikade wieder einnimmt. Ein anderer ist überrascht und entdeckt einen Dildo, der bei allen für Heiterkeit sorgt. „Was ist mit der Apotheke?“ fragt jemand, und einige Sekunden später wird sie von einer Gruppe mit Fußtritten geöffnet, „für die Medikamente“.

3 Uhr Morgens. Die Kapitalisten müssen wütend sein, die Anrainer der Viertel grübeln in ihren Betten, die Nachbarn trauen sich nicht raus, schlafen aber auch nicht – sie schauen aus dem Fenster. Niemand wagt es mehr zu kommen. Es gibt kaum Geräusche, außer dass hier und da Feuerwerkskörper explodieren. Jede Ankunft ist verdächtig – Freund oder Feind? Einen Moment lang sah es nach einer Razzia aus, aber es war eine Bande auf Motorrollern. Ihre Ankunft löst eine kleine Party aus. Feuerwerk, Flaschen werden ausgetauscht, 360 Grad Drifts, Reifen werden heiß und die Gruppe fährt wieder. Später wird eine Gruppe zu Fuß unterhalb der Gebäude gesichtet, Bullen? Nein, es sind die Jungs aus der Siedlung Z, die uns besuchen kommen. Auf der verlassenen und ausgestorbenen Straße laufen 20 schwarz gekleidete, vermummte Personen mit Walkie-Talkies um den Hals und Mörsern auf der Schulter, die wie Gewehre getragen werden. Spät in der Nacht ist es ein Konvoi von 10 Autos, der hupend ankommt; die Mörserschützen sind bereit, aber es sind keine Polizisten. Die Leute parken, tauschen, öffnen die Kofferräume, füllen sie auf und fahren weg.

4 Uhr. Ein Auto mit urkomischen BAClern fährt vorbei, sie machen aber nur Fotos und fahren wieder weg. Es ist kein Geräusch mehr zu hören, die große Gruppe hat sich aufgelöst. Wir verlassen ungläubig die Siedlung. Andere kleine Gruppen kommen mit vollen Armen zurück. Eine Tasche wird auf dem Boden liegen gelassen, darin: Tiefkühlpizza, eine Packung Waschmittel, PAIC Zitrone, Häagen-Dazs-Eis und Toilettenpapier. Wir nehmen das Schmelzeis. In einem Gebäude in der Nähe unseres Gebäudes isst ein junger Mann, der mit einer Sturmhaube vermummt hinter einem Gitter steht, schweigend ein Eis. Wir lächeln uns an. „Komm gut heim, wir sehen uns morgen.“

Aus Neugier drängen wir bis zur Siedlung W vor. Wir sind überrascht, dass überall, absolut überall in der Gegend, das Gleiche passiert wie das, was wir gerade erlebt haben. Wir kommen zu einem Platz, auf dem ein ganzes Geschäft in Flammen aufgeht. Dichter Rauch steigt den Turm hinauf, der vom Feuer bedroht ist. Die Bewohner stehen draußen in ihren Pyjamas. Sie reiben sich die Augen, Kinder schlafen im Vorraum. Rundherum sind die Geschäfte geplündert. Eine andere Bande hält die Kreuzung. Jede Siedlung hat ihren eigenen Einflussbereich. Die Feuerwehr trifft ein, gefolgt von einer CRS-Staffel.

Die Polizisten schleichen sich unauffällig an einem Turm entlang. Dort erwartet sie ein heftiges Feuer. 30 lange Minuten lang werden sie unter Dauerfeuer von Feuerwerkskörpern stehen. Sie werden gestoppt und klammern sich an ihre Schilde, mit dem Rücken an die Wand geklebt. Die Einheit, die die Kreuzung hält, hat einen schlechten Ruf. Die Leute draußen sagen, dass sie niemanden durchlassen. Eine Mitschülerin erzählt mir, dass sie sehr misstrauisch sind. Als sie nach Hause gehen wollte, sagten sie zu ihr: „Wir kennen jeden, wer bist du? Wie lautet deine Adresse?“. Von den Polizisten abgewiesen, müssen wir eine Straße hinuntergehen und uns unter die Leute mischen. Die Jugendlichen hier sehen ehrfürchtig aus und greifen jemanden an: „Was machst du? Greif die Bullen an oder geh nach Hause, wir wollen keine Zuschauer, hast du gedacht, das ist ein Actionfilm oder was?“.

Wir gehen eine dunkle Parallelstraße hinauf, wo wir Leute aus X treffen. Eine von uns sagt: „Wir müssen eine Barrikade errichten, um die Leute aus W zu schützen“, die anderen stimmen zu: „Wir müssen ihren Rücken schützen“, und Mülltonnen werden quer über die Straße angezündet. Die Mülltonnen, die wir gerade anzünden, gehören unseren Kumpels, die um diese Uhrzeit wohl versuchen, zu schlafen. Aber die Mörser schweigen sowieso nicht. Im ganzen Viertel hallen die Explosionen wider, die Farben erobern den Himmel: rot, grün, blau, gelb, golden. Jemand sagt zu mir: „Alter, echt Alter, haben die Blitze“, und ich antworte: „Sie haben den Himmel auf ihrer Seite“.

Morgens auf dem Platz machen die Leute Fotos von den zerstörten Geschäften und besuchen den verwüsteten Monoprix. Alle erholen sich von einer unruhigen Nacht. Der Morgen ist die Stunde der linken Schnulzen, der Reaktionäre und der „Oh nein, der arme kleine Käsehändler“.

***

Selbst in unserem Lager gibt es Leute, die diese Revolte nicht verstehen, die nicht wissen, wie sie sich auf die Situation beziehen sollen; ganz zu schweigen von der extremen Linken und der institutionellen Linken, die natürlich in die Röhre gucken.

Wir stehen dem etwas sprachlos gegenüber: Das heißt, eine Revolte muss gelebt werden. Was wir sagen können, ist, dass die Polizei in diesem Land keine Grenzen kennt. Der Polizist, der Nahel getötet hat, war für seine Tapferkeit im Kampf… gegen die Gelbwesten ausgezeichnet worden. Heute sitzt er im Gefängnis und man spricht ernsthaft über diesen Fall. Das ist angesichts der vielen stillen Morde der letzten Jahre schon ein Sieg. Wir müssen diese Bewegung fortsetzen und die Regierung dazu bringen, ihre Polizei fallen zu lassen.

Denn da die Regierung und die Kapitalisten nur mit ihrer Hilfe regieren können, spielt die Polizei mit ihren fadenscheinigen Verlautbarungen den Erpresser. Erinnern wir uns an das alte Sprichwort: „Wer wird uns vor der Polizei schützen?“. Die Jugendlichen auf der Straße erinnern uns durch ihre Machtdemonstration daran, dass das, was uns vor der Polizei schützt, die Selbstverteidigung des Volkes ist. Die Jugendlichen in den Stadtvierteln haben es am Donnerstag, den 29. Juni, bewiesen: Wenn sich Banden gleichzeitig organisieren, können sie die Polizei zumindest für eine Nacht in Schach halten. Diese Erinnerung im Herzen der katastrophalen Zeit, in der wir leben, ist ebenso freudig wie notwendig.

Eine weitere Lehre, die man aus dieser Stärke ziehen kann: Die Jugendlichen konnten 40.000 Polizisten nur deshalb in Schach halten, weil sie sich auf bereits vorhandene Kräfte stützen, die über die logistische Frage hinausreichen und die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Gemeinschaft, Territorium, Organisation. Man darf dem Gejammer der einen oder anderen Seite nicht glauben: Die Revolte, die sich anbahnt, wird in den Arbeitervierteln breit getragen. Zwar werden die von den Jugendlichen eingesetzten Mittel in Frage gestellt, nicht aber die Entstehung einer Revolte nach diesem Mord. Die Jugendlichen, die auf der Straße sind, sind nicht besonders kriminell, und wenn sie sich der Polizei so mutig entgegenstellen, dann auch, weil sie sich alle mit Nahel identifizieren. Welchen Sinn hat es, in einem „republikanischen Pakt“ zu leben, der die Tötung eines der eigenen Leute erlaubt?

Wir dürfen uns nicht von faschistischen Reden oder dem spektakulären Einsatz der bewaffneten Truppen beeindrucken lassen, sondern müssen die Aufstandsbewegung unterstützen. Eine Entpolitisierung der Revolte wird nicht helfen, sondern im Gegenteil den Wachhunden der Macht Recht geben, die Aufständischen isolieren und sie nur noch mehr in den Nihilismus treiben, vor dem die Wohlhabenden so viel Angst haben. Diejenigen, die Zweifel an den Zielen oder den verwendeten Mitteln haben, sollen ihren Standpunkt auf der Straße vertreten, in direkter Konfrontation mit den Aufständischen, im Dialog mit ihnen und mit konkreten Vorschlägen. Zu den Plünderungen ist nichts Besonderes zu sagen. Bei der Plünderung geht es darum, die Gewalt der wirtschaftlichen Segregation zu beseitigen. Die Aufständischen wollen die Polizei anlocken, sich amüsieren, an das herankommen, was ihnen im Alltag vorenthalten wird: Sie zielen natürlich auf die Waren ab.

Gezeichnet X

Veröffentlicht am 3. Juli 2023 auf Lundi Matin. Ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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Die Barbaren beim Angriff auf das Imperium: Louisa Yousfi und die Banlieue-Rapper

Anna Curcio

Ein kommentierter Auszug aus ‘Restare barbari‘ von Louisa Yousfi (auf ital. bei DeriveApprodi 2023), um die Brände von Nanterre zu verstehen. 

***

J’ai grandi dans le zoo, j’suis niqué pour la vie.

Même si j’meurs sur une plage, j’suis niqué pour la vie.

Parce que ceux que j’aime ont la haine, j’suis niqué pour la vie.

Parce que j’cours après ce biff, j’suis niqué pour la vie.

PNL, Zoulou Tchaing, Deux frères, 2019

“Gegen Ende des Jahres 2015, als die Moral des Landes unter dem Eindruck der Terroranschläge [auf den Sitz der Satirezeitschrift ‘Charlie Hebdo’ im Januar und die koordinierten Anschläge an verschiedenen Orten in Paris, darunter das Stade de France und die Konzerthalle Bataclan im November] ins Wanken gerät, richten sich alle Augen auf die Banlieues, ein verfluchtes Gebiet, aus dem hasserfüllte junge Männer hervorgegangen sind, die mit einem Schlag von Kleinkriminalität zu blutiger Barbarei übergegangen sind. Man kann sich die schmutzigen Mauern einer Cité in Aubervilliers vorstellen, in den Händen von Schlägern in Trainingsanzügen, die mit Verbrechen und dem Islam jonglieren und über ihrem Elend brüten, gegen die ganze Gesellschaft.“

So beginnt eines der letzten Kapitel von ‘Restare barbari’ von Louisa Yousfi, einer Journalistin und dekolonialen Aktivistin, das in diesem Frühjahr in Italien veröffentlicht wurde. Wie ein „Schlag in die Magengrube“ bietet das Buch – so steht es im Klappentext – „eine außergewöhnliche Reise in die radikale Andersartigkeit“ der Banlieues und liefert uns unverzichtbare Analyseelemente, um die Brände von Nanterre in der vergangenen Nacht zu verstehen.

Eine magische Formel

Louisa, nach ihrer eigenen Definition eine „gute Schülerin der Republik, eine gute Eingeborene mit glattem Haar und einer gezähmten Zunge“, beschließt, der Rap-Musik die Lösung des Rätsels anzuvertrauen, das sie als „Eingeborene“ der französischen Republik beschäftigt: Wie kann man Barbarin bleiben? Wie kann man „diese Art von Barbarei beibehalten“ und sich „die Möglichkeit eines anderen Schicksals“ geben, eines Schicksals, das sich von dem unterscheidet, das die westliche, kapitalistische und rassistische Zivilisation bietet. Barbarisch zu bleiben sei „eine Zauberformel“, sagt sie mehrmals in dem Buch: die „Zauberformel“ des algerischen Dichters Kateb Yacine, um der Domestizierung zu widerstehen, die „in der Sprache des Imperiums“ Integration genannt wird.

„Wie können wir gute Texte ruinieren, wenn die Ehrbarkeit der Familie so schwer auf unseren Schultern ruht und unsere Stimme eine seltene Gelegenheit darstellt, dass unsere eigene einen Platz im Gespräch hat?“ Um das Dilemma zu lösen, lässt sie sich von der Rap-Musik inspirieren: „Weit davon entfernt, die Sprache des Rap in die Universalität der kritischen Intellektualität übersetzen zu wollen, habe ich das Gefühl, dass es die Rapper sind, die für mich sprechen. Nicht von mir, sondern für mich. Ihre Sprache, mit ihren Exzessen, ihrer Respektlosigkeit gegenüber der konventionellen Grammatik, gibt meinem integrierten Schreiben die Möglichkeit, ein wenig zu atmen (…) Während sie barbarisch bleiben, sprechen sie für mich, für uns“.

Deshalb vertraut sie der Prosa der Banlieue-Rapper Booba und PNL ihre kompromisslose Kritik an der westlichen Zivilisation und ihrer gewaltsamen Integrationspolitik an.

Que la famille

Es ist „ein Schwur des Hasses (…), der aus der vom Rap besungenen Banlieue aufsteigt“: „zwei Brüder aus einer Cité in Corbeil-Essonnes, die, wie sie selbst zugeben, von einem abgrundtiefen Hass erfüllt sind. Die Geschichte der Rap-Gruppe PNL beginnt hier: inmitten einer Katastrophe.

PNL ist die isolierte Banlieue, der Banlieue-Zoo, der als eine Erweiterung des Gefängnisses erlebt wird. In seinem Herzen entsteht ein Ökosystem mit eigenen Codes und einer eigenen Sprache. Die PNL kommen von dort (…) Am Eingang dieser Hinweis: Qlf (Que la famille). Zu lesen: Geh weg. Wenn du nicht zur Familie gehörst, wirst du nichts verstehen. Textlich, phonetisch und musikalisch wird dir das alles unverständlich, vielleicht sogar lächerlich vorkommen. Suche nicht weiter. Diese Welt ist nicht für dich gemacht, und niemand wird sie dir erklären können, einfach weil diese Dinge nicht durch Bedeutung, sondern durch Gruppenzugehörigkeit, durch Blutszugehörigkeit entstehen. So viel zum Dialog. Die PNL-Banlieue macht keinen „bewussten“ Rap, appelliert an keine Institution, ruft kein Gewissen auf den Plan. Sie erwartet nichts mehr von der Außenwelt, sie will ihr nichts mehr zu sagen haben. Etwas ist kaputt, aber es ist zu spät, darüber zu sprechen.

(…) Qlf, das Motto des Clans, wird zu einem umfassenderen Aufschrei als erwartet. Er wird von allen „schwarzen Schafen“ der Gemeinschaft ausgestoßen, die ihre Würde zurückgewinnen, indem sie sich eine entscheidende Rolle in der generellen Ökonomie der Gemeinschaft zuschreiben.

PNL – Deux Frères

Im Clip von Deux frères [Track aus dem gleichnamigen Album von 2019] wird ein Kind in der Nacht von einem Aufstand unter seinem Fenster geweckt. Es ist Oktober 2005, und das Kind weiß es: Es gehört zu den vermummten Wilden, die die CRS unterdrücken soll. Diese Eröffnungsszene wirft ein Licht auf den Rest. Sie sagt: Hier müsst ihr erwachsen werden. Aber für die Generation der PNL-Brüder ist das Ende der Kindheit bereits gekommen, es ist das Alter, in dem der republikanische Mythos zerbröckelt, in dem die realen und symbolischen Grenzen zwischen „ihnen“ und „uns“ gezogen werden. Zyed und Bouna, die kleinen Brüder sind tot und es gibt nichts mehr zu retten.

Fürs Leben gefickt

„(…) Deux frères, ist wie ein Epilog geschrieben, der von der Erinnerung an das Leben, das sie nicht mehr führen, heimgesucht wird. Das letzte Stück, La misère est si belle, ist eine lange Widmung an alles, was die Hässlichkeit des Elends ausmachte: „meine Kakerlaken“, „mein Keller“, „mein Wohnzimmer“, „meine traurige Decke“, das „Rer C“, das „Bat C“, „an mein Leben“… Sie versuchen nicht, ihre frühere Welt wiederherzustellen, indem sie sie als „schön“ betrachten und die gesellschaftlich akzeptierten Aspekte bewerten. Sie sagen, dass die Schönheit ihrer Welt gerade in ihrer Hässlichkeit liegt. Sie haben das umgekehrte Paradox erfahren: Die Schönheit der Welt da oben ist aus der Nähe betrachtet ekelhaft. Sie hat nichts moralisch Überlegenes zu bieten im Vergleich zu dem Leben, das sie hinter sich gelassen haben. Sie ist sogar trostlos, diese Schönheit. Wenn man sagen kann, dass „das Elend so schön ist“, so liegt das nicht an der Amnesie des Parvenüs, sondern an der Reaktivierung vergangener Gefühle und vergessener Erinnerungen, die die Würde der Nobodies dieser Welt ausmachen. 

Diese a posteriori-Rekonstruktion der Vergangenheit wird als eine Abfolge von Bildern eines moralischen Zustands verarbeitet. Es ist ein innerer Zusammenbruch, der es erlaubt, aus den eigenen Ruinen das zu wählen, was es wert ist, gerettet zu werden: „Ils ont détruit nos tours / Détruiront pas l’empire qu’on a construit dans nos cœurs (Sie haben unsere Türme zerstört / Sie werden das Reich nicht zerstören, das wir in unseren Herzen errichtet haben) [PNL, Sibérie, Deux frères, 2019].

Dieses innere Reich muss als eine neue Deklination der katebianischen „Spezies der Barbarei“ verstanden werden. Am Ende ihres unerbittlichen Wettlaufs zum Gipfel machen die beiden Brüder schließlich kehrt: Sie sind nun freiwillig kontaminiert und unheilbar. Zum Glück, “gefickt für das Leben“: “niqué pour la vie”.

„Das ist die Intuition des Buches: Wenn der Rap in sich selbst so etwas wie eine Ethik der bleibenden Barbaren herauskristallisiert, müssen wir ihn uns als das literarische Schicksal des Rap vorstellen, der seine Macht zurückgewinnt und sich rüstet, um sich jenseits von Heiligkeit, Vorbildlichkeit und sogar Schönheit zu erklären (…) Die Ethik und vor allem die Ästhetik der bleibenden Barbaren liegt zweifellos in dieser Weisheit: eine Aussetzung des Urteils, eine Gnade“.

Und die jungen Banlieuesards, die im Laufe der Nacht mehrere Cités der Île-de-France in Schutt und Asche gelegt haben, wissen wie das Kind im Clip von Deux frères, dass “Barbaren zu bleiben“ “ein politisches Zeichen“ ist: „welch ein frischer Wind!“

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Anna Curcio, Forscherin, Essayistin und kämpferische Übersetzerin, hat in Italien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gelehrt und geforscht. Gegenwärtig unterrichtet sie juristische und wirtschaftliche Themen an Gymnasien. Sie untersucht die Veränderungen der produktiven und reproduktiven Arbeit im Zusammenhang mit Race und Geschlecht.

Sie hat für DeriveApprodi: Introduction to Feminisms (2019) und Black Fire (2020) herausgegeben.

Der Text erschien am 30. Juni 2023 auf Machina, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

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ACAB – Marche blanche und AUFSTAND für Nahel

Norma Thameng

Einige Worte zum 29. Juni 2023 in Nanterre

Zwei Tage nach dem Tod von Nahel, der bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre von einem Polizisten erschossen wurde, fand am Freitagnachmittag, dem 29. Juni, in den Straßen der Stadt eine Gedenkdemonstration (marche blanche) statt, die seinem Andenken gewidmet war.

Tausende Menschen waren anwesend (6000 laut Polizei – wie von den Medien berichtet -, aber wahrscheinlich viel mehr, da die Menge extrem kompakt war, viel mehr als auf den üblichen Demonstrationen). Viele Menschen aus Nanterre, natürlich, aber auch aus der gesamten Pariser Region: Junge, alte Menschen, Menschen aller Hautfarben, unterschiedlicher Herkunft, alle waren im Gedenken an Nahel versammelt, mit der Hauptparole „Gerechtigkeit für Nahel“, aber auch gegen die Institution Polizei, die seit viel zu langer Zeit für viel zu viele Tote verantwortlich ist, regelmäßig, wiederholt, und es ist traurig, das zu sagen, aber auch auf banalisierte, normalisierte Art und Weise.

Während dieses Marsches und lange bevor es zu Krawallen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, war die kollektive Energie bereits elektrisiert, die Wut war spürbar, sowohl in dem recht schnellen Tempo des Marsches als auch in den Slogans, die die Menge rief, und den Inschriften, die im Laufe der Demonstration an den Wänden erschienen.

Über „Gerechtigkeit für Nahel“ hinaus reichten die von der Menge gerufenen Slogans von „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“ über „Ein Bulle, eine Kugel, soziale Gerechtigkeit“ bis hin zu „Jeder hasst die Polizei“, „Polizei Mörder“, „Nieder mit dem Staat, den Bullen und den Faschos“, „Bullen-Vergewaltiger- Mörder“ und sicherlich noch einigen anderen, die ich vergessen habe. Die Polizei war eindeutig das Hauptziel der Wut, die sich ausdrückte. Auf jeden Fall war in den Slogans das Zusammentreffen unterschiedlicher, aber kompatibler politischer Kulturen zu spüren, zwischen der Jugend aus den Arbeitervierteln, den erfahreneren antirassistischen Aktivisten, den Anarchisten und Autonomen, die in den letzten Monaten zahlreich in der Bewegung gegen die Rentenreform vertreten waren, und sicher noch einer ganzen Reihe anderer Leute. Diese Begegnungen sind nicht neu, sie fanden bereits in schönen Momenten des Kampfes statt, zum Beispiel 2006 während der Bewegung gegen den CPE oder 2017 während der Solidaritätsrevolte mit Théo (der in Aulnay-sous-Bois von der Polizei grausam angegriffen worden war).

Soviel zum Kontext, aber ich möchte euch von einer kurzen Diskussion erzählen, die ich während des Marsches mitbekommen habe.

Als ein Typ gerade „ACAB“ auf ein Straßenschild geschrieben hatte, fragte ihn ein anderer:

Was bedeutet „ACAB“?

All Cops Are Bastards, alle Polizisten sind Bastarde.

Ah okay… Ich denke, es sind nicht alle Bastarde, es gibt einige, die in Ordnung sind.

Hmm, es gibt sicher einige, die menschlich gesehen gute Menschen sind, aber das Problem ist, dass ihre soziale Funktion schlecht ist und sie als Polizisten nur dem System dienen können.

Hör zu, ich bin in dieser Stadt geboren, ich lebe seit über 35 Jahren in dieser Siedlung und ich sage dir, dass nicht alle Polizisten Scheiße sind.

Okay, aber wem und was dienen sie? Auf jeden Fall nicht für uns. Selbst wenn einige von ihnen nett sind, ändert das nichts an ihrer sozialen Funktion, ein ungerechtes System aufrechtzuerhalten.

Ja, aber wenn es keine Polizei gäbe, würde Chaos und Anarchie herrschen.

Aber das ist keine Anarchie! Anarchie ist nicht das Chaos, sondern eben eine soziale Organisation ohne Hierarchie, die die Existenz der Polizei überflüssig macht, eine Gesellschaft, in der es keine sozialen Ungleichheiten mehr gibt wie im kapitalistischen System, wo es sehr reiche Menschen gibt, die auf Kosten der anderen leben.

Ah, aber du bist Anarchist?

Ja. Ich bin übrigens nicht der einzige. Und im Gegensatz zu dem, was Darmanin sagt, sind wir keine Bourgeois.

Es ist toll, dass ihr hier seid, genießt es.

Danke!

Dieses kleine Gespräch während des Marsches ist nur ein Beispiel für das gute Einvernehmen zwischen den Menschen, sowohl während des Marsches als auch während der anschließenden Krawalle, bei denen es eine Solidarität zwischen allen gab, die schön anzusehen war (in Momenten der Konfrontation, auf der Flucht, beim Austausch von Informationen, bei der medizinischen Hilfe und dem Teilen von Kochsalzlösungen gegen die Auswirkungen von Tränengas usw.).

Die aktuelle Revolte wird eindeutig von den Jugendlichen in den Arbeitervierteln des ganzen Landes initiiert, und Glückwunsch zur Entschlossenheit und zum Einfallsreichtum bei den Krawallen! Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um zu sagen, dass diese Revolte anschlussfähig ist und dass, wenn sie sich auf andere Bevölkerungsgruppen ausweitet, die Machthaber noch mehr Sorgen haben werden! Wir werden das brauchen, um den Staat und den Kapitalismus zu Fall zu bringen, wir werden es brauchen, dass wir alle mitmachen, über unsere (vermeintlichen) Unterschiede hinweg.

Damit die Solidarität weitergeht, kann es hilfreich sein, zu den Schnellverfahren zu gehen, um die Menschen zu unterstützen, die vor Gericht stehen. Verfolgt diese in den verschiedenen Gerichten im Großraum Paris, insbesondere in Nanterre und Bobigny, aber nicht nur dort.

Viel Mut für Nahels Angehörige und alle, die kämpfen.

Norma Thameng

Dieser Text erschien am 30. Juni 2023 auf Paris-Luttes.Info und wurde von Bonustracks in Deutsche übersetzt. 

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Wenn die Aufstände geboren werden

Flammende Kommentare zu dem Flächenbrand, der durch die Ermordung von Naël in Nanterre am 27. Juni ausgelöst wurde.

Im Sturm auf die alte Welt

Eine ganze Jugend stürmte die alte Welt und ihre falschen Versprechungen. Rathäuser, Schulen, Mediatheken, Kulturzentren, Supermärkte, Banken, Optiker: Was sich in den Nächten des 27. und 28. Juni abspielte, ging weit über die Frage der Polizeigewalt hinaus. Mit einer einzigen Bewegung erklärte die Jugend der Polizei den Krieg, da sie der Meinung war, dass die Schwelle des Erträglichen in der Polizei Herrschaft überschritten worden war. Und es ist nur natürlich, dass sie beschlossen hat, den Konflikt auf das Terrain der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft zu verlagern, die auf ihrem Leben und ihrer Zukunft lastet. Anders und schon gar nicht getrennt lassen sich die Angriffe dieser beiden Nächte – und alle, die noch folgen werden – nicht verstehen.

Ruhm für die Aufständischen

Auf die Ermordung ihres Bruders durch eine Kugel antwortete die aufgegebene und ghettoisierte Jugend mit einer kompromisslosen Feuerflut. Zunächst gegen die Polizei, dann gegen alle gesellschaftlichen Kräfte, die an ihrem Ausschluss und ihrer Unterdrückung beteiligt sind. In Clichy warf ein Aufständischer etwas, das wie eine scharfe Granate aussah, auf Polizisten. In Roubaix wurde ein sogenannter Mörser mit 800 Schuss pro Minute eingesetzt, um die Ordnungskräfte in Schach zu halten. In Vigneux wurden Überwachungskameras mit Schusswaffen ausgeschaltet. In Neuilly-sur-Marne drangen Aufständische auf den Parkplatz der Polizeistation ein und setzten die Fahrzeuge der Stadtpolizei in Brand. Es gibt unzählige Polizeireviere, die mit mehr oder weniger Erfolg angegriffen wurden. In Dammarie-les-Lys und Trappes zwang die Organisiertheit der Aufständischen die Polizisten, ihre Polizeistation zu verlassen. Auch die Rathäuser bekamen ihr Fett weg: Das Rathaus von Val Fourré in Mantes-la-Jolie ging ebenso in Flammen auf wie das von Garges-lès-Gonnesse. Das von Mons-en-Barouel wurde verwüstet und geplündert. Amiens, l’Île-Saint-Denis, Montreuil, Romainville: Die Liste der Rathäuser, die ins Visier genommen und in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist so lang wie Sarkozys Anklageerhebungen. In Nanterre wurde die Präfektur von Feuerwerkskünstlern ins Visier genommen. Gleichzeitig griffen die Flammen auf Busse und Straßenbahnen, Schulen und Kulturzentren, Supermärkte und Fast-Food-Restaurants, Optiker und Banken über. In der Nacht des 28. Juni, während ein Abgeordneter von La France insoumise, der am Vortag in Nanterre bei der politischen Vereinnahmung erwischt worden war, sich von seiner Strafe erholte, griffen Aufständische das Gefängnis von Fresnes an und zwangen den Staat, aus Angst vor einem Massenausbruch die RAID einzusetzen.

Keine Distanzierung wird toleriert

Das kleine Karussell der Linken, die es eilig hat, die Revolte zu vereinnahmen und sich als Sprachrohr und legitime Vertreterin dieser aufständischen Jugend zu etablieren, ist eingerostet. Sein Quietschen ist nervig. In den Zonen des geografischen Abstiegs und der sozialen Ausgrenzung, in denen der Staat seine unerwünschten Personen parkt, reichen die Versprechungen der öffentlichen Politik nicht mehr aus. Ebenso wenig wie Petitionen, die die Auflösung der BRAV-M fordern. Eine Gesellschaftsordnung lässt sich ebenso wenig auflösen wie ein Aufstand oder eine Generation. Das hat die Jugend verstanden. Ihre Revolte ist eine kompromisslose Kritik an allen Aspekten ihres beherrschten Lebens. Genug von den überteuerten, beschissenen Transportmitteln, die gerade einmal dazu taugen, einen zur Kohlengrube zu bringen, in denen bewaffnete paramilitärische Rekruten patrouillieren. Genug von den Schulen und der kulturellen Betreuung, die ihre Formatierung durchsetzen und alles Lernen dem Imperativ der Berufs- und Arbeitsberatung unterwerfen. Genug von Aldi und Lidl, wo dich alles an deine Armut erinnert und alle deine Entscheidungen erzwungen werden. Genug von den Straßen ohne Zukunft, die mit Überwachungskameras und Polizeipatrouillen markiert sind, die deinen Lebenshorizont zerstören und die du aus Mangel zu lieben gelernt hast. Genug von McDonald’s und seinen seelenlosen Burgern, genug vom Optiker und seinen überteuerten Brillengestellen, genug vom Geldautomaten, der unsere leeren Taschen verspottet. Wir haben all diese falschen Bedürfnisse und künstlichen Wünsche satt, die uns auferlegt werden.

Panik an Bord

Der rechtsgerichtete Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne erklärte heute Morgen: „Es ist das Wesen des öffentlichen Sektors und der Republik, das heute angegriffen wird.“ Vorgestern geißelte die NUPES-Abgeordnete Sabrina Sebaihi diejenigen, die es eilig haben, die Jugendlichen in den Arbeitervierteln als „Wilde“ hinzustellen. Auf beiden Seiten des Parteienspektrums herrscht Panik. Wie kann man die Ordnung wiederherstellen, ohne zu sehr unter der Unordnung zu leiden – oder sogar von ihr profitieren? In der Regierung mehren sich die Signale, nicht ohne Widersprüche: Schweigeminute in der Versammlung und Redebeiträge von Darmanin, Einsatz von Drohnen im Eilverfahren und Ankündigung, 40 000 Polizisten im ganzen Land einzusetzen. Während die politische Klasse aktiv wird, gehen die Menschen nach draußen. Der Platz vor der Präfektur in Nanterre quillt bereits über. Jeder weiß, dass der weiße Marsch für Naël eine weiße Nacht für die Schweine ankündigt.

Der Sturm auf den Himmel

Das reibungslose Funktionieren der politischen, wirtschaftlichen und polizeilichen Herrschaft dieser Gesellschaft steht auf dem Spiel. In den Arbeitervierteln haben die inländischen Exilanten keinen Ort mehr, an den sie gehen können. Sie weigern sich, sich mit ihrem Zustand als universelle Fremde abzufinden. Sie wissen, dass keine öffentliche Politik ihre Probleme lösen wird, denn sie wissen, dass diese Welt auf ihrer Ausgrenzung aufgebaut wurde und nur durch sie aufrechterhalten wird. Sie tragen eine neue Welt in ihren Herzen. Sie wissen, dass sie, um sie erblühen zu sehen, ihre Betonhölle zertrümmern und ihre erbitterten Verteidiger ein für alle Mal loswerden müssen. Polizisten, Politiker, Beamte, Bosse, Stadtplaner: Sie werden nicht ewig damit durchkommen. Etwas hat sich geändert. Diese Jugend ist zu einer selbstbewussten Kraft geworden. Sie spürt den Himmel an ihren Fingerspitzen.

Gerechtigkeit für alle. Würde für alle. Freiheit für alle.

Die Aufständischen in der Metropole

Erschienen am  30. Juni 2023 auf Paris-Luttes.Info, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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