Giorgio Agamben
Kojève hat einmal in Form einer Mahnung eine Kritik an der Identität geäußert, über die man nachdenken sollte: „Sei das, was du niemals werden kannst.“ Der Fehler derer, die nach einer Identität suchen, besteht darin, dass sie das werden wollen, was sie bereits sind. Das, was wir einfach sind, ist keine Identität, sondern eine immerwährende Erfahrung, die uns ständig zwischen den Fingern zerrinnt und die wir deshalb niemals werden können. Und doch schreibt uns die Gesellschaft, in der wir leben, eine Identität zu, die wir mehr oder weniger überzeugt übernehmen. Diese Identität ist – das wissen wir eigentlich ganz genau – zwangsläufig unecht, und wer wirklich das werden will, was er ist, läuft Gefahr – wie es Nietzsche passiert ist und wie es, wenn auch weniger offensichtlich, fast allen passiert –, dem Wahnsinn zu verfallen. Weise, d. h. ohne Identität, ist derjenige, der immer ist, ohne jemals zu werden: Aber genau das betrachten die sogenannten zivilisierten Gesellschaften heute als fremd und drängen es an den Rand, wenn sie nicht sogar versuchen, es schlicht und einfach zu beseitigen.
Erschienen am 24. Juli 2025 im italienischen Original, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.