Die Barbaren gegen die Geschichte

Sandro Moiso

Vor einem Jahr ist Emilio Quadrelli gestorben. Im März 2025 ist bei MachinaLibro die Textsammlung ‚Chroniken von Marseille’ erschienen, für die Sandro Moiso das Vorwort verfasste. Carmilla hat jetzt mit freundlicher Genehmigung des Verlags dieses Vorwort online gestellt. Bonustracks hat wiederholt Texte von Emilio übersetzt, er war einer der wichtigsten Autoren zu der Frage der zeitgenössischen proletarischen Kämpfe und ist hierzulande leider weitgehend unbekannt. Wir haben dieses Vorwort aus dem Italienischen übersetzt und vielleicht finden sich ja auch hierzulande Menschen, die sich ausgiebiger mit seinem Werk beschäftigen, das so viele Ansatzpunkte für eine neue revolutionäre Theorie auf der Höhe der Zeit bereithält. Dazu muß man nicht alle seine Ansichten teilen, z.B. zur Frage der politischen Lehren Lenins. 

Bonustracks 

Zwischen dem 6. September 2022 und dem 22. September 2023 werden auf Carmillaonline 35 Artikel von Emilio Quadrelli veröffentlicht, einige davon einzeln, andere, die meisten, als Teil von Reihen mit unterschiedlichen Titeln. In diesen Artikeln sind sicherlich alle Themen der militanten Forschung von Emilio vertreten: Krieg als gängige Praxis des Zeitalters des Imperialismus; die Partei (allein und ausschließlich jene) des Aufstands; die neue Klassenzusammensetzung und die Rolle des migrantischen Proletariats darin; die notwendige zentrale Bedeutung Lenins für die antagonistische politische Reflexion; der proletarische Internationalismus als unverzichtbarer Bezugspunkt für eine Klassenbewegung, die sich jeder Form von Nationalismus und Populismus widersetzt; die „Zeitungen” als Form und Quelle politischer Organisation und revolutionären Denkens; die „Barbaren” der städtischen und internationalen Peripherien, die nicht als Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit verstanden werden, sondern vielmehr als fortschrittlichster Ausdruck der durch die Globalisierung verursachten sozialen Widersprüche und, in Folge dieser Überlegung, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Trennung nach Hautfarben. Auch und vor allem dann, wenn dies Ausdruck der rückständigsten Denkweisen ist, die mit der Arbeiteraristokratie oder einer schwachen und verängstigten Arbeiterklasse tout court in Verbindung gebracht werden können.

Von diesen Artikeln widmen sich zwölf der Stadt Marseille, ihrem Proletariat und ihren neuen Formen der Selbstorganisation. Acht davon sind Teil der Cronache marsigliesi, die zwischen dem 2. April 2023 und dem 13. Juli desselben Jahres erschienen sind, während vier weitere zur Reihe Le problème n’est pas la chute mais l’atterrissage gehören. Kämpfe und Organisation der Verdammten von Marseille, ein Titel, der sich ausdrücklich auf den Film La Haine von Mathieu Kassovitz aus dem Jahr 1995 bezieht, erschienen zwischen dem 26. März und dem 22. April 2023. In diesen vier Artikeln steht die Rolle der Sporthalle als Ort der Organisation von unten und als Ort des Trainings für die körperliche Vorbereitung und Disziplin der Militanten im Mittelpunkt.

Marseille wird so für Quadrelli nicht nur zu einem geografisch bestimmten Ort, sondern auch zu einem Ort der Seele. Eine Art ideale Stadt, ein Laboratorium für neue Formen des Kampfes und der Organisation von unten. Ein Schlachtfeld, auf dem bereits die Widersprüche und Kämpfe der Zukunft erprobt werden.

Die Datumsangaben der Artikel vermitteln uns die Dringlichkeit, die Quadrelli verspürte, seinen Lesern und Genossen etwas mitzuteilen und zu hinterlassen, eine sich ständig weiterentwickelnde Reflexion, die er nicht aus Liebe zur Philosophie und Soziologie pflegte oder um eine Art Vorrang des Intellekts und seiner selbst über den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse und Kämpfe zu beanspruchen, sondern vielmehr, um zur Gründung einer formellen Partei beizutragen, die ihre Formen dennoch an die der historischen Partei anpassen muss. Mit Letzterem waren nicht nur die Lehren aus der Geschichte der Arbeiterbewegung in ihren verschiedenen Phasen und aus den Lehren der Konterrevolutionen gemeint, wie sie von der Kommunistischen Linken verstanden wurde, deren aufmerksamer Leser und Kritiker Emilio immer war, sondern auch der Ausdruck der Unmittelbarkeit der Klassensubjektivität, sobald diese sich durch Kämpfe manifestiert, und vor allem in den neuen Formen, die diese in jeder historischen Phase annehmen mussten, um auf die veränderten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zu reagieren, vor allem in den Formen der Arbeit, die vom Kapital in seinem Bestreben, alle Grenzen seiner Entwicklung zu überwinden und zu durchbrechen, geschaffen wurden. Auf diese Weise sollte die Dialektik von Praxis//Theorie/Praxis, die für das Verständnis und die Steuerung des revolutionären Prozesses notwendig ist, mit Leben erfüllt und mit Beinen zum Laufen gebracht werden. Denn für Quadrelli wie für Lenin werden Revolutionen nicht gemacht, sondern dirigiert.

Eine Überlegung, die als ketzerisch angesehen und auch so gewollt war, denn jeder revolutionäre Bruch hätte niemals etwas anderes als eine Häresie gegenüber politischen Praktiken und Organisationsformen darstellen können, die zu statisch waren, weil sie an frühere Kampfzyklen gebunden waren. Typisch in dieser Hinsicht ist die Betonung, dass das Handeln Lenins, des Mannes von Kamo, und des Bolschewismus einen außergewöhnlichen und erfolgreichen Bruch mit den Organisations- und Denkweisen der mittlerweile korrupten Zweiten Internationale darstellte.

In diesem Sinne können revolutionäre Militante, um sich als solche zu betrachten, nichts anderes tun, als sich auf dem Faden der Zeit zu bewegen, eine weitere Definition, die aus der Kommunistischen Linken (1) stammt. Dies nicht zu tun, würde für Quadrelli bedeuten, unwiderruflich zum Scheitern, zur Nutzlosigkeit und zu einem schnellen und verdienten Vergessen verurteilt zu sein.

In einer Welt, in der der Kapitalismus, um seine Vorherrschaft zu bewahren und seine Profite zu erzielen, die Produktionsbedingungen ständig erneuern und alle nationalen, geografischen, politischen, wirtschaftlichen, militärischen, technologischen und wirtschaftlichen Barrieren überwinden muss, wobei er jede Gelegenheit nutzt, um seine politisch-militärische und marktwirtschaftliche Position zu stärken, müssen die Revolutionäre mit der Zeit gehen und jeden Moment nutzen, in dem sich eine bedeutende Krise auftut.

Dazu muss man barbarisch werden, nicht um sich den neuen Lebensweisen, Organisationsformen und Kampfmethoden zu unterwerfen, die von einer neuen Klassenzusammensetzung geschaffen oder importiert wurden, oft beides, sondern um die Geschichte dort zu zwingen, wo sie nach deterministischen Interpretationen dazu neigt, sich dem sozialen Umbruch und dem radikalen Wandel in den Weg zu stellen.

In dieser Hinsicht wurde der Russe Lenin zum Barbaren: nicht aufgrund seiner nationalen, sprachlichen oder ethnischen Zugehörigkeit, sondern weil er den Moment zu nutzen wusste, die Gelegenheit, die sich ihm aufgrund der Ereignisse von 1905 und der ersten militärischen Niederlage des Zarenreichs durch die aufstrebende japanische Macht, und später, und zwar entscheidend, durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit seinen Begleiterscheinungen wie Aufständen und Desertionen unter den Soldaten, Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter in Petersburg, der Erklärung der Garnisonen derselben Stadt und den Unruhen in der bäuerlichen Welt, bot. All diese Ereignisse wurden, wie die Geschichte jener Jahre selbst, von den Menschewiki und Sozialrevolutionären unterschiedlich und im Wesentlichen konterrevolutionär angegangen.

Ein Lenin, der in den Augen der marxistischen Tradition und der Zweiten Internationale zum Barbaren wird, auch weil er es versteht, die Elemente der Subjektivität und der Zwanghaftigkeit aus der vergangenen Erfahrung des russischen Populismus wieder aufzugreifen (2). Sicherlich überholt in seinen politischen Vorstellungen, aber nicht in seiner Handlungsfähigkeit, auch wenn diese scheinbar gegen die Geschichte gerichtet ist. Ein Prozess, durch den es möglich ist, rechtzeitig die Tendenz der sozialen Bewegung zu erkennen, um die für ihre politische und, das dürfen wir nie vergessen, militärische Entwicklung erforderliche Vorgehensweise zu definieren.

Und hier kommen wir, wenn man so will, zum Kern dessen, was der genuesische Kommunist im Allgemeinen zum Ausdruck bringt: das subjektive Handeln, das in der Lage ist, sich die objektiven Bedingungen anzueignen, nicht um ihnen nachzugeben, wie es die Tradition des vulgärsten Determinismus vorsieht, sondern um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Denn darin muss die Revolution bestehen: die Gegenwart umzukehren, um sie in eine andere, fortschrittlichere Zukunft zu verwandeln. Indem man das Gaul der Geschichte so lange antreibt, bis es zusammenbricht, wie Vladimir Majakovskij es poetisch am besten zusammenfassen konnte.

  1. Es handelt sich um eine Reihe von 136 Artikeln, die unter dem Titel Sul filo del tempo (Auf dem Faden der Zeit) von Amadeo Bordiga zwischen 1949 und 1955 veröffentlicht wurden, zunächst in der Zeitung Battaglia comunista und später, nach dem Bruch innerhalb der Kommunistischen Internationale, in Il programma comunista. Alle sind derzeit auf der Website N+1 verfügbar und hier zu finden
  1. Zu Marx‘ Sympathien für die russischen Terroristen siehe E. Cinnella, L’altro Marx. Una biografia, dellaporta editori, Pisa-Cagliari 2024.
Dieser Beitrag wurde unter General veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.