Über das Kapital hinaus ist das Spiel offen

Paolo Virno beim Verteilen der Zeitung von Potere Operaio vor den FIAT Werken 1974

Massimo De Carolis

Paolo Virno – Bis zuletzt der marxistischen Idee treu geblieben, dass der Untergang des Kapitalismus als Anfang und nicht als Ende der Menschheit betrachtet werden muss, ist es ihm in seiner Forschung gelungen, die Spuren einer anderen Geschichte aufzuzeigen.

Was passiert, wenn sich der Lauf der Geschichte in sich selbst verdreht? Was passiert, wenn die Bedingungen der Möglichkeit der Geschichte – Sprache, Praxis, Natur – eines Tages aufhören, einfach nur ein ferner und unveränderlicher Hintergrund zu sein, und stattdessen zum lebendigen Stoff der Ereignisse, zum Ziel der miteinander in Konflikt stehenden historischen Kräfte und zum Einsatz in der Auseinandersetzung werden?

Ich glaube, dass dies seit den 1970er Jahren die Frage war, die das spekulative und politische Werk von Paolo Virno geleitet hat. Aus dieser Frage entstand der Anstoß, politische Konzepte wie die Arbeitermacht oder die Multitude in anthropologischer Hinsicht zu erweitern. Auf derselben Grundlage offenbarten anthropologische Begriffe wie „Sprachfähigkeit” oder „innovatives Handeln” einen ungeahnten politischen Index.

Alles beginnt also mit der Intuition, die in wenigen Zeilen im Essay über die Erinnerung an die Gegenwart zum Ausdruck kommt: „Wenn wir uns darauf einigen, die Bedingungen, die die Historizität jedes Ereignisses garantieren, als „metahistorisch” zu bezeichnen, könnte man sagen: Der Kapitalismus historisiert die Metageschichte, er bezieht sie in den prosaischen Bereich der Ereignisse ein, er eignet sie sich an”.

Was dem Kapitalismus von Anfang an die beunruhigende Neigung verlieh, die Geschichte auf sich selbst zu reduzieren, war die grundlegende Tatsache, dass nicht die Arbeit als solche – als tatsächlich vollbrachte Handlung – zur Ware gemacht wurde, sondern ihre reine Kraft, d. h. die Arbeitskraft als allgemeine menschliche Fähigkeit, zu produzieren, zu schaffen und der Welt Gestalt zu geben.

Eine solche Kraft, die untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden ist, wird in der modernen Welt gekauft und verkauft, noch bevor sie in die Tat umgesetzt wird. Was das Kapital bereichert hat, war also nie allein das Eigentum an den Früchten der Arbeit, sondern vor allem der Anspruch, bereits im Vorfeld zu entscheiden, ob und welche menschlichen Potenziale jemals wirklich verwirklicht werden könnten.

Von Anfang an latent vorhanden, blieb ein solch despotischer Anspruch lange Zeit verborgen – sowohl vor den Apologeten des Marktes als auch vor den Romantikern des Sozialismus –, da das Produktionssystem in der Praxis nur einen winzigen Bruchteil der Arbeitskräfte ausbeuten konnte. Erst in den letzten Jahrzehnten, mit dem Aufkommen des damals als „Postfordismus” bezeichneten Phänomens, kam das Wesen des modernen Kapitalismus zum Vorschein und offenbarte auf einen Schlag seine Stärke und seine Zerstörungskraft.

Dank des technologischen Fortschritts ist die Lohnarbeit für die Reproduktion der Gesellschaft marginal geworden: ein „erbärmlicher Rest”, den man theoretisch abschaffen könnte, wie Marx in seinem „Fragment über die Maschinen” prophezeite. Aber entgegen den Hoffnungen von Marx hat sich die Herrschaft des Kapitals keineswegs abgeschwächt. Sie hat sich vielmehr so weit verstärkt, dass sie das gesamte Leben umfasst: Die Biotechnologie ermöglicht es ihr nun, sich aus den verborgensten Potenzialen der Natur zu nähren; digitale Plattformen stellen ihr selbst die harmlosesten Kommunikationsfähigkeiten zur Verfügung; die Finanzwelt erlaubt es ihr, nicht nur auf die Produktion zu setzen, sondern sogar auf Marktversagen, auf Blasen und Zusammenbrüche, die den Reichtum vieler zerstören und den einiger weniger vergrößern.

Der Überfluss an Möglichkeiten kehrt sich somit in Ohnmacht um, bis zu dem Punkt, an dem die Gefahr des Endes der Geschichte aufblitzt.

Kehren wir also zur Ausgangsfrage zurück: Was kann passieren, wenn das Spiel der Geschichte so weit gegangen ist, dass es die Möglichkeit der Geschichte und die Existenz des Menschen selbst aufs Spiel setzt? In einer Zeit billiger Katastrophenstimmung mag es überraschen, aber Paolo Virnos Antwort hat dem leichtfertigen Pessimismus unserer Zeit nie nachgegeben.

Bis zuletzt der marxistischen Idee treu, dass der Untergang des Kapitalismus als Beginn und nicht als Ende der Menschheitsgeschichte betrachtet werden muss, ist es ihm in seiner Forschung gelungen, die Spuren dieser anderen Geschichte nicht nur in den höheren Dimensionen der menschlichen Erfahrung, sondern vor allem in den allgemeineren und gewöhnlicheren zu erkennen: in der täglichen Sprachpraxis, im gemeinsamen Handeln, im Witz oder in der vertrauten Freundschaft, die jede Gemeinschaft von Gleichgesinnten verbindet.

Auf ihre Weise basieren all diese Erfahrungen auf der Verflechtung von Geschichte und Metageschichte, lenken diese jedoch in die entgegengesetzte Richtung der Katastrophe, in die uns die Logik des Kapitals treibt. Das Spiel ist also offen, und in den Augen von Virno gibt es zwischen den beiden Optionen weder Kompromisse noch Vermittlungen.

Daher seine Unnachgiebigkeit gegenüber einer „Linken”, die er für nostalgisch und inkonsequent hält. Daher auch seine bis zuletzt bekräftigte Verbundenheit mit den revolutionären Bewegungen der 1970er Jahre, die, wenn auch vielleicht auf verwirrte und naive Weise, doch intuitiv erkannt hatten, dass es bei der politischen Auseinandersetzung um nichts Geringeres geht als um die Würde des Menschen im wahrsten Sinne des Wortes.

Jeder, der das Privileg hatte, an seiner Seite zu sein, weiß, dass Paolo Virno diese Würde in jeder Phase seines Lebens unter Beweis gestellt hat: von seiner militanten Tätigkeit bis zum Gefängnis, von seinem philosophischen Engagement bis zu seiner bewusst abgeklärten Haltung gegenüber der Krankheit, die ihn schließlich in den Tod riss. Eine ganz natürliche Konsequenz, die nicht angestrebt und vielleicht nicht einmal bewusst war, aber das unverkennbare Zeichen eines wahren Meisters ist.

Veröffentlicht am 9. November 2025 auf Il Manifesto, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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