
Gigi Roggero
Notizen für eine neue Avantgarde der Forschung
In einem vor einigen Jahren erschienenen Büchlein, Per la critica della libertà (DeriveApprodi, 2023), hatten wir versucht, die Prämisse des liberalen Kultes, das Totem der Moderne insgesamt, nämlich die Freiheit, zu zerlegen. Nun geht es darum, dies zu vertiefen und einen Schritt weiter zu gehen. Dazu müssen wir uns mit der Frage des Individuums auseinandersetzen. Wir wissen, dass die kapitalistische Moderne seit ihren Anfängen um dieses Subjekt herum entstanden ist, das in der spezifischen Form des Bürgers zum Ausdruck kommt. Seit Locke ist der Individium-Bürger der Individium-Eigentümer. Ohne den Einzelnen gäbe es weder Staat noch Markt, weder Wettbewerb noch Ausbeutung, weder freies Unternehmertum noch freien Verkauf von Arbeitskraft. Ohne den Einzelnen gäbe es keine kapitalistische Moderne.
Die Dialektik zwischen Kapitalismus und Sozialismus war, vereinfacht gesagt, der Gegensatz zwischen der Hegemonie des Individuums und der Hegemonie der Masse. Nun, da sie ihre Phase der Hyperrealisierung erreicht hat, hat die Moderne These und Antithese überwunden und sie in einer Aufhebung aufgelöst, der wir einen Namen geben: Massen-Individuum. Die sozialistische Utopie eines entindividualisierten und im Staat entfremdeten Individuums wird vom Kapitalismus verwirklicht, mit einem entindividualisierten und in den Automatismen der systemischen Maschine entfremdeten Individuum. Ein System, dessen Utopie darin besteht, ohne Individuen funktionieren zu können.
Hier ist die These, die wir vorschlagen: Die kapitalistische Moderne, die aus der Verherrlichung des Individuums als zentralem Subjekt hervorgegangen ist, hat genau dieses Individuum entfremdet, es in der Masse aufgelöst. Das Massen-Individuum ist die Negation des Individuums, eine Überwindung, die im Sinne Hegels einen Individualismus ohne Individualität bewahrt und verherrlicht.
Die viel gepriesene Freiheit des Massen-Individuums ist das Gegenteil von Freiheit im eigentlichen Sinne, nämlich ein Raum extremer Möglichkeiten. Hier gibt es keine Möglichkeiten, sondern nur Notwendigkeiten und Wiederholungen. Denn eine vorhersehbare, ja sogar vorausgesetzte, jedenfalls algorithmisierte Freiheit ist einfach keine Freiheit. Man muss sich nur umschauen, um dies überall zu erkennen. Zunächst einmal beim Konsum: Hinter der scheinbaren Individualisierung von Geschmack und Lebensstil verbirgt sich eine offensichtliche Standardisierung der Moden, die mit einer wahnsinnigen Beschleunigung und globalen Unmittelbarkeit durch die sozialen Netzwerke verbreitet werden. Wie oft am Tag täuschen wir Empörung über die Waren vor, die uns Amazon anbietet, und sind dann peinlich berührt über dessen Fähigkeit, genau unseren Geschmack zu treffen?
Es handelt sich nicht einfach um die Induzierung von Bedürfnissen: Das Kapital hat sich vollständig in eine beeindruckende Maschine zur Erzeugung von Begehren verwandelt. Die Individualität stirbt als Beispiel im Fußball: Die Spielstile werden unabhängig von den Spielern modularisiert, der Markt wird mit Algorithmen gestaltet, ein Spiel wird auf Statistiken reduziert. Und wenn wir uns der Musik zuwenden, was ist dann mit der Entwicklung von Talenten in Zeiten von Autotune und digitalen Synthesizern? Wollen wir dann über das Schreiben oder Übersetzen im Zeitalter von ChatGPT sprechen?
Kurz gesagt, im Prozess der Algorithmisierung der Subjektivität gibt es einerseits eine schnelle Veralterung und Ersetzbarkeit der Arbeitskräfte, andererseits stirbt der Schumpeter’sche Unternehmer. Das Massen-Individuum fürchtet künstliche Intelligenz, weil es weiß, dass es nun vollständig auf ihrem Terrain spielt, und dort ist KI definitiv intelligenter und zuverlässiger. Die weit verbreitete Depression, eine außergewöhnliche Produktionsressource für die Pflegeindustrie, ist die Entfremdung des Massen-Individuums von seiner eigenen Individualität.
Bereits vor etwa dreißig Jahren behauptete Romano Alquati, dass der Kapitalismus eher ein Geflecht von Rollen als von menschlichen Akteuren sei. Theoretisch, so sagte er, könnten erstere ohne letztere existieren. Das klang wie eine Cyberpunk-Provokation, und Romano selbst präzisierte, dass es einen „unaufgelösten Rest” gebe, der wahrscheinlich noch sehr lange bestehen bleiben würde. In diesem Rest konzentrierten sich nicht nur die vertraglichen Möglichkeiten für die Arbeitskraft, sondern auch die Aussichten auf einen Ausweg aus dem Kapitalismus. Wie unaufgelöst ist dieser Rest noch, und wie unauflösbar ist er?
Angesichts dieser schrecklichen und unvermeidlichen Frage brauchen wir keinen neuen Humanismus, um Himmels willen. Es würde nach Nostalgie für einen Menschen riechen, den dieselben Kämpfe reichlich in Frage gestellt haben. Und es würde ignorieren, dass dieser „Rest” heute, wie Rosi Braidotti uns erklärt hat, nur posthuman sein kann, d. h. ein unvermeidlich konfliktreicher Prozess der Konvergenz menschlicher und maschineller Elemente. Der von Marx in den Grundrissen hypothetisierte General Intellect – „ein automatisches System von Maschinerie […] in Bewegung gesetzt durch einen Automaten, eine sich selbst bewegende Kraft; dieser Automat besteht aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen, so dass die Arbeiter selbst nur als bewusste Glieder desselben bestimmt sind“ – hat sich tatsächlich verwirklicht, jedoch in einer Form, die dem, was einige in den 1990er Jahren erhofft hatten, genau entgegengesetzt ist. Es handelt sich nicht um eine Multitude von Singularitäten, sondern um ein modularisiertes algorithmisches Protokoll, in dem die Massen-Individuen atomisierte Knotenpunkte sind, die von digitalen Organen abhängig sind. Gesichter in der Masse, um Riesman zu paraphrasieren. Die Demokratie ist keineswegs ein Widerspruch, sondern im Gegenteil das politische System, das diesem automatischen System, einer globalen Plattform von Massen-Individuen ohne Individualität, angemessen ist. Die autoritäre Wendung ist keine Abweichung, sondern eine Konsequenz der demokratischen Tyrannei. Trump verwirklicht in Amerika jene Demokratie, die den weitsichtigen Tocqueville so sehr erschreckte.
Hier stellt sich eine vielleicht entscheidende Herausforderung: Wie kann man eine Resubjektivierung des Individuums, d. h. eine Subjektivierung des General Intellect oder sogar ein posthumanes soziales Individuum, denken? Mario Tronti sagte, dass „man von oben neu beginnen muss, weil es von unten keinen Weg mehr nach oben gibt”. Man müsse eine neue Aristokratie im ursprünglichen Sinne des Wortes aufbauen, d. h. eine Regierung der Besten. Eine Aristokratie der Resubjektivierung gegen den Massen-Bourgeois. Wenn wir uns damit wohler fühlen, nennen wir sie Avantgarde der Forschung. Auf jeden Fall sollten wir in diesen Zeiten, in denen es dringend notwendig ist, alles neu zu überdenken, keine Angst vor der Radikalität der Worte haben. Was haben wir schließlich zu verlieren, außer unseren Geräten?
Erschienen am 16. Dezember 2025 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.