
Louisa Yousfi
Der folgende Text ist das Vorwort der Ausgabe 4 der Zeitschrift ‘Nous’, die den Titel ‘Légalisons l’opium du peuple’ trägt und dieser Tage erschienen ist. Sie findet sich hier, der Text von Louisa Yousfi findet sich online ohne Abo vollständig hier im Original. Der Text wurde von Bonustracks übersetzt, weil er aus unserer Sicht einige wichtige Aspekte behandelt, auch wenn wir manche Perspektiven nicht teilen.
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„In der einen Minute ist die Revolution unmöglich, in der nächsten ist sie unvermeidlich. “
Dieser Rosa Luxemburg zugeschriebene Satz wurde oft zitiert, um die Schnelligkeit von Aufständen und ihre Logik des plötzlichen und spontanen Auftretens zu beschreiben. Vor allem aber beschreibt er den Bruchpunkt, an dem die Gesetze der Realität zerbrechen, an dem das, was man für unveränderlich hielt, sich auflöst, an dem das Unmögliche eine Lücke findet und sich dort hinein stürzt. Die Revolution ist in diesem Sinne kein organisierter Mechanismus, sondern eher ein Sprung ins Leere, ein Akt des Glaubens, eine ebenso mystische wie politische Geste. Sie ist buchstäblich … ein Wunder. Und dieses Wunder bildet den Boden für die nächsten Schritte, umgeben von der metaphysischen Energie, die die großen Bewegungen der Geschichte antreibt.
Man wird über diese Lektüre lachen. Man wird sie bestenfalls als poetische Schwärmerei, schlimmstenfalls als mystischen Unsinn abtun. Die westliche Linke, die an ihren Emanzipationsfetischen – Materialismus, Rationalismus, Laizismus, Säkularismus – festhält, hat sich zur Priesterin eines anderen Glaubens gemacht: eines Glaubens, der uns in einer Welt ohne Transzendenz, ohne Außenwelt, ohne anderen Horizont als die Repetition der Maschine gefangen hält. Erkennen wir zunächst ihre Fruchtbarkeit an: Diese Ideale haben das Joch des Klerus gebrochen, die Kämpfe von kirchlicher Vormundschaft befreit und der Wissenschaft die Kraft einer Waffe gegen die Willkür der Meinungen gegeben. Es war genau dieses Paradigma, das die europäischen Revolutionen beflügelt hat… bevor es sich durch die koloniale Logik gegen die indigenen Völker wandte, die man schnell als „abergläubisch”, „primitiv” und „historisch rückständig” bezeichnete. Unter dem Deckmantel der Neutralität hat sich die Säkularität zu einem Instrument der spirituellen Selektion, zu einer regelrechten Seelenpolizei gewandelt: Sie verteilt Legitimitätsgrade, heiligt das christliche Erbe, indem sie es als universell bezeichnet, und verbannt andere Weltanschauungen an den Rand, in die kulturelle Folklore oder in metaphysische Kindereien.
Aber die Realität ist geisterhaft. Sie ist voller Samen und Nachwirkungen, voller Impulse, die darauf warten, Gestalt anzunehmen. Dies zu leugnen, hieße, die Dialektik selbst zu leugnen: die Bewegung, durch die Geschichte entsteht, die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein will. Marx schrieb: „Die Religion ist das Opium des Volkes“. Damals musste man darunter verstehen: Opium als Betäubungsmittel, als Instrument der Macht, um die Massen in Resignation zu halten. Heute sind es die Muslime, denen man vorwirft, unter dem Einfluss dieses „Opiums“ zu stehen, die man der Entfremdung und des Obskurantismus verdächtigt. Gleichzeitig sind sie es, die sich heute am stärksten gegen den kalten Nihilismus, die allgemeine Kalkulation und die kommerzielle Moderne wehren. Im fünfmal täglich wiederholten Gebet, in der Geste einer Frau, die ihr Haar bedeckt, als würde sie ein Geheimnis schützen, im Flüstern eines Verses, der in Gefängniszellen leise rezitiert wird, halten die Muslime ihre unsichtbaren Welten am Leben. All diese Gesten zeugen davon, dass es eine höhere Souveränität als die der Regierungen gibt und dass eine Gemeinschaft nicht nur von Brot und Gesetzen lebt, sondern auch von Zeichen, Erzählungen und unsichtbaren Präsenzen. Gott ist keine Privatsache: Er ist dieser Bruch in der Geschichte, diese Kraft, die die Gedemütigten größer macht als ihre Unterdrücker. Dieses Opium – das erweckt, sich auflehnt und verbindet – wird nun von den Mächtigen verurteilt und unterdrückt.
Jede politische Kraft, die weiterhin glaubt, Gott sei eine Schwäche des Volkes, das zu den Werten der Aufklärung erzogen werden müsse, irrt sich in der Epoche. Das Denken, das aufhört, Neues zu erfinden, und nur noch die Mechanik der Welt widerspiegelt, überlässt den faschistischen Vorstellungen das Monopol der Bedeutung. Es geht nicht darum, der Wissenschaft den Rücken zu kehren oder die Priester zurückzuholen – sondern darum, diese Reduzierung der Welt auf ihre Maße abzulehnen, die metaphysische Verarmung abzulehnen, die der Westen als Fortschritt bezeichnet, und den Bereich neu zu erfinden, in dem unser Leben noch Bedeutung findet.
Wer hat Angst vor dem Volk? Vor seinen Träumen, seinen Überzeugungen, seinen Visionen? Wer zittert vor dem aufsteigenden Rauch, vor den Bildern, die durch die Augenlider der Gedemütigten huschen, vor den Träumen, die wie Schattenarmeen aufsteigen? Diese Menschen haben allen Grund zu zittern. Das Volk sieht, was man ihm zu sehen verbietet. Es spricht mit den Toten, es dialogisiert mit dem Staub, es schöpft aus dem Nichts ganze Landschaften. Aus Gaza erreichen uns jeden Tag Bilder dieser Art. Seht diesen alten Palästinenser, der inmitten eines Trümmerhaufens sitzt. Seht, wie er uns anlächelt, obwohl sein Haus unter ihm liegt, seine Lieben dort ums Leben gekommen sind und er nichts mehr hat außer diesem Lächeln und der unerschütterlichen Überzeugung, den genauen Ort seiner Lebensquelle gefunden zu haben. Sehen Sie diese Menge von Menschen aus Gaza, die direkt aus der Hölle zurückkehren und sich auf diesen Ort zu bewegen, an dem nichts mehr existiert, an dem die chemischen Waffen der schlimmsten Feinde sogar die Möglichkeit des Lebens eines Olivenbaums oder einer Mücke zerstört haben. Sehen Sie diesen Jugendlichen, der gerade gesehen hat, wie seine Mutter in den Flammen verbrannt ist, und der uns dennoch ansieht und lächelt und sagt: Ich bin glücklich, denn ich kann ohne zu zögern bezeugen, dass die Wahrheit auf unserer Seite ist und dass meine Mutter im Paradies ist. All diese Menschen sind nicht wahnsinnig geworden durch das Martyrium, das sie erdulden.
All diese Menschen sind weder durch das Leid, das sie erdulden müssen, in den Wahnsinn getrieben worden, noch sind sie wie gebrochene Tiere verdummt. Großzügig lassen sie uns eine Musik hören, die nicht von dieser Welt ist, sondern deren letztes Geheimnis ausmacht. Sie sagen uns: Wir sind die einzigen wahren Überlebenden einer Welt, die sich in einem Zustand irreversibler metaphysischer Todesschwebe befindet. Obwohl wir sterben, sind wir lebendiger als die Summe aller entfremdeten menschlichen Leben hier auf Erden, denn wir sind mit unserer letzten Wahrheit verbunden, mit ihrer exakten Note. „Wir haben sie”, so wie man von der Melodie eines Liedes spricht, das wir in einem einzigen Augenblick in seiner Gesamtheit erfassen können. Wir haben sie. Es ist ein günstiger Moment für die Erhebung, der es ermöglicht, durch alle Arten von Fassungslosigkeit und Verzweiflung hindurch, in der dunkelsten Nacht, das Licht der Wahrheit zu betrachten.
Die Mächtigen wissen, dass ein Volk, das sich erhebt, in erster Linie ein Volk ist, das betet, das sich Dinge vorstellt und sich erinnert. Genau das versucht die dekoloniale Bewegung so genau wie möglich zu erfassen: nicht nur die Wut der Völker des globalen Südens, sondern auch ihre „Visionen“, ihre Art, die Geschichte zu ahnen, die Zeichen zu deuten und die abgeschlossene Epoche des Westens abzulehnen. Sie sammelt das, was die Moderne auslöschen wollte: die Verbindung zwischen Erinnerung und Prophezeiung, zwischen Verletzung und Weitsicht, zwischen Demütigung und der Fähigkeit, über das Sichtbare hinauszusehen. Vor 20 Jahren trug einer unserer ersten Texte den Titel: Wir wollen den Mond. Ja. Seit jeher ist das, was wir wollen, was wir erwarten, was wir in uns tragen, buchstäblich ein Wunder.