
DAS LIED DES HIMMELS… VERFLUCHT DIESES LEBEN NICHT
Erbe einer schrecklichen Vergangenheit
Während ich einen Entwurf nach dem anderen für meine Rezension von Idris Robinsons „The Revolt Eclipses Whatever the World Has to Offer” schreibe, das jetzt bei Semiotext(e) als Nr. 38 in der berüchtigten Interventions-Reihe erhältlich ist, ertappe ich mich dabei, etwas zu tun, was kein Rezensent oder Schriftsteller jemals tun sollte: Ich greife halb bewusst den Meinungen anderer imaginärer Leser über Revolt vor und reagiere teilweise auf diese, selbst wenn ich mich an den tatsächlichen Leser des Buches wende – ausgehend von der Eröffnung, die Revolt zu erweitern versucht.
Nun möchte ich mich mit Robinsons einzigartigem Werk aus Politik, Agitation, Autobiografie, Philosophie und Laudatio befassen – aber es könnte nützlich sein, diesen unklaren, imaginären Leser zu erfassen und ihn nicht sofort abzutun. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, ihn in den Vordergrund zu rücken, ihn zu entlarven, ihm eine Standpauke zu halten und ihn schließlich aus unserem Blickfeld zu entfernen, denn er ist nicht nur ein anschauliches Beispiel, wenn auch ein negatives, sondern er versperrt uns auch die Sicht. Dieser imaginäre Leser hat tatsächlich einen Namen, aber den behalte ich noch ein paar Momente für mich.
Wie sieht dieser Leser aus? Er hat ein verkniffenes Gesicht; es ist ein Ausdruck, der sehr nach Vernunft [sensible im eng. Org, d.Ü] aussieht (verzeihen Sie mir die Wortwahl, aber „Sensibilität“ hat andere Konnotationen). Tatsächlich ist er ein selbstgefälliger Typ, der sich selbst als „Realisten“ im unkritischen Sinne sieht. Vielleicht ist er rechtsgerichtet. Vielleicht ist er „linksgerichtet“. Vielleicht sieht er sich selbst als eine Art „“Libertärer“ – oder als Zentrist (in diesem Fall sollten Sie aufpassen, denn diese Leute, nicht die „politischen Extremisten“, sind diejenigen, die hinausgehen und Menschen auf der Straße erschießen – lesen Sie ruhig die Manifeste … ihre Beschwerden laufen oft darauf hinaus, dass die „Gesellschaft“ nicht vernünftig genug ist). Aber das spielt keine Rolle, denn dieser Typ will ohnehin nur, dass alles so weiterläuft wie bisher. Er glaubt „mit seinem ganzen Wesen“ (nur so eine Redewendung…) an den technologischen Fortschritt. Tatsächlich glaubt er, dass Technologie, Wissenschaft, Wirtschaft usw. rein apolitische Kräfte sind, so etwas wie Naturkräfte mit ihren eigenen unantastbaren Gesetzen. Er geht immer wählen, und das gibt ihm für eine Weile ein gutes Gefühl. Die Freiheit, die er am meisten verehrt, ist einfach seine „Wahlfreiheit“. Viel weiter geht diese Vorstellung nicht.
Wenn dieser Typ, der, seien wir ehrlich, niemals Robinsons Buch oder überhaupt irgendetwas lesen wird – einen Satz wie „Die traurige Wahrheit ist, dass jeder auf unserer Seite behauptet, auf den nächsten John Brown zu warten, aber wenn er endlich vor uns erscheint, stellen wir uns stattdessen in einer Reihe auf, um ihn einstimmig zurückzuweisen“ (1) hört – zeigt er eine Art Empörung. Er beginnt zu argumentieren, ohne sich eingehend mit dem Vorschlag auseinanderzusetzen. Er bekundet sein Vertrauen in die Debatte, unabhängig vom Inhalt seiner Rede: die spektakuläre Sphäre der Meinungen. Aber was gibt es an einer poetischen These wie der folgenden, die unseren halb-realen Zuschauer (ein notwendigerweise redundanter Ausdruck) zweifellos dazu bringen wird, die Arme zu verschränken und zu schmollen, fruchtbar zu debattieren?
„Die Verwirklichung des revolutionären Projekts ist letztlich eine unausweichliche ethische Verpflichtung, die jeder von uns gegenüber den Toten und Ausgebeuteten hat.“ (2)
Poetisches Schaffen erzeugt poetisches Schaffen (3), und davon weiß unser Betrachter nichts.
Dies ist die Art von Schriftstellerei, die sich nicht in der Schwebe bloßer Meinungen aufhält. Wie die allerbeste Prosa transzendiert Revolt weit alle geringeren Bemühungen so vieler politischer Denker und Tüftler von heute. Unberührt vom Fegefeuer opportunistischer Argumentation – das sich ziemlich ewig anfühlt, solange man sich ewig daran beteiligt – agiert es auf der dualen Schiene von Denken und Handeln. (4)
Dieser imaginierte Leser ist in gewisser Weise sehr real, so leicht in der Welt zu finden – und sicherlich auch in mir selbst, denn wer ist schon völlig außerhalb seiner Reichweite aus den Tiefen des integrierten Spektakels, das „gleichzeitig konzentriert und diffus […] gelernt hat, beide Eigenschaften in größerem Maßstab einzusetzen“? (5) Wie sonst kommt er mir so leicht, wenn auch ungebeten, in den Sinn? Nun, er wurde bereits von Tiqqun, dem französischen Kollektiv, in ihrer Einführung zum Bürgerkrieg (Nr. 4 in der Intervention Series von Semiotext(e)) benannt. Sein Name ist Bloom.
Hier sind zwei erklärende Anmerkungen zum Auftreten dieser Person, Bloom, die nicht ohne Zweideutigkeiten sind.
Teilweise nach dem Vorbild von Leopold Bloom aus James Joyces Ulysses ist „Bloom“ eine konzeptuelle Persona […] [Eine] vorläufige Beschreibung: „Der letzte Mensch, der Mann auf der Straße, der Mann der Massen, der Massenmensch – so haben SIE uns Bloom dargestellt: als trauriges Produkt der Zeit der Massen, als katastrophalen Sohn des Industriezeitalters und des Endes der Zauber. Aber in diesen Bezeichnungen spüren wir auch ein Schaudern, SIE zittern vor dem unendlichen Geheimnis des gewöhnlichen Menschen. Jeder spürt, dass das Schauspiel seiner Eigenschaften reines Potenzial verbirgt: eine reine Kraft, von der wir nichts wissen sollen.“ (6)
Die bloomeske Vorstellung von Freiheit ist die Freiheit der Wahl, verstanden als methodische Abstraktion von jeder Situation. Dieses Konzept von Freiheit bildet das wirksamste Gegenmittel gegen jede reale Freiheit. Die einzige substantielle Freiheit besteht darin, bis zum Ende, bis zu dem Punkt, an dem sie verschwindet, der Linie zu folgen, entlang derer die Macht für eine bestimmte Lebensform erwächst. Dies erhöht unsere Fähigkeit, uns dann von anderen Lebensformen beeinflussen zu lassen. (7)
Ein gutes Buch – wie viele gute Gedichte, Musikstücke oder Gemälde – hat diesen virtuellen Antagonisten, diesen spirituellen Smerdyakov, einen Zuschauer, den das Buch nicht nur hervorbringt, so widersprüchlich das auch sein mag, sondern der auch zerstört, verbannt oder verwandelt werden muss, damit das Buch klar sprechen kann.
Robinsons Revolt macht sich daran, diese Subjektivität zu vernichten, die Freiheit nur vage (und, wie wir hinzufügen möchten, eher unfrei) als „Wahlfreiheit“ begreifen kann, und zwar aus dem Grund, dass keine echte Wahl getroffen wurde oder getroffen werden sollte. Diese oszillierende Vorstellung von Freiheit entlehnt ihre Form von Hegels „schlechter Unendlichkeit”, und die damit einhergehende (Nicht-)Subjektivität will nichts weiter, als unbeeindruckt von den möglichen Folgen der Wahl, dem Ursprung der Lebensform, weiterzumachen. Er ist allergisch gegen jede Neigung, die auf einen Bruch mit der gegenwärtigen Ordnung abzielt.
Für diejenigen, die mit diesem Begriff nicht vertraut sind: Form des Lebens (am ausführlichsten beschrieben in Agambens Homo Sacer) wird in der Regel dem nackten Leben gegenübergestellt. Man kann sich die Form des Lebens als ein Leben vorstellen, das durch die reale politische Existenz bestimmt wird, durch tatsächliche Freiheit im Gegensatz zu bloßer formaler Freiheit (Lenin), als ein Leben, dessen Form – seine Gewohnheiten, Neigungen, Gedanken, Kunst, Handlungen – mehr oder weniger verteidigungswürdig ist und für das man sogar sterben würde. Das nackte Leben, die biologische Existenz, ist das Gegenteil des Sinnpols (aber eng damit verbunden, wie alle Begriffe, die durch direkte Polarität miteinander verbunden sind). Das nackte Leben ist das Verhandlungsinstrument unseres heutigen Sicherheitsstaates, der sagt: „Wir schützen den Körper um jeden Preis, auch wenn der Geist stirbt.“ Und mit diesem Spruch über den Toren unserer Welt tötet der Sicherheitsstaat – das Imperium, wie man es auch nennen könnte – auch das nackte Leben mit souveräner Straffreiheit, dem die Form des Lebens notwendigerweise den Weg versperrt, selbst im Tod, dessen Erinnerung wieder Leben ist.
Idris Robinson ist ein Schriftsteller, der mit dem Erscheinen seines ersten Buches die Würde der Form des Lebens über das atomisierte nackte Leben stellt.
Wir haben die negative Figur eines widerständigen Betrachters ins Blickfeld gerückt, aber er ist nur eine treffend benannte Negativität, die durch die Hitze von Robinsons Prosa erzeugt wird: Er ist eine Fata Morgana und löst sich auf, je näher wir dem Text kommen.
Ich muss dabei unweigerlich an einen anderen Betrachter denken, Wilhelm Reichs „Kleinen Mann“. Auch der Kleine Mann ist Träger einer „reinen Potenzialität, von der wir nichts wissen sollen“. Reich wendet sich an den Kleinen Mann: „Du bist Erbe einer schrecklichen Vergangenheit. Dein Erbe ist ein brennender Diamant in deiner Hand.“ (8) Ich kann mir vorstellen, dass diese Worte jede der Schmähungen in Revolt einleiten könnten.
Ich hoffe, dass Sie, der potenzielle Leser, die überlagerten Figuren, die in Robinsons Buch positiv präsent sind, viel eindrücklicher sehen können, wenn Sie seine Seiten aufschlagen: den Aufständischen und den Schriftsteller selbst, der mutig oder auch gelassen bleibt, wie eine empfindliche Substanz, die zwischen verschiedenen Aggregatzuständen schwebt, in die er bei der geringsten Änderung der Temperatur oder des Luftdrucks übergehen könnte. In einem Moment formuliert er elegant seine schönen Übersetzungen von Platon. Im nächsten Moment hebt er einen Stein aus dem Pflaster der Großstadt auf.
Idris Robinson ist sich unserer Situation in Amerika und der amerikanisierten Welt insgesamt sehr bewusst. So viele von uns haben das Gefühl, dass es so nicht ewig weitergehen kann: die endlosen Ausweitungen und Eingriffe eines massiven Polizeistaates, die ständige, sich selbst erneuernde Finanzierung und der Profit aus der Todesmaschine in jedem nur denkbaren Land, die Kapitalakkumulation in einem Tempo und Ausmaß, wie es in keiner anderen Epoche der Weltgeschichte zuvor gesehen wurde, die Einbalsamierung des sozialen Lebens mit dem Formaldehyd der Bilder, die diese spektakuläre Akkumulation untermauern… Die hydraköpfige Aufblähung des Ganzen ist beunruhigend. Guy Debord drückt es in seinen Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels nüchterner aus:
Die Gesellschaft, deren Modernisierung das Stadium des integrierten Spektakels erreicht hat, zeichnet sich durch das Zusammenspiel von fünf Hauptmerkmalen aus: unaufhörliche technologische Erneuerung, Integration von Staat und Wirtschaft, allgemeine Geheimhaltung, unwidersprechbare Lügen, eine ewige Gegenwart. (9)
Im Bewusstsein dieser Sachlage bewegt sich Robinson wie ein echter Dichter – sei es François Villon oder Cannibal Ox – zwischen den Registern und zweifellos zwischen den aufrechten Formen der Lebenden ebenso wie denen der Toten, an die sein Buch gerichtet ist.
Ein brennender Diamant in deiner Hand
The Revolt Eclipses Whatever the World Has to Offer beginnt mit dem vielleicht kompaktesten und stilistisch brillantesten Stück des gesamten Buches, das auch als eine Art Nachwort gelesen werden kann: „Writing for the Dead”. Es endet mit einer Provokation von Stockhausen-ähnlichem Ausmaß. Nachdem die Hitze aufgeheizt wurde, werden wir mit einem der kürzesten (aber nicht weniger wirkungsvollen) Stücke des Buches konfrontiert, das sich gegen die pervertierte Subjektivität des durchschnittlichen amerikanischen Liberalen richtet:
Ist es nicht interessant, dass progressive Weiße offenbar einen direkten Draht zu schwarzen Führungspersönlichkeiten haben, während alle anderen auf der Straße nicht unter derselben wahnhaften Schizophrenie leiden? […] Es ist erwähnenswert, dass Schwarze selbst niemals von einer mythischen schwarzen Führung sprechen. Das liegt daran, dass wir nur zu gut wissen, dass alle unsere Führungspersönlichkeiten seit Martin und Malcom getötet wurden.(10)
Die folgenden Texte sind Transkriptionen von Vorträgen, die während der George-Floyd-Unruhen 2020 gehalten wurden, Thesen zu diesem Thema, gefolgt von zeitnahen – dialektischen – Erläuterungen und Klarstellungen dieser Thesen; Auf explosive, klarsichtige Analysen folgen drei Texte, die man zu unterschiedlichen Zeitpunkten als Laudatio, Panegyrik, Autobiografie bezeichnen könnte – tatsächlich als Erinnerung (Recherche oder „Suche“) im Sinne Prousts, deren Gegenstand die Auferstehung und der endlich errungene Sieg der Toten ist, dessen, was durch die Unwürdigkeit der Zeit und der Geschichte verloren gegangen ist.
Die Revolte konfrontiert uns mit der wachsenden Realität eines sich anbahnenden Bürgerkriegs oder einer Stasis. Anstatt einer isolierten Revolution, wie wir sie uns oft vorstellen und die in einer föderalen Republik wie der unseren weit entfernt zu sein scheint, fordert Robinson uns auf, auch in Begriffen der Stasis zu denken, einer besonderen Art des Bürgerkriegs (hervorgehoben in Agambens Stasis: Bürgerkrieg als politisches Paradigma), die dem amerikanischen Leben innewohnt. Was ist der Kern einer solchen Form des Kampfes? Es ist die Erinnerung und Rechtfertigung der Erinnerung an alle früheren Revolutionen, an frühere Bürgerkriege, an frühere Aufstände. Eine Revolution ist jedoch nie völlig ausgeschlossen.
Ich befürworte weder eine weitere Reihe von Jugoslawienkriegen noch das, was in Syrien geschehen ist. Dennoch müssen wir den Bürgerkrieg [Stasis] als emanzipatorische, befreiende Kraft nutzen. (11)
Der (sein) Kampf gilt nicht nur den Lebenden, sondern auch den Toten. Wir verdanken die Revolution Millionen von Sklaven, die nie auch nur eine Sekunde Freiheit erfahren haben. Was die lange Liste der Märtyrer, die während dieses Aufstands gefallen sind, von uns verlangt, ist nichts anderes als die Vollendung der Revolution. (12)
Diese Teile verweben sich miteinander und entladen sich in heftigen Angriffen: Angriffe auf beide Facetten des Polizeistaates – die Polizei selbst und ihre liberalen Gegenstücke, die nichts anderes wollen, als Proteste so gefügig und harmlos wie möglich zu halten, die friedlich Händchen halten, während sie die Massen von innen heraus spalten: „Ihr habt alle an diesen Märschen teilgenommen“, sagt Robinson, „diesen lächerlichen Märschen, bei denen es heißt: ‚Weiße nach vorne, Schwarze in die Mitte‘ – das ist nur eine andere Art, diese [rassischen] Grenzen auf raffiniertere Weise wieder einzuführen.“ (13) Revolt erstickt die Fantasie, dass solche erbärmlichen Darbietungen in irgendeiner Weise revolutionär sind.
Das historische Beispiel für den wahren „Freiheitskämpfer“ in Revolt ist nicht Abraham Lincoln. Es ist John Brown. Revolt hat eine tragische Dimension, die in der Hagiographie von Staatsmännern nicht zu finden ist.
In Revolt erwarten uns an jeder Ecke überraschende Zeilen. Hier ist nur eine, die mich persönlich überrascht hat: „Um ihre eigene Auslöschung abzuwenden, erzählt uns die weiß-supremacistische Gesellschaft, dass es nichts Verrückteres gibt als den Wunsch, mit schwarzer Hautfarbe geboren zu werden. So präsentieren sie uns Rachel Dolezal.“ (14) Dies ist ein Auszug aus „Letter to Michael Reinoehl“, einem der emotional stärksten Momente von Revolt.
Es folgt das Interview (geführt von Gerardo Muñoz), das dem Band seinen Titel gibt, gefolgt von einer epigrammatischen Explosion, die den Weg für die intensivsten theoretischen Auseinandersetzungen des Buches ebnet. Die letzten beiden Stücke sind wiederum autobiografisch geprägt. Sie handeln gleichermaßen von Kolonisatoren und Kolonisierten, Mördern und Ermordeten.
Nun – obwohl es sich hierbei um ein Buch über die schreckliche Realität rassistischer Gewalt, den libidinösen Kern Amerikas, Bürgerkrieg, aufständische Wut, die Erinnerung an die Toten, raffinierte Formen staatlicher Unterdrückung und Walter Benjamins Konzept der göttlichen Gewalt handelt – wäre es ein großer Fehler, den Sinn für Humor des Autors zu übersehen.
Liest man das fünfte Kapitel „The Poor Man’s Luigi” genau, könnte man sogar eines Tages sagen, dass Occupy Wall Street tatsächlich weit mehr Chaos und Zerstörung verursacht hat, als sich irgendjemand hätte vorstellen können: Es ärgerte Idris Robinson so sehr, dass er sich entschied, nicht an diesem mit Sternen übersäten Nichtstun teilzunehmen, sondern stattdessen ein Aufbaustudium zu absolvieren. Aber er selbst drückt es am besten aus:
Im Grunde genommen lief meine Entscheidung auf Folgendes hinaus: Ob Bewegung oder Wissenschaft, so oder so würde ich von einer Gruppe von Trust-Fund-Kids umgeben sein, die über ihre Zuwendungen lügen; aber zumindest mit einem Studium würde ich am Ende ein Diplom vorweisen können. (15)
Ein Teil dieses Stückes beschäftigt sich mit einer wenig ruhmreichen Konfrontation mit der New Yorker Polizei, in der Robinson „beschließt, ein paar Roundhouse-Kicks zu üben“ und am Ende niemanden außer sich selbst verletzt, während er „wie Crouching Tiger, Hidden Asshole aussieht“. Das bringt ihm „verdammte Handschellen im hinteren Teil eines Gefängniswagens“ ein. (16) Und Sie werden nicht glauben, mit wem er im Gefängnis landet. Ich würde es Ihnen gerne verraten, aber ich fürchte, das würde zu viel verraten. Stattdessen sage ich Ihnen etwas anderes, und ich werde es nur einmal sagen: Besorgen Sie sich das Buch und lesen Sie es. Seine Dynamik, seine Erzählkunst und sein theoretisches Fundament bilden eine seltene Dreierkonstellation.
Strukturell erinnert mich Revolt ein wenig an die jüngste (Verso, 2024) Ausgabe von Schriften von und über W. I. Lenin, herausgegeben von Tamara Deutscher, Not By Politics Alone: The Other Lenin – allerdings nur, wenn dieser schöne Band mit den flammendsten, kritisch gnadenlosen – d. h. politischen – Kapiteln aus Staat und Revolution und Was tun? durchsetzt wäre.
Robinson beschäftigt sich mit denselben grundlegenden Fragen des revolutionären Denkens und Handelns im Kontext Amerikas, das als entfesselter, biopolitischer Managerstaat verstanden wird. Die zentrale Frage, mit der man sich hier auseinandersetzen muss, ist die der Katārgesis. Robinson analysiert und trennt diesen griechischen Begriff, der mit „destituierender Macht“ korrespondiert, in die beiden Bedeutungen Deaktivierung und Zerstörung. Die erstgenannte Bedeutung (und Übersetzung) von Katārgesis (Deaktivierung) findet sich vor allem in den Werken von Agamben. Die zweite Bedeutung (und Übersetzung), Zerstörung, findet sich – und das ist mein Vergleich – bei Lenin. Schlagen Sie Ihr Exemplar von Staat und Revolution auf. Lenin betont immer wieder, dass als Voraussetzung für das Absterben eines implizit sekundären Staates – d. h. der Diktatur des Proletariats, in der das Problem der konstituierenden Macht auftritt – der primäre Staat oder die derzeitige Ordnung auf die eine oder andere Weise zerschlagen, gebrochen, zerstört (und nicht einfach deaktiviert) werden muss. Robinson behandelt dieses Problem in der zweiten Hälfte von Revolt mit beeindruckender analytischer Geschicklichkeit.
Ich nenne es ein Problem. Ich beziehe mich dabei auf den Widerspruch zwischen den beiden Machtkonzepten, die Robinson untersucht: konstituierende Macht und destituierende Macht (wobei letztere in passive und aktive Formen der Destitution unterteilt wird). Dieser (theoretische) Teil von Revolt ist so prägnant formuliert, dass ich deswegen schlaflose Nächte hatte. Es ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich mit revolutionärer Politik beschäftigen und ein intellektuelles Gewissen haben. (Für eine doppelt anstrengende Nacht lesen Sie Antonio Negris einleitenden Essay zu The State and Revolution [Verso Books Edition, 2024] über konstituierende und konstituierte Macht neben Robinsons Analyse der destituierenden Macht sowie seine großartige „Einführung zu Mario Trontis ‚On Destituent Power‘“).
The Revolt Eclipses Whatever the World Has to Offer ist ein starker Nachfolger anderer Werke von Semiotext(e), wie Der kommende Aufstand, aber es steht für sich selbst als einzigartiges politisches, philosophisches und autobiografisches Dokument. Es endet in einer Dur-Tonart mit einem Aufruf zur universellen Solidarität. Neben Robinsons Worten höre ich auch die von Rimbaud, unabhängig davon, ob er tatsächlich an den Ereignissen von 1871 teilgenommen hat oder nicht:
Wann werden wir jenseits von Bergen und Flüssen die Geburt neuer Unternehmungen, neuer Weisheit, den Abgang von Tyrannen und Dämonen, das Ende des Aberglaubens begrüßen und als Erste auf der ganzen Erde Weihnachten feiern!
Das Lied des Himmels, der Fortschritt der Nationen! Sklaven, verflucht dieses Leben nicht.
Fussnoten
Idris Robinson, The Revolt Eclipses Whatever the World Has to Offer (Semiotext(e), 2025), 97.
Ebenda, 57, 91.
(3) Ich entnehme diesen Ausdruck Agambens Werken im Allgemeinen – poetisches Schaffen beschränkt sich nicht auf Lyrik.
(4) Die Unterscheidung zwischen der formalen Sphäre der (bürgerlich-parlamentarischen) Meinung und der tatsächlichen Einheit von Handeln und Denken wird von Alain Badiou in seinem Essay „Against ‘Political Philosophy’“ in Metapolitics (Verso Books, 2005) ausführlich dargelegt.
(5) Guy Debord, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, übersetzt von Malcom Imrie (Verso Books, 1990), 9.
(6)Tiqqun, Einführung in den Bürgerkrieg, Endnote 2, übersetzt von Alexander R. Galloway und Jason E. Smith (Semiotext(e), 2010), 227.
(7) Ebd., 25.
(8) Wilhelm Reich, Listen, Little Man! (Pelican Books, 1975), 11.
(9) Debord, Kommentare, 11–12.
(10) Robinson, 27–28.
(11) Ebenda, 57.
(12) Ebenda, 58.
(13) Ebenda, 39.
(14) Ebenda, 105.
(15) Ebenda, 114.
(16) Ebenda, 116–117.
Dieser Text erschien im Original am 2. Dezember 2025 hier und wurde von Bonustracks ins Deutsche übertragen. Das Buch ‘The Revolt Eclipses Whatever the World Has to Offer’ wurde im November 2025 hier veröffentlicht. In der Sunzi Bingfa wurden schon folgende Texte von Idris Robinson auf Deutsch veröffentlicht:
How It Might Should Be Done
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2020/08/24/how-it-might-should-be-done/
Postskriptum: Über den Schmerz
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/06/26/postskriptum-ueber-den-schmerz/
„Die Revolte stellt alles in den Schatten, was die Welt zu bieten hat“ – Ein Gespräch mit Gerardo Muñoz
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/06/14/die-revolte-stellt-alles-in-den-schatten-was-die-welt-zu-bieten-hat/