Es droht mehr als nur Chaos am Horizont

n+1

Das Telemeeting am Dienstagabend begann mit einem Kommentar zum Artikel „Der digitale Zwilling“, der in der demnächst erscheinenden Ausgabe 56 unserer Zeitschrift veröffentlicht wird.

Der Unterschied zwischen einem klassisch verstandenen Modell und dem digitalen Zwilling liegt darin, dass ersterer statisch ist, während letzterer dank der ständigen Rückkopplung zwischen der physischen und der digitalen Welt dynamisch ist. Eines der ersten dynamischen Modelle, das mit Hilfe des Computers entwickelt wurde, ist Mondo 3 von Jay Forrester, ein Projekt, das vom Club of Rome in Auftrag gegeben wurde und zur Ausarbeitung des Berichts über die Grenzen der Entwicklung (1972) diente.

Die Digitalisierung der Welt, die durch die zunehmende Rechenleistung von Computern und die enorme Menge an Daten realisiert wird, die von überall verstreuten Sensoren gesammelt werden (Big Data), ermöglicht die Entwicklung digitaler Modelle von beliebigen Objekten oder Prozessen. Der virtuelle Zwilling verändert sich ständig auf der Grundlage von Inputs aus der physischen Realität, an die anschließend Outputs gesendet werden; durch die Verbindung mit Systemen der künstlichen Intelligenz kann er wiederkehrende Muster erkennen, die Menschen nicht erkennen können. Ein Formel-1-Auto ist mit Hunderten von Sensoren ausgestattet, deren Signale an die Kontrollzentren gesendet werden und die Erstellung eines digitalen Modells ermöglichen. Dieses Modell überwacht den Zustand des Wagens und vergleicht ihn mit den Daten früherer Rennen, so dass sich vorhersagen lässt, ob bestimmte Signale statistisch gesehen zu Ausfällen führen können. Die Europäische Kommission entwickelt Destination Earth (link.d.Ü.) einen „digitalen Zwilling“ des Planeten Erde, mit dem Ziel, die sogenannte „Klimakrise“ zu verhindern. Daten sind im Informationszeitalter ein kostbares Gut, das die Staaten wohl kaum in einem Pool zusammenfassen werden.

General Electric war eines der ersten großen Unternehmen, das ein digitales Modell von Turbinen einführte, um deren Zustand ständig zu kontrollieren. Die kontinuierliche Ware, von der Jeremy Rifkin in seinem Essay Das Zeitalter des Zugangs spricht. Die New Economy Revolution schafft eine dauerhafte Verbindung zwischen Verkäufer und Käufer. Der digitale Zwilling ist also ein Teil einer viel umfassenderen Revolution, die die kapitalistische Gesellschaft von Grund auf untergräbt.

Anschließend gingen die Teilnehmer auf die militärische Lage in Syrien ein, wo das Regime von Bashar al-Assad plötzlich gestürzt wurde. Nach den vorliegenden Informationen hat die große sunnitische Formation unter der Führung von Tahrir al-Scham (HTS) Damaskus eingenommen, ohne auf Widerstand seitens der Armee zu stoßen. Diese Milizen werden hauptsächlich von der Türkei, aber auch von einigen Golfstaaten unterstützt. Sie sind Stellvertreter, aber wie alle „ Mittelsmänner “ könnten sie sich selbständig machen.

Laut Britannica Online ist ein Stellvertreterkrieg „ein militärischer Konflikt, bei dem eine oder mehrere dritte Parteien direkt oder indirekt einen oder mehrere staatliche oder nichtstaatliche Kombattanten in dem Versuch unterstützen, den Ausgang des Konflikts zu beeinflussen und dadurch ihre eigenen strategischen Interessen zu fördern oder die des Gegners zu schwächen. Dritte Parteien in einem Stellvertreterkrieg nehmen, wenn überhaupt, nicht in nennenswertem Umfang an den eigentlichen Kampfhandlungen teil. Stellvertreterkriege ermöglichen es Großmächten, eine direkte Konfrontation miteinander zu vermeiden, während sie gleichzeitig um Einfluss und Ressourcen konkurrieren“.

Im Nahen Osten gibt es eine unentwirrbare Verflechtung von Stellvertreterkriegen. Historisch gesehen werden Partisanen für imperialistische Interessen benutzt, egal ob es um Geld oder Glauben geht („Marxismus oder Partisanentum“, 1949). Die Israelis nutzen die chaotische Situation in Syrien aus, um die Golanhöhen einzunehmen und das, was von den militärischen Stellungen der syrischen Armee übrig geblieben ist, zu bombardieren. Die syrischen Kurden, die von den USA unterstützt werden, laufen Gefahr, zwischen der türkischen Armee im Norden und den pro-türkischen Milizen im Süden eingekeilt zu werden. Die Situation in Syrien nach Assad ist keine Lösung für den Bürgerkrieg, der mit dem Arabischen Frühling begann, sondern ein weiteres Kapitel im laufenden Weltkrieg. Man könnte sagen, dass Syrien heute die Welt ist, mit Bündnissen mit variabler Geometrie und sich überlagernden imperialistischen Interessen, die sich auf dem Territorium gegenüberstehen.

Die Krise des Zentrums des Kapitalismus, d.h. der Vereinigten Staaten, wirkt sich auf den Rest der Welt aus. Die empfindlichen Gleichgewichte verschieben sich, diejenigen, die davon profitieren können, stürzen diejenigen ins Chaos, die es nicht können.

In Rumänien gewann ein pro-russischer Kandidat die Wahlen, und das Verfassungsgericht erklärte die erste Wahlrunde für ungültig. In Georgien gibt es ein andauerndes Tauziehen zwischen dem Westen und Russland, das die Widerstandsfähigkeit des politischen Systems auf die Probe stellt. In Südkorea gab es einen Putschversuch. Frankreich hat mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen, die sich rasch in eine politische Krise verwandelte, und dasselbe geschieht in Deutschland, das mit Streiks und Regierungskrisen zu kämpfen hat. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, diese Situationen werden sich nur verallgemeinern.

Auf der einen Seite ist das System nicht in der Lage, sich als solches zu replizieren, auf der anderen Seite steht der Gesellschaft ein enormes Potenzial zur Verfügung, zumindest vom technologischen und industriellen Standpunkt aus. In dem Artikel „Intelligenz in Zeiten von Big Data“ haben wir das Beispiel von WorkIt angeführt, einer von IBM (Watson) entwickelten Anwendung, an deren Realisierung die Mitarbeiter von Walmart, dem weltweit größten Arbeitgeber, beteiligt waren. Diese Anwendung ermöglicht es den Arbeitnehmern, auf Gewerkschaftsinhalte zuzugreifen, Antworten auf häufig gestellte Fragen zu finden und miteinander in Kontakt zu treten. Diese Umwälzungen, die sich in allen Bereichen vollziehen, müssen aufmerksam verfolgt werden: Der Staat verliert an Kraft, das System zerfällt, aber es herrscht nicht nur Chaos, sondern es gibt auch Anzeichen für eine zukünftige soziale Organisation. Das System ist zunehmend integriert, und die Proletarier können die Produktionsmittel gegen die Kapitalisten selbst einsetzen: Die Arbeiter von UPS waren die ersten, die gezeigt haben, dass die Verbindung von territorialer Koordination und modernen Werkzeugen (Mobiltelefone, Internet, GPS-Navigationsgeräte usw.) einen Unterschied machen kann. Occupy Wall Street hat den Freedom Tower gebaut, ein Sende- und Empfangsgerät, das auf einem Mesh-Netzwerk basierte. All dies sind Essays über die Organisation der Zukunft.

Heute investieren Finanziers aus dem Silicon Valley Milliarden von Dollar in die Entwicklung von „bewussten“ Maschinen. Im Zuge der Entwicklung von Systemen der künstlichen Intelligenz sind in letzter Zeit viele Ideologien entstanden: Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Effektiver Altruismus (EA) und Longtermismus. Es gibt Projekte, die darauf abzielen, Humanoide zu bauen, die ununterbrochen arbeiten, ohne krank zu werden und ohne zu streiken. Vor einiger Zeit schlugen einige Entwickler von großen Sprachmodellen (LLM) vor, das Training von KI-Systemen (wie GPT-4) für mindestens sechs Monate auszusetzen, da sie über die sozialen Auswirkungen besorgt waren, die die Entwicklung haben würde. Wieder einmal wird die Maschine dem Menschen entgegengesetzt; dieser Ansatz ist ein Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Gegen diejenigen, die meinen, der Mensch unterscheide sich von der Materie, aus der das übrige Universum besteht, sei auf das verwiesen, was Bordiga sagte: „Wir brauchen das Rätsel nicht zu lösen, ob die denkende Spezies oder die passive Materie die Oberhand gewinnen soll: beide sind aktiv, beide arbeiten zusammen, sie sind integraler Bestandteil eines einzigen Systems. Das alte Rätsel hat sich in einer neuen und überlegenen Konzeption aufgelöst“ (Tagung in Florenz, 20. März 1960). Die Angst vor einer möglichen Autonomisierung der Maschine ist darauf zurückzuführen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die tote Arbeit über die lebendige Arbeit dominiert. Die sozialen Netzwerke kennen beispielsweise unsere Vorlieben besser als unsere Familie oder unsere Freunde, und deshalb beanspruchen die meisten Nutzer das Recht auf Privatsphäre. Wir verteidigen nicht das Eigentum, in welcher Form auch immer, wir fordern vielmehr seine Überwindung. Die nächste Revolution, die kommunistische Revolution, wird den Gegensatz zwischen Mensch und Maschine aufheben, wie den zwischen Mensch und Mensch.

Heute sind uns Maschinen einfach deshalb fremd, weil wir in einer entfremdeten Gesellschaft leben. Da sie „intelligent“ geworden sind, stellen sie eine Gefahr für die Spezies dar, wenn sie in der Kriegsführung eingesetzt werden. Algorithmen kämpfen bereits gegen andere Algorithmen, kybernetische Systeme prallen ohne Rücksicht auf „Kollateralschäden“ aufeinander. Die Filmindustrie hat mehrere Filme über die Vermischung von Mensch und Maschine und ihre katastrophalen Folgen produziert (Matrix, Terminator usw.). Wie viel Science-Fiction-Kino ist unwirklich und wie viel ist eine Beschreibung der Realität?

Veröffentlicht am 10. Dezember 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Es droht mehr als nur Chaos am Horizont

„Die Zukunft Syriens wird von den Syrern und niemandem sonst entschieden“.

Interview mit Leïla Al-Shami

Leïla al-Shami und Robin Yassin-Kassab sind die Autoren von ‘Burning Country, in the heart of the Syrian revolution’ (1), einem wichtigen Buch, in dem sie über die ersten Jahre der Revolution und die Fülle der Erfahrungen mit der Selbstorganisation der Bevölkerung berichteten. Wir hatten sie 2016 und 2019 interviewt. Das folgende Interview ist kein eigenständiges Interview, sondern mehr eine Art Addendum zu den Vorherigen, das Sie einfach noch einmal lesen müssen, um zu verstehen, worüber die Autoren sprechen. (Vorwort Lundi Matin)

Frage Lundi Matin: Als wir Sie 2019 interviewten, sagten Sie, dass das syrische Volk mit mehreren Faschismen konfrontiert sei, dem des Regimes natürlich, aber auch dem einiger islamistischer Rebellengruppen wie Hayat Tahrir al-cham (HTC). Glauben Sie, dass sich HTC seitdem in irgendeiner Weise verändert hat, zumindest strategisch?

Antwort Leïla Al-Shami: HTC hat sich im Laufe der Jahre ziemlich dramatisch verändert. Es hat sich von seinen Wurzeln in Al-Qaida, die eine transnationale dschihadistische Organisation war, entfernt und sich in ein syrisch-nationalistisches islamistisches Projekt verwandelt. Joulani scheint ein Pragmatiker zu sein. Er hat viel Erfahrung mit dem Aufbau von Regierungsinstitutionen, da er Idlib seit 2017 durch die ‘Syrische Heilsregierung’ regiert. Die Regierung in Idlib bestand aus zivilen Technokraten, die vom Schura-Rat ernannt wurden, anstatt demokratisch gewählt zu werden, und es gab keine Frauen in Führungspositionen. Sie waren für die Erbringung von Dienstleistungen, die Verteilung humanitärer Hilfe in Abstimmung mit internationalen Organisationen und die Gewährleistung der Sicherheit zuständig. Sie taten dies unter sehr schwierigen Bedingungen und Idlib und seine Wirtschaft waren stabiler als anderswo in Syrien, so dass sie eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung genossen. Dennoch blieben sie eine autokratische und autoritäre Kraft. Während die Menschen in Idlib mehr Freiheiten hatten als in den vom Regime kontrollierten Gebieten, erlebten wir in Idlib im Laufe der Jahre immer wieder Proteste gegen das HTS-Regime, weil Oppositionelle zum Schweigen gebracht, Kritiker inhaftiert und über Misshandlungen in den Gefängnissen berichtet wurde.

Seit dem Sturz Assads bemüht sich Jolani offensichtlich darum, sich eine Legitimität im Volk und auf internationaler Ebene zu verschaffen. Er hat den Minderheiten – Gemeinschaften (sowohl religiösen Minderheiten als auch Kurden) die Hand gereicht, um sie hinsichtlich ihrer Zukunft im Land zu beruhigen. Er erließ Dekrete, die jegliche Einmischung in die Kleiderordnung von Frauen untersagten. Viele Syrer fühlen sich durch diese Maßnahmen beruhigt, aber viele sind auch vorsichtig. Man darf nicht vergessen, dass es sich um eine Übergangsregierung handelt. Die Frage ist nun, inwieweit andere Akteure, einschließlich progressiver und demokratischer Kräfte, an der Zukunft Syriens beteiligt sein werden. Und inwieweit eine weitere Volksbewegung von unten entstehen wird, um die Machthaber in die Pflicht zu nehmen und weitere Fortschritte in Richtung der ursprünglichen Ziele der Revolution zu machen.

Lundi Matin: Wie erklären Sie sich den plötzlichen Sturz des Assad-Regimes? Einige sehen darin den Sieg einer bewaffneten und organisierten Miliz, die von der Türkei unterstützt wird und von der Schwächung der Hisbollah profitiert hat, andere sehen darin die Fortsetzung und Reaktivierung des revolutionären Prozesses und betonen die Bedeutung der lokalen und volksnahen Erhebungen für diesen Sieg. Erleben wir einen Regimewechsel oder die Passage einer entscheidenden Etappe in einem längeren revolutionären Prozess? 

Leïla Al-Shami: Ich sehe beides. Der Sturz des Regimes war ein entscheidendes Ereignis. Er markiert das Ende einer schrecklichen Ära der Brutalität in der Geschichte Syriens. Er bietet auch eine großartige Gelegenheit, den zivilen Aktivismus wiederzubeleben, und kann zur Fortsetzung des revolutionären Prozesses führen. Heute strömen Syrer aus der ganzen Welt nach Syrien zurück. Viele dieser Revolutionäre haben ihre Träume nie aufgegeben und auch viel aus ihrer Erfahrung als Exilorganisation und dem Kontakt mit verschiedenen politischen Kulturen gelernt. Bereits jetzt entstehen viele Initiativen, es gibt nun Möglichkeiten und Hoffnung, die die Syrer seit vielen Jahren nicht mehr hatten, trotz der vielen Herausforderungen, die wir noch zu bewältigen haben.

Lundi Matin: Vor einigen Jahren haben Sie einen wichtigen Text ‘Der Antiimperialismus der Dummköpfe’ (2) geschrieben, in dem Sie das Scheitern einer gewissen Linken anprangerten, die hartnäckig versuchte, nichts von der syrischen Revolution zu verstehen, indem sie sie in ihre verstaubten und daneben liegenden Kategorien übersetzen wollte. Dennoch stellt sich heute die Frage, in welchem geopolitischen Strudel sich Syrien befindet und wie sich dies auf die aktuelle und künftige politische Situation auswirken könnte.

Leïla Al-Shami: Meine größte Sorge für die Zukunft Syriens ist die Einmischung ausländischer Staaten, insbesondere Israels und der Türkei. Diese Staaten stellen eine enorme Bedrohung für die Zukunft des Landes dar. Aber die Syrer werden den Imperialismus weiterhin bekämpfen, so wie sie in den letzten Jahren den Imperialismus Russlands und des Iran bekämpft haben. Vielleicht werden sie jetzt, da die Imperialismen, denen sie gegenüberstehen, bei einem Teil der „antiimperialistischen“ Linken nicht beliebt sind, mehr Unterstützung für ihren Kampf erhalten. Beim Kampf gegen den Imperialismus sollten wir die Syrer vor Ort jedoch nicht ausblenden. Wir sollten ihnen zuhören und von ihnen lernen. Geopolitik ist nur ein Teil der Geschichte. Letztendlich wird die Zukunft Syriens von den Syrern und niemandem sonst entschieden. Das haben uns die letzten zwei Wochen gelehrt. Deshalb müssen die Menschen mit den fortschrittlichen und demokratischen Kräften vor Ort solidarisch sein, um sicherzustellen, dass sie mehr Macht haben und ein Gegengewicht zu den vielen konterrevolutionären Kräften bilden können, mit denen wir konfrontiert sind.

Lundi Matin: In den 13 Jahren, die uns vom Beginn der syrischen Revolution trennen, sind zahlreiche politische Experimente aufeinander gefolgt, haben sich bekämpft und sind ineinander verwoben. Da sind zunächst die lokalen Räte und ihre Koordinationskomitees, die sich angesichts der Notwendigkeit, die Repressionen des Regimes und ihre Aufgabe oder Flucht aus ganzen Landesteilen zu überleben, auf horizontale Weise selbst organisieren. Es gibt Rojava, das versucht, den von der PKK befürworteten, aber auch von ihr kontrollierten Kommunalismus zu organisieren. Und es gibt natürlich den Islamischen Staat, also eine faschistische Theokratie. Jedes dieser Experimente, ob vernichtet oder nur mit Mühe am Leben erhalten, enthält ein Imaginäres, ein Regime des Begehrens und eine Interpretation der Welt, die zwangsläufig überlebt haben. Genauso wie die Pariser Kommune 150 Jahre später noch immer die Vorstellungswelt beeinflusst. Was ist Ihrer Meinung nach davon heute in Syrien übrig geblieben? Halten Sie einige davon für reaktivierbar und wünschenswert, oder erleben wir eine völlig neue Situation?

Leïla Al-Shami: Wir befinden uns erst in den ersten Tagen des Zusammenbruchs des Regimes, aber die Syrer organisieren sich bereits. Die revolutionäre Erfahrung mag zerschlagen worden sein, aber sie ist nie gestorben. Sie lebt in den Syrern weiter, die sie erlebt haben, und sie hat uns für immer verändert. Die Erfahrungen der lokalen Koordinationskomitees und der lokalen Räte in ganz Syrien sind lehrreich. Dasselbe gilt für die Erfahrungen mit den von den Kurden gehaltenen Gebieten in Nordsyrien, die bis heute fortgesetzt wurden, obwohl sie nun bedroht sind. Ich denke, wir werden in den kommenden Monaten sehen, wie die Syrer dieses Erbe wiederbeleben und fortführen, die Frage ist nur, ob die Welt sie dabei unterstützen wird.

Dieser Beitrag wurde am 16.12.2024 auf Lundi Matin veröffentlicht und von Bonustracks ins Deutsche übersetzt. 

Anmerkungen der deutschen Übersetzung

  1. Das bezeichnenderweise bis heute keinen deutschen Verlag gefunden hat
  2. Deutsch hier zu finden https://de.liberpedia.org/Leila_Al-Shami/Der_%E2%80%9AAntiimperialismus%E2%80%98_der_Idioten
  3. Weitere Übersetzungen von Leïla Al-Shami ins Deutsche fanden sich in der ‘Sunzi Bingfa’:  Assads Pyrrhussieg (2021) 

https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/07/26/assads-pyrrhussieg/

Der Aufbau einer alternativen Zukunft in der Gegenwart: Das Beispiel der syrischen Kommunen
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/03/22/der-aufbau-einer-alternativen-zukunft-in-der-gegenwart-das-beispiel-der-syrischen-kommunen/
Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für „Die Zukunft Syriens wird von den Syrern und niemandem sonst entschieden“.

Eine kurze Anmerkung zu Militanz, Politik und Desertion

Nigredo

1. Nichts ist in militanten Kreisen üblicher als die Kritik an der Militanz und die Überlegungen zur „Krise der Militanz“. Man könnte fast sagen, dass das ernste oder untröstliche Eingeständnis der Notwendigkeit, die Identität des Militanten zu überwinden, für den Militanten selbst eine obligatorische Hommage an den Zeitgeist darstellt. Wie in allen anderen Bereichen gibt es auch hier eine krasse Alternative zwischen der dialektischen Abhängigkeit des Kritikers von seinem Gegenstand und der positiven Andersartigkeit der Abgrenzung. Das Sichtbarkeitsfeld der politischen Selbstverwertung zu verlassen, bedeutet, den Plan zu ändern, anderswo zu sein, eine andere Sprache mit anderen Gesprächspartnern zu sprechen. Vom radikalen Bewusstsein der Hinzufügung also zur Erfindung von neuen Formen.

2. Die einzigen Anlässe, bei denen es sinnvoll ist, sich mit den Phänomenen der zeitgenössischen „radikalen“ Politik und der Welt der „Bewegung“ zu befassen, sind diejenigen, bei denen es notwendig ist, ihre objektiven Solidarisierungen – durch Diskurs, Praxis oder Verhalten – in Bezug auf die Umstrukturierungs- und Modernisierungsprozesse der imperialen Macht aufzudecken. Das Ziel der Offenlegung liegt in diesem Fall in den Prozessen der Regierungsmodernisierung selbst als allgemeine Dynamik, die berücksichtigt werden muss. Keinesfalls aber sind die politischen Subjekte, um die es in diesen Passagen geht – Passagen, die ohne Abstriche aufgereiht und analysiert werden müssen – ein anzusprechendes Zielpublikum. Eine Kontroverse wäre immer noch eine Konfrontation, die man weiterführen sollte. Dies schließt keineswegs aus, den Stand der Technik und die Kräfte auf dem Gebiet konkret zu berücksichtigen und strategisch zu versuchen, sich in Bezug auf sie zu positionieren. Sich dieses Diagramm der Kräfte anzueignen bedeutet, seitwärts zu agieren oder sich zurückzuziehen, um einen klareren Standpunkt einzunehmen, perspektivisch zu argumentieren und sich Luft zu verschaffen: nicht die Überreste der politischen Formen anzugreifen, die wir ablegen wollen, sondern ihnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen, einen anderen Plan zu entwerfen, der in der Lage ist, die Regeln eines Spiels, das vollständig ausgereizt ist, völlig umzuwerfen.

„[…] Ich denke, man muss auch sagen, dass der Widerstand und die laufenden Kämpfe nicht mehr die gleiche Form haben. Es geht nicht mehr darum, an diesen Machtspielen teilzunehmen, damit die eigene Freiheit oder die eigenen Rechte maximal respektiert werden; diese Spiele werden nicht mehr akzeptiert. Es geht nicht mehr um Auseinandersetzungen innerhalb der Spiele, sondern um den Widerstand gegen das Spiel und die Ablehnung des Spiels selbst. Das ist es, was eine ganze Reihe von Kämpfen und Schlachten charakterisiert“. (Foucault)

2b Um jegliches Missverständnis auszuräumen: Die Idee, dass man es aus Gründen der Zweckmäßigkeit vermeiden sollte, Dinge klar auszusprechen, ist nicht nur furchtbar feige, sondern spiegelt immer noch voll und ganz denselben Sumpf der Subalternität gegenüber den Logiken der Repräsentation und des politischen Wettbewerbs wider. Die Schärfe einer Aussage abzustumpfen, um nicht zu stören, bedeutet, dass man immer noch dieselbe Sphäre des Dialogs, dieselben Gesprächspartner und dieselbe abgestandene Luft akzeptiert. Zu glauben, dass diese niedrige Taktik einer Strategie gleicht und dass ein kleines Spiel politischer Mimesis dazu dient, Verbündete, Sympathisanten oder auch nur Zuhörer für die eigene Botschaft zu gewinnen, ist eine Illusion, die kurzatmig ist. Nur wenn man die Aussagen, die einen ethisch qualifizierten Unterschied markieren, genau erklärt, kann man die Freunde treffen, die man kennen sollte, die Unzufriedenen, die Ungeduldigen, diejenigen, die keine Geschichten erzählen wollen. Zu sagen, dass der politische Ökologismus heute ein staatlicher Diskurs ist, ist kein Weg, um seinen Ressentiments Luft zu machen, sondern um die Sensibilität derjenigen anzusprechen, die die Natur des Problems klar sehen und sich entsprechend bewegen wollen.

3. Reformismus und Radikalismus verfallen gemeinsam. Diese Tendenzen sind kaum mehr als zwei Markierungen ein und derselben Sackgasse, und sie sind perfekt miteinander verwoben: die eine kann nicht gegen die andere ausgespielt werden, ohne das gesamte Paar zu konsolidieren, wie es bei den Apparaten immer der Fall ist. Der moralischen Kritik am politischen Opportunismus der verschiedenen Akronyme oder Kollektive der „Bewegung“ im Namen einer Unnachgiebigkeit bei der Reproduktion derselben symbolischen Praktiken oder eines sich selbst zerstörenden Purismus steht die listige Zurschaustellung einer taktischen Skrupellosigkeit ohne einen Funken Perspektive gegenüber. Beide Wege sind nicht nur holprig und Sackgassen, sondern so sehr von Fehltritten geprägt, dass sie die Fluchtwege verdecken. Erst war die Bewegung da/und jetzt?

4. Den öffentlichen Raum der Politik verlassen, um was zu tun? Versuchen wir nicht, der Frage auszuweichen. Fassen wir diese Aufgabe, die mit Begriffen wie Sezession, Desertion oder Trennung bezeichnet wird, in vier einfachen Punkten zusammen: eine Position vertiefen, Verbindungen knüpfen, eine Kohärenz lokalisieren, zur offensiven Kraft von Momenten der Revolte beitragen. Diese vier Punkte lassen sich auch unter dem Begriff Verschwörung oder Parteiaufbau zusammenfassen. Die Partei ist keine Struktur, kein Subjekt, kein formaler und öffentlich zugänglicher Apparat, sondern eine unterirdische Koordination von sensiblen Formen und Ressourcen, die auf der konspirativen Ebene zusammenlaufen. Die historische Partei, die Partei der sensiblen Elemente, die zur strategischen Intuition werden. Die hypertrophe Ausdehnung des biopolitischen Gefüges über alle Sphären und seine Einfaltung in sich selbst bedeutet, dass die Macht ein Umfeld und der Widerstand ein Unbekannter ist. Sich an der Spitze künftiger Revolutionen als theoretisches Gehirn, als politischer Brückenkopf oder als aufgeklärte Vorhut zu verstehen, ist schlichtweg lächerlich: Die Aufgabe der Revolutionäre in dieser Epoche ist es, Ideen in Umlauf zu bringen, Begegnungen vorzubereiten und ihre strategische Kombination zu ermöglichen. Nigredo verweist auf die erste, negative Phase dieser Metamorphose.

„Das Proletariat besitzt nun in seiner Existenz selbst den unmittelbaren Inhalt seiner Aufgaben und braucht keine formale Partei mehr. Es kann nur ’sein‘ als seine historische Partei“ (Bériou)

5. Die Vertiefung einer Position. Der Raum des Denkens. Auf sämtlichen glühenden Brennpunkten der Gegenwart sehen wir eine allgemeine Umwälzung etablierter Formen und einen Verfall aller stabilen Koordinaten. Es gibt keine Kompasse und keine vorgezeichneten Wege, vor allem nicht in den Rezepten der revolutionären Politik. Man muss mit dem Vokabular beginnen. Die Verwirrung der Sprache führt dazu, dass, wie so oft, Kategorien, die in früheren Zyklen eine Bestimmung des Konfliktes aufnehmen konnten, sobald der Feind das Feld des Kampfes umgestaltet hat, zu Werkzeugen der Gegenseite, zu Vektoren der Befriedung werden. Das allgemeine Gesicht des Kommandos wird heute durch die moralisierenden Injunktionen des Progressivismus verkörpert – ein Progressivismus, der sich in der Schuldzuweisung an das Subjekt und sein alltägliches Verhalten miniaturisiert – an der Umwelt-, Kultur-, Identitäts- und Ausdrucksfront. Nicht mehr Gesetz, sondern Norm, nicht Verbot, sondern allgemeine Vermehrung der Techniken des Selbst, der Fürsorge, der vielseitigen und individualisierten Domestizierung. Das bedeutet, dass die Gesten des Ungehorsams oft die instinktive Fassade des Zynismus, des Rechts, der konservativen Reaktion annehmen.  Der echte Punk verteidigt heute eine symbolische Sphäre, die er in seiner früheren Sozialisation verinnerlicht hat und die ihm die neue gesellschaftliche Synthese plötzlich entreißt. „Die Rebellion ist nach rechts gerückt“ ist ein beruhigendes Mantra, um sich die Tiefe zu ersparen und sich der Normalisierung anzuschließen. Es geht darum, dieses neue Gesicht der Macht zu verstehen und zu erzählen, die internen Artikulationen zu erklären, durch die sie das Imaginäre formt und in Beschlag nimmt, die Sprache der Subjekte formt, das Reale berührt. Durch die sie, mit anderen Worten, die Seele erschafft.

„Wer es wagt, die Organisation eines Volkes in Angriff zu nehmen, muss sich fähig fühlen, die menschliche Natur gleichsam zu mutieren, jedes Individuum, das in sich selbst ein vollkommenes und autonomes Ganzes ist, in einen Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, aus dem dieses Individuum irgendwie Leben und Sein erhält“ (Rousseau).

Die kapitalistische Zivilisation, die mit der Herausbildung eines wissenschaftlichen, militärischen und industriellen Komplexes begann und alle Grundlagen früherer Lebensformen an der Wurzel zerstörte, ist an einer absoluten Vollendungsschwelle angelangt: Es gibt eine Kontinuitätslinie, die von der Affirmation der rechnenden Vernunft als Verschwinden der Erfahrungen über die Statistik, den American Way of Life, die Atomkraft und die Unterhaltungsindustrie verläuft, ohne den Sozialdarwinismus und die Serialisierung des Mordens in den Weltkonflikten zu vergessen und schließlich zu den algorithmischen Netzen zu gelangen, die unsere Beziehungen vermittlen.

Diese Punkte sind Etappen in einem kontinuierlichen Prozess der unendlichen Wertsteigerung und Bestätigung jenes gewaltigen metaphysischen Experiments, das man Wissenschaft, Kapital, Westen nennen kann. Das Überschreiten dieser Schwelle zu begreifen, die die permanente Katastrophe einer Zivilisation ist, in der jeder verbleibende Raum umgekrempelt und bis zum Äußersten ausgequetscht wird, um den letzten Rest an Ökonomie, Publizität und Selbstaufwertung herauszuholen, bedeutet, dass wir uns zu einer grundlegenden Überarbeitung unserer Sprache entschließen müssen. Keines der zentralen Wörter in unserem Vokabular kann unangetastet bleiben: Revolution und Gemeinschaft, Politik und Geschichte bedeuten nicht mehr dasselbe. Ist eine Revolution, die nicht die unbekannten Wege der Emanzipation im linearen oder zyklischen Verlauf der Geschichte eröffnet, sondern in einer Spiralbewegung zu dem wiederkehrenden Ursprung zurückkehrt, der die Instrumente des politischen Handelns verflucht hat, um sie schließlich zu verwerfen, noch eine Variante dessen, was wir bisher Revolution genannt haben? Entspricht eine Politik, die darin besteht, sich selbst aus der Polis herauszureißen, indem man eine intensive Fremdheit gegenüber der Lebensweise, die uns beherrscht, und gegenüber den Waffen, mit denen unsere Seelen technisch hergestellt werden, aufbaut, dem, was wir als Militanz bezeichnet haben? Und was ist mit der Gemeinschaft, zu der Landauer vor mehr als einem Jahrhundert seinen Sozialistischen Bund gewählt hat? Was ist mit ihr in der Welt der digitalen und atomaren Energie der nächsten Generation zu tun?

Diese Alchemie der neuen Formen und Verschwörungen, die wir in den Non-Bewegungen der Gegenwart zwischen Verschwörungssprachen, „diagonalen Subjektivitäten “ (1) und alternativen Narrativen brodeln sehen, ist ein Reservoir an lebendigen Kräften für die Konstruktion einer politischen Intensität gegen die Politik. Und das ist kein Wortspiel: Eine politische Intensität zu erlangen – um bei dem Adjektiv zu bleiben – bedeutet, eine Grenze zu überschreiten, vor der die Kräfte zart und zerstreut sind, es bedeutet, ihnen Konsistenz und Methode zu geben. Es bedeutet, eine Wette einzugehen. Dies geschieht jedoch durch die Definition eines Imaginären – und das ist das, was heute am meisten fehlt, sobald die Repräsentationen, selbst die ideologischen der revolutionären Politik, aufgelöst sind. Ein Imaginäres ist eine Weltanschauung, die sich durch die Fähigkeit auszeichnet, Erfahrungen zu verarbeiten und zu teilen, und nicht ein Diskurs oder ein Vorschlag. Bei der gedanklichen Klärung geht es darum, dieses Imaginäre eines wünschenswerten Lebens zu formen und auf dieser Grundlage Begegnungen zu schaffen. Die Überwindung der Verwirrung über die Form des Lebens, die wir wollen, ist der Ausgangspunkt.

6. Bindungen weben. Die Epoche ist eine der unvorhersehbaren Begegnungen und unvermuteten Komplikationen, die man in der Wildnis suchen muss. Konspiration ist kein poetischer, sondern ein praktischer Vorschlag. Potenzielle Dissidenten laufen nicht immer mit einem Abzeichen herum, man muss sie aufspüren. Diese Beschwörung der Begegnung und des Zusammenschlusses kann jedoch kein Passepartout sein, um den Fragen des revolutionären Horizonts auszuweichen. Die Trauer, die die Programme der radikalen Arbeiterbewegung hinterlassen haben, muss bis zum Ende durchgearbeitet werden: Den politischen Vorschlag auf die ethische Dimension zurückzuführen, aus der er hervorgeht, bedeutet nicht, auf die Schwelle zu verzichten, jenseits derer ethische Gesten politische Intensität und Macht erlangen. Man muss sich um eine Wahrheit scharen, die nicht nur aus Fragen bestehen kann, die in der Erfahrung das sammeln muss, was übrig bleibt, die eine Position nährt. Gewiss, der Mangel an glaubwürdigen Optionen, die uns die politischen Vermächtnisse, die ideologischen Synthesen der Vergangenheit, der Bruch mit der Kontinuität der Traditionen bieten, lässt uns verloren zurück. Aber was die Verwirrung noch verstärkt, ist vor allem das Fehlen eines Verifikationsfeldes, in dem die Erfahrungen geordnet werden können.

Nun, der Kommunismus gehört zur Erfahrung, zu den Beziehungen, zu den Begegnungen, er ist eine grundlegende und primäre Dimension, die unabhängig von jedem organisatorischen Willen ist, die Revolution hingegen nicht, sie ist das Produkt einer strategischen Anstrengung. Wie weit kann man zurückgehen, um den Kompass der Orientierung auszuloten? Der Bezugspunkt für die Erprobung von Strategien waren früher die Konflikte, aber worauf soll man sich beziehen, wenn die politische Sphäre selbst in ihrer Bedeutung in Frage gestellt wird? Wenn die Ideen von Revolution und Sieg in Frage gestellt werden? Die Verbindungen zu knüpfen bedeutet, den Kommunismus zu kultivieren, indem die Idee der Revolution im Status einer vorläufig unwirksamen Hypothese gehalten wird. Daraus folgt: Eine mittellose Perspektive muss den schmalen Weg der Revolution überdenken und nicht verwerfen – wir werden darauf zurückkommen – und die Pole Kommunismus und Revolution dürfen nicht endgültig voneinander getrennt werden. Im Gegenteil, die Gegenwart ist die des Kommunismus auf einer konspirativen, untergetauchten Ebene; aber so wie die konspirative Phase der Arbeiterbewegung durch die blanquistische und proto-kommunistische Geschichte der zerstreuten Sekten von der politischen Wiederbelebung in der Kontinuität der historischen Partei abgelöst wurde, werden sich neue revolutionäre Zyklen jenseits des Fortbestehens jeder formalen Struktur eröffnen. In der Zwischenzeit muss, soweit es die Epoche zulässt, die Gesamtsicht beibehalten werden, auch einseitig oder in Bruchstücken.

7. Die Lokalisierung einer Konsistenz. Die Ebene, auf der sich das pulverisierte „Wir“ der Revolutionäre befindet, ist, wenn überhaupt, noch weiter rückständig als bei den Übrigen. Es ist die ungelöste Frage der Autonomie, die jenseits der ideologischen Vereinfachungen des vorläufigen Rückzugs angegangen wird, die im Wüten des reformistischen Formalismus zum Allgemeingut werden: Revolution ist eine Kraft, schrieb Montaldi, nicht eine Form. Die Stärkung der materiellen Strukturen, die eine relative Unabhängigkeit von den Ressourcen des Gegners ermöglichen, in dem durch das organisatorische Gefüge des Konflikts lokalisierten Raum, macht es möglich, dem Imperativ der Dringlichkeit zu entkommen und eine Atempause einzulegen. Folglich hat die Konstruktion solcher Ressourcen keinen moralischen Wert: Es gibt keine Skala von Subsistenz- oder materiellen Reproduktionspraktiken, die in zunehmender Radikalität, Reinheit oder Autonomie angeordnet sind, sondern die Relativität dieser Ressourcen zu einem Ort, an dem sie nützlich und mächtig sind, in dem sie eine Raum-Zeit eröffnen.

Ob diese Räume für die ethische und technische Vertiefung, für die Zirkulation von Mitteln und Wissen, für operative Fertigkeiten oder für die Ausübung von Lernprozessen dienen, ist nicht unmittelbar relevant: In allen Bereichen wird die Möglichkeit einer strategischen Marginalität gegenüber den bestehenden Institutionen immer mehr von den sie beherrschenden praktischen und ideologischen Zwängen aufgefressen. Es wird immer notwendiger, sich außerhalb und neben den Apparaten zu organisieren, die unser kollektives Leben ordnen und von denen wir für unsere täglichen Aktivitäten abhängig sind, gerade weil sie immer erdrückender werden. Diese Ordnung der Aktivitäten kann wiederum auf die Erfahrung des Kommunismus zurückgeführt werden. Und wieder ergibt sich die Dialektik zwischen der ethischen Ebene des byt, der Lebensform, und der des revolutionären Horizonts. Im Gegensatz zu dem, was in den letzten Jahren geschrieben wurde, sogar von benachbarten Ufern, ist die Trennung von Kommunismus und Revolution, von ethischem Spiel und politischer Macht, ein Experiment, das verhängnisvoll sein kann. Nicht, weil es nicht stimmt, dass der hegemoniale Mythos der modernen Revolution einen zersetzenden Schatten auf die vitale Realität der lokalen Konsistenzen und die Vielzahl der Minderheitenkommunismen, sowohl der unmittelbaren als auch der schismatischen, die die Geschichte der revolutionären Bewegungen durchzogen haben, geworfen hat, sondern weil die Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten komplizierter ist als ein oppositionelles, sogar dialektisches Paar. Zwei Punkte: 

a. Die Definition der Revolution als etwas Universelles, Fortschrittliches und durch einen epochalen Einschnitt in den Lauf der Geschichte Legitimiertes erfolgt gleichzeitig mit der Kodifizierung dieser Kategorie – von der früheren kosmisch-zirkulären Bedeutung, die auf Griechenland zurückgeht -, indem sie von der umfassenderen Gruppe von Praktiken des gewaltsamen Umsturzes losgelöst wird: Aufstände, Revolten, Bürgerkriege, Bauernwut. In dem Maße, in dem die Revolution in den Worten des Herzogs von Liancourt an Ludwig XVI. zu etwas anderem wird als zu einer revolutionären Geste, wird sie auch zu einem Ursprung, einem Operator der historischen Legitimation. Aber hat dieser Mechanismus jemals der Realität der Revolutionen entsprochen? Das revolutionäre Objekt abkühlen zu lassen, bedeutet also nicht, es aufzugeben, sondern es zu dekonstruieren.

b. Wie Reiner Schürmann in seinen Seiten zur Dekonstruktion des Politischen sagt, indem er Hannah Arendts Hinweise auf Heideggers sträfliche politische Blindheit als Ergänzung aufgreift, sind die historischen Momente, in denen eine vorläufige Bodenlosigkeit des politischen Feldes, eine Aufhebung des archè des Prinzips als Ursprung und Gebot aufscheinen, zeitgemäße Episoden wie die Commune von 1871, der Aufstieg der französischen Volksgesellschaften zwischen 1789 und 1793, die selbstverwalteten Gemeinschaften in der Frühphase der Vereinigten Staaten, der früh in den Brüdern des Freien Geistes nachweisbare Kommunalismus. Was sind diese Ereignisse, wenn nicht Beispiele für revolutionäres Handeln? Wodurch unterscheiden sie sich von der Revolution als Hegemonie? Schürmann sagt, dass die politische Aktion dekonstruiert wird, indem sie an den Ort ihrer Präsenz zurückgeführt wird, um zu verhindern, dass sie sich als eine Gegenwart verfestigt, die durch die Legitimationsstruktur der Gründung, die sich selbst universalisiert, immerwährend ist.

8. Einen Beitrag zur Offensive leisten. Man kann endlose Reden damit verbringen, uns zu erklären, dass die Revolte Gefahr läuft, zu einem weiteren zentralen Widerspruch zu werden, dass jede Praxis in der postmodernen horizontalen Ebene der singulären ethischen Gesten gleichwertig ist. Das interessiert uns nicht. Es gibt Praktiken und Gesten, die es ermöglichen, über eine Ebene der tatsächlichen Intensität hinauszuwachsen, und die alle anderen in ein anderes Licht rücken. Nicht alle Fronten der Konfrontation, nicht alle Konflikte können wie eine Gummiwand angegangen werden, an der man zerschellen kann. Es werden jedoch die neuen Aufstände der Zukunft, der kommenden Jahre, sein, die die Perspektiven klären, dem Geplapper eine Form geben und die vereinzelten Bemühungen zu einer Strategie zusammenfügen werden. Irgendwo muss man ja anfangen, und das ist sicher eine gute Basis.

(1) Ein Begriff, der von mehreren Stimmen, darunter kürzlich Naomi Klein, verwendet wurde, um die Art und Weise zu verstehen, in der der Verschwörungstheoretiker die Zumutungen des digitalen Subjekts ablehnt und gleichzeitig dessen Schatten annimmt, d. h. in anderen Worten 

Veröffentlicht im italienischen Original im Sommer 2024, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Eine kurze Anmerkung zu Militanz, Politik und Desertion

Lauft kräftig, Jungs, lauft

Tommaso Sarti

Wahrheit für Ramy

‚So weit, so gut,

so weit, so gut

so weit, so gut, so weit, so gut…‘

Said, La Haine

Die Geschichte von Ramy und Fares ist möglicherweise die Geschichte vieler junger Menschen mit Migrationshintergrund, die in italienischen Städten, Vororten, Provinzen und Dörfern geboren oder aufgewachsen sind. Junge Menschen, die als ewige Gäste gesehen und behandelt werden, die sich als dankbar und nützlich erweisen und jede Art von Anspruch unterlassen müssen, der die ihnen zugewiesene Rolle des politisch neutralen Subjekts in Frage stellen könnte.

In den Tagen nach dem „Unfall“ und dem Tod eines 19-jährigen Jungen benutzten mehr oder weniger allgemein gehaltene Zeitungsartikel die üblichen Worte der Verurteilung – gegen die Jungen, weil sie nicht am Stoppschild angehalten hatten, sicherlich nicht gegen die Carabinieri, weil sie ein Moped zu Fall gebracht hatten -, um die Reaktion und den Anspruch auf Wahrheit der Jungen aus Corvetto zu kritisieren und zu exotisieren. Wie Valeria Verdolini in „Lucy on Culture” berichtet, haben Zeitungen und Politiker “[…] auf plumpe Formeln zurückgegriffen, die an die mit der Einwanderung verbundenen Bilder der Unsicherheit erinnern: Banlieue-Effekt, Stadtguerilla, Feuernacht”. Dieser narrative Vorgang, so trivial er auch erscheinen mag, ist tief in die Funktionsweise unseres politischen Systems eingebettet. 

Wie Stanley Cohen bereits 1972 feststellte, ist das sprachliche Register, das zur Beschreibung der sogenannten „diavoli popolari“ verwendet wird, ebenso vorhersehbar wie die Subjekte der Panik selbst. Diese Sprache, die Wolf Bukowski die „Sprache der Erniedrigung“ nennt, ist eine Art von Sprache, die wir alle von Geburt an durch Zeitungen, Fernsehprogramme und das Radio lernen und die, wie Pietro Saitta in Violenta speranza schreibt, „[…] in der Anrufung der Polizei, d.h. in der Übersetzung der sozialen Frage in eine kriminelle Frage und eine Politik der öffentlichen Ordnung“ besteht, die dazu tendiert, zwischen Zivilisten – die schützenswert sind – und Unzivilisierten – die Kontrolle und Repression verdienen – zu unterscheiden. 

Ein solches Vorgehen, das darauf abzielt, die Gemeinschaft der “Einheimischen” in Phasen der Krise und der Aufrechterhaltung der pseudodemokratischen Ordnung zu konsolidieren, führt zur Herausbildung einer Sicherheitsgesellschaft, die ihren Schutz nicht mehr auf die Gefährlichkeit der Ereignisse stützt, sondern auf eine Wahrnehmung, die sich in Form von Forderungen nach verstärkter Polizei- und Repressionsarbeit äußert, selbst in Situationen, in denen die Polizei selbst als erste von der nicht realen Notwendigkeit dieser Interventionen weiß.

Die Schaffung von sozialen Alarmen, die, wie Cohen schreibt, die Form von Kategorien gefährlicher Subjekte annehmen, „[…] die in stilisierter und stereotyper Weise dargestellt werden […]“, ist also nicht nur funktional für die Aufrechterhaltung der sozialen und politischen Ordnung, sondern, wie die Wissenschaftler des CCCS in Birmingham betonen, auch eng mit den Prozessen der Etikettierung und der Notwendigkeit für den Staat und die herrschenden Klassen verbunden, „[…] die hegemoniale Kontrolle über die öffentliche Information sicherzustellen“. Diese Kontrolle ermöglicht es, die Jugendlichen von Corvetto, die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die Jugendlichen der Arbeiterklasse als „maranza“ (siehe hier, d.Ü.) oder als die neuen diavoli popolari unserer Zeit darzustellen, ein Phänomen, das als soziologisches Novum nach einem Mechanismus der Geschichtsumschreibung behandelt und erzählt wird, nach dem, um Valerio Marchi zu paraphrasieren, die Schurken von heute schlimmer sind als die von gestern. Dank zahlreicher Forschungen zu diesem Thema wissen wir jedoch, dass diese Erzählung von einem hypothetischen goldenen Zeitalter, in dem die Türen des Hauses offen standen – ein Märchen, das von denselben Generationen erzählt wird, die während des bewaffneten Kampfes, der faschistischen Bomben auf den Plätzen und Bahnhöfen, der Entführungen und Putschversuche geboren und aufgewachsen sind -, eine Lüge ist, und dass die Manifestationen jugendlicher Tumulte eine Konstante in der Geschichte seit der Neuzeit sind. 

Denn wenn es stimmt, dass Jugendgewalt aus nachahmendem Verhalten entstehen kann, dann geschieht dies, wie Saitta schreibt, „[…] weil sie auf Bedürfnisse reagiert […], die offensichtlich mit dem städtischen Leben verbunden sind [und nicht erst] seit seiner modernen Ausgestaltung“, die den Kanälen und Mitteln der Massenkommunikation vorausgehen. Hier wird das Konzept der moralischen Panik also zu einer Art gebrauchsfertigem Lagerhaus, das alle Elemente enthält, die notwendig sind, um dem notwendigen Feind Gestalt zu geben, Elemente, die im Laufe der Zeit beständig sind und denen von Zeit zu Zeit gesellschaftliche Innovationen hinzugefügt werden, die dem diavoli popolari Gestalt geben und ihn „neu“ konstruieren.

Es ist müßig, von der „Banlieueisierung“ der italienischen Vorstädte und von unerwarteten Verschiebungen zu sprechen, wenn wir in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung dreißig Jahre Zeit hatten, um nicht dieselben französischen rassistischen Verbrechen gegen junge Menschen und ihre Familien zu begehen. Doch auch hier sind wir heute hilflose Zeugen eines systematischen Entrechtungsprozesses von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die vom Staat von Anfang an als Erwachsene und Kriminelle betrachtet werden und als solche nicht die Rechte auf Kindheit verdienen, die allen* zustehen, unabhängig von Hautfarbe, elterlichem Bankkonto und Glaubensbekenntnis. Kinder mit Migrationshintergrund oder aus der Arbeiterklasse wissen sehr wohl, was es bedeutet, in einem öffentlichen Raum aufzuwachsen, der eigens dafür geschaffen wurde, sie zu kontrollieren und vom Rest der Bevölkerung zu trennen, sie wissen sehr wohl, dass ihre Viertel und Plätze Orte sind, die der Sozialität gestohlen wurden, um Platz für militärische Besatzungstruppen zu schaffen, die dazu da sind, sie zu unterdrücken, aber sicherlich nicht, um sie zu schützen. Aber wie können diese jungen Menschen glücklich aufwachsen?

Wie können sie dem Staat vertrauen, wenn das einzige Gesicht, das sie kennen, das der Polizei und der Carabinieri ist, die sie bedrohen, verhaften, schlagen, ihr Leben ruinieren und sie ungestraft töten können? In den Vierteln und – ich würde sagen – generell in den Städten, in den Dörfern, überall herrscht eine düstere Atmosphäre, auch wegen der Polizei, weil die Polizei eine Bedrohung für die Familien und vor allem für die Kinder der Migranten darstellt, „als bewaffnetes und institutionelles Hindernis für die Bewegungsfreiheit und die Geselligkeit“, wie Fatima Oussak schreibt. Es sollte uns nicht überraschen, dass Polizei und Carabinieri töten: Was Ramy und Fares passiert ist, kommt zu dem hinzu, was Davide Bifolco passiert ist – der von einem Carabiniere in Neapel getötet wurde, weil er an einem Kontrollpunkt nicht anhielt -, zu Moussa Diarra – der von einem Polizisten am Bahnhof in Verona getötet wurde -, zu Federico, Stefano, Carlo.

Im Gegenteil, wie Houria Bouteldja schreibt, könnte und sollte es ein Sammelpunkt für ein notwendiges Bündnis zwischen Jugendlichen aus Vierteln und Provinzen mit oder ohne Migrationshintergrund werden, weil wir eine gemeinsame Geschichte von Toten haben, an die wir uns erinnern und die wir rächen müssen, und von deren Opfern wir ausgehen müssen, um Widerstand zu leisten und zu existieren. Dazu muss man jedoch bereit sein, den Forderungen und Worten dieser jungen Menschen zuzuhören, ohne sie zu vereinnahmen, was in den Worten für alle klar ist, aber in der Praxis nicht geschieht, weil das Privileg und die politische und intellektuelle Überlegenheit der weißen Militanz immer noch vorherrscht. Die Corvetto-Wut ist, wie die Wut über Palästina, eine legitime Wut, die auf das Hogra (Hogra, siehe als Erklärung hier, d.Ü,) antwortet, mit dem diese jungen Menschen geboren* und aufgewachsen sind, nämlich auf den institutionellen Willen, Menschen zu terrorisieren und zu demütigen. 

Wir Weißen müssen uns diese Wut anhören, denn wenn es wahr ist, dass nicht alle Männer Komplizen des Patriarchats sind, dann sind auch nicht alle Weißen Komplizen bei der Aufrechterhaltung des weißen Privilegs gegenüber nicht-weißen Bevölkerungsgruppen. Wollen wir für Palästina kämpfen? Wollen wir für die in Italien lebenden Ramy und Fares kämpfen? Für ihr Recht, glücklich zu leben und jung zu sein? Dann müssen wir uns die Hände schmutzig machen, indem wir unsere Ethnie verraten und die „weiße Schönheit“ wiederentdecken, von der Baldwin spricht. Weiße Schönheit, die nicht darin besteht, das eigene Weißsein zu verleugnen, sondern darin, die eigene Verantwortung zu erkennen und von dort aus die Befreiung aller und jedes Einzelnen in Angriff zu nehmen, denn, wie Louisa Yousfi (1) uns daran erinnert, „entweder wird es das Paradies für alle oder die Hölle für alle“. Wenn wir uns selbst erlösen wollen, dann müssen wir an der Seite der indigenen Völker als Brüder und Schwestern aufs Meer hinausfahren, als Genossen, die in einem Kampf und in einer gemeinsamen Geschichte vereint sind, die aus Revolten, Desertionen, Angriffen, Diebstählen und Fluchten besteht, die, wie Marie Moise schreibt, „[…] den ersten Schritt in die Freiheit bedeutet“, wie es in der Sprache der Sklaven heißt.

Die „Feuernacht“ der jungen Leute von Corvetto ist Teil einer langen konfliktreichen Tradition, die wir überall in Europa und darüber hinaus finden: „[…] Revolten sind kein modernes Phänomen, sie haben in den meisten Gesellschaften existiert und eine gewisse öffentliche Unruhe repräsentiert […]“ (Nasir, 2020). Man kann die Revolte definieren als „[…] eine Form des politischen Protests als Reaktion auf strukturelle Ungleichheiten“ (Akram, 2014, S.376) und wirtschaftliche und soziale Herrschaft, zu der die symbolische Ordnung dieser Ungleichheiten hinzukommt, die „[…] entscheidend ist, um die Handlungen und Motivationen sowohl der Revoluzzer als auch der Aufständischen vollständig zu beschreiben“ (Sutterlüty, 2014). Jede Revolte stellt eine Zäsur dar, ein Ereignis, das sowohl befreiend als auch feierlich ist, „[…] ein Ereignis, das Spuren hinterlässt und Orientierungen bietet, die im Laufe der Zeit rationalisiert werden. Als sozialer Höhepunkt und politisches Ereignis ist der Aufstand für die Beteiligten auch eine soziale Begegnung, ein kathartischer Moment und eine intensive Erfahrung mit persönlichen Folgen” (Truong, 2017).

Es gibt jedoch Aufstände, die mehr als andere in der Lage sind, dauerhafte Bilder und Narrative zu schaffen, wie die Aufstände in den französischen Banlieues im Jahr 2005, die eine Generation junger Menschen auf die Straße brachten, die: „[…] die, nachdem sie gelernt hatten, mit Rassismus und Erniedrigung zu leben, sich der Arbeitswelt stellten, ohne große Hoffnungen zu hegen, sich vom Elend zu emanzipieren, und ohne jemals den zermürbenden inneren Konflikt zwischen den liberalen und hedonistischen Werten ihrer englischen [und französischen und italienischen] Altersgenossen und denen der Sparsamkeit und Unterwerfung gelöst zu haben, die sie verwirrenderweise von ihren Eltern und in der Moschee gelernt hatten“ (Del Grande, 2023).

Wie die Ereignisse in Corvetto gezeigt haben, bestimmt das Eingreifen der Polizei in hohem Maße die Handlungen der Jugendlichen in den Arbeitervierteln, die sich bewusst sind, dass sie Opfer der Polizei werden können, und die die Mechanismen der städtischen Revolte beschleunigen, die durch das „[…] Ausmaß, in dem es dem Staat gelungen ist, oberflächlich Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und Gewaltexplosionen einzudämmen, indem er ein rein paramilitärisches Modell der Polizeiverwaltung in den benachteiligten Vierteln ausübte“ (Jobard, 2009), hervorgerufen wurden. Für diese jungen Menschen führt der Aufstand, der als besondere Antwort auf spezifische Probleme verstanden wird, zu neuen Formen der Ermächtigung und der Politik, Formen, die im Gedächtnis nach dem Aufstand dank der Produktionen von unten wie Hip-Hop, Fanzines und Schriften lebendig bleiben, die die Geschichte der Aufstände und ihren „[…] paroxysmalen Versuch, die Gesellschaft zu erschaffen und aufzulösen […] [zum] Höhepunkt des politischen Sozialisationsprozesses für viele junge Menschen […]“ (Troung, 2017) weitergeben.

Abschließend lässt sich sagen, dass das, was Ouassak sagt, auch für Italien gilt: „[…] niemand interessiert sich dafür, wie die Jugendlichen aus den Arbeitervierteln die Stadt betrachten und erleben. Die Standpunkte, die berücksichtigt werden, sind die der Polizei, des Chefs, der oberen Mittelschicht [und auch der weißen Arbeiterklasse], die besorgt leben […], weil sie diese Kinder als Problem und Bedrohung wahrnehmen“. Als Beweis dafür ist es kein Zufall, dass es am 7. Dezember darum ging, einen „ehrlichen“ Bürger von mindestens 60 Jahren zu stoppen, der einen Jungen von vielleicht 15 Jahren vor den Augen zweier örtlicher Polizeibeamter verprügeln wollte, die nicht in der Lage waren, sich für einen jungen „Maranza“ einzusetzen. Das Maß ist voll und die Wut ist groß, das kann eine Bedrohung oder eine politische Chance sein, aber wenn es eine Chance sein soll, dann sollte sie groß und vor allem wirklich revolutionär sein.

Erschienen im italienischen Original am 13.12.2024 auf Machina. Dem Text ist im Original eine umfangreiche Bibliographie angehängt, die aber an dieser Stelle weggelassen wird, weil die Beiträge nur im italienischen oder englischen Original existieren. Verweisen möchten wir aber an dieser Stelle auf deutsche Übersetzungen zu RESTARE BARBARI von Louisa Yousfi (siehe 1), die ebenso wie dieser Text von Bonustracks ins Deutsche übersetzt wurden. 

Vorwärts Barbaren

Bleibende Barbaren 

https://bonustracks.blackblogs.org/2023/04/09/bleibende-barbaren/
Wenn Schönheit nicht wehrlos ist… Über das Buch “Rester barbare” von Louisa Yousfi
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/07/14/wenn-schonheit-nicht-wehrlos-ist-uber-das-buch-rester-barbare-von-louisa-yousfi/

Zum Tod von Ramy und den folgenden Unruhen ist auch ein kurzer Text auf deutsch auf kontrapolis erschienen. 

https://kontrapolis.info/14486/

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Lauft kräftig, Jungs, lauft

Sie werden alle fallen

recherchegruppe aufstand 

Fünf Jahre lang haben wir als ‘recherchegruppe aufstand’ das begleitet, was mit dem sogenannten “arabischen Frühling” begann, eine unzutreffende Bezeichnung, weil sich die Aufstände, die im Dezember 2010 von Tunesien ausgingen, durch den gesamten Maghreb, die “arabische Welt”, den Iran und weite Teile Afrikas fraßen, zahlreiche Ethnien, Glaubensgemeinschaften, Communities umfassten. 

Besonders der syrische Aufstand hat unsere Herzen bewegt, gegen das vorherrschende Narrativ, dass das syrische Regime im Gegensatz zu den Tyrannen der anderen Länder fest im Sattel sitze, nach dem Massaker in Hama, bei dem das syrische Militär 1982 über 20.000 Menschen abschlachtete, es keine Opposition im Land gäbe, die in der Lage wäre, breite Proteste zu organisieren, gingen im ganzen Land spontan Hunderttausende auf die Straße. Trotz einer unvorstellbaren Repression, dem systematischen Einsatz von Schusswaffen gegen die unbewaffneten Demonstranten, der zum Tod von hunderten von Menschen führte, gaben die Menschen in Syrien nicht auf. Von den großen Städten bis in die Dörfer bildeten sich lokale Koordinierungskomitees, revolutionäre Jugendgruppen, an vorderster Front in diesem asymmetrischen Konflikt standen immer wieder die syrischen Frauen. Trotz dieser Rätestrukturen, der starken Präsenz von Frauen im Widerstand, der anfänglichen Bedeutungslosigkeit islamistischer Gruppierungen, wurde der syrische  Aufstand von großen Teilen der metropolitaren Linken ignoriert oder aus “geopolitischen Lagerdenken” (Der “Frontstaat Syrien” gegen Israel, die Anbindung Syriens an Russland, etc.) diffamiert.

Erst mit der Einsicht, dass alle weiteren unbewaffneten Proteste auch zukünftig einfach zusammengeschossen werden würden, bildeten sich erste bewaffnete Zellen aus lokalen Strukturen und Deserteuren aus der syrischen Armee aus denen später die “Freie Syrische Armee” (FSA) hervorging, die im Übrigen wenig bis nicht mit den Einheiten zu tun haben, die heute unter der Bezeichnung FSA in Syrien operieren. Erst im Zuge der Zuspitzung der bewaffneten Konfrontation mit dem Regime tauchten die bewaffneten islamistischen Kräfte auf, die von verschiedene Staaten mit umfangreichen Ressourcen in Form von Waffen, Geld und Logistik versorgt wurden, und über die Jahre letztendlich die dominierende Gegenmacht zum Assad Regime wurde. Viele der Aktivist*innen der Anfangsjahre des syrischen Aufstandes sind getötet oder verhaftet worden, gingen ins Exil oder haben sich zurückgezogen, weil sie sich weder dem Regime noch den islamistischen Kräften unterwerfen wollten. Trotz des jahrelangen Bürgerkrieges, der eine halbe Million Opfer forderte und ein Drittel der Bewohner Syriens zu Flüchtlingen machte, und der vom Regime nur mit der massiven Unterstützung Russlands, des Iran und der Hisbollah scheinbar erfolgreich gestaltet werden konnte, existieren viele Netzwerke der ursprünglichen Revolte bis heute, haben wir in anderer Rolle und unter anderem Namen immer wieder diesen Stimmen Gehör verschafft, indem wir ihre Texte übersetzt und im deutschsprachigen Raum verbreitet haben. 

Nun, da scheinbar, von wenigen Stimmen und lokalen Aktionen abgesehen, die Situation in Syrien völlig hoffnungslos schien, das Schicksal Syriens nur noch die Verhandlungsmasse der diversen lokalen und geopolitischen Akteure (Türkei, Iran, Golfstaaten, Russland, USA) zu sein drohte, erreichten die Verwerfungen, die das Beben des 7. Oktober auslöste, auch das syrische Dilemma. Die Entscheidung der Hamas (mit Billigung des Iran und der Hisbollah), “das Schachbrett umzustürzen” (Siehe ‘Rochaden in Nahost’ https://kontrapolis.info/13996/), führte zur Ausschaltung der Führungsebene der Hisbollah, einer bedeutenden Reduktion ihrer militärischen Potenz, sowie zu dem Erkenntnisgewinn der iranischen Führung, dass sie dem Konflikt mit Israel nicht wirklich gewachsen war. In dieser Situation erfolgte die Offensive der von der HTS angeführten Militärkoalition von der syrischen Region Idlib aus gegen das syrische Regime, die wohl nicht ansatzweise die Kühnheit der Möglichkeit enthielt, innerhalb von wenigen Tagen bis nach Damaskus vorstoßen zu können. Selbst die Einnahme von Aleppo dürfte die Erwartungen der Militärkoalition übertroffen haben. Während Erdogan sein Interesse an dieser Offensive die Schwächung der kurdischen Kräfte in Nordsyrien gewesen sein dürfte, weshalb die von ihm völlig abhängige “Syrische Nationale Armee” sofort an verschiedenen Stellen die direkte Konfrontation mit den kurdischen Kräften suchte, scheint die HTS trotz der engen Beziehungen zu Erdogan eine eigene Agenda zu verfolgen. So kam es im Falle von Aleppo zu Verhandlungen mit den kurdischen Streitkräften, die als Schutzmacht für die kurdischen Viertel akzeptiert wurden. Auch generierte sich die HTA im Zuge ihres Vormarsches als „geläuterte“ islamistische Kraft, die die Rechte der diversen Ethnien und Glaubensgemeinschaften “garantiere”. Wie viel Kreide der Wolf HTS nun wirklich gefressen hat, werden die kommenden Zeiten nach dem Fall des Assad Regime zeigen. 

Im Kern ist der Sturz Assads nicht vorrangig die Folge der militärischen Leistungen der von der HTS angeführten Militärkoalition, sondern das Zusammenspiel verschiedener Faktoren. 

Zum einen natürlich das taktische Momentum mit der Schwächung des Achse Iran/Hisbollah infolge der Konfrontationen mit Israel nach dem 7. Oktober sowie die Schwächung der syrischen Garantiemacht Russland, das mittlerweile im Ukraine Krieg nordkoreanische Einheiten sowie Söldnern der jemenitischen Huthis (sic!) einsetzen muss, weil weitere Mobilmachungen in Russland selbst die Stimmung in der Bevölkerung zum Kippen bringen könnte. (Wobei sich die Ukraine wohl an Russland revanchierte, indem es die Sondereinheiten der HTS am Einsatz von Kampfdrohnen schulte.) 

Zweitens die völlige Implosion der Militärmacht Syrien, die einst auf Augenhöhe mit Israel operierte. Umfasste die Truppenstärke vor dem Aufstand im Frühjahr 2011 noch um die 300.000 Mann, so wurde sie im Jahr 2023 auf um die 100.000 geschätzt, zu denen aber noch zahlreiche paramilitärische Einheiten dazu addiert werden müssen. Wobei es diverse Berichte über die völlig unzureichende Kampfbereitschaft diverser Einheiten gibt. Mangel an Waffen und Munition, ausbleibender Sold, weit verbreitete Korruption unter den Offizieren, teilweise bekommen die einfachen Soldaten nicht einmal genug Lebensmittel zur Verfügung gestellt, sondern werden von Familienangehörigen und Einheimischen an den Stationierungsorten “ernährt”. Außerdem, und nicht zu unterschätzen, die Demoralisierung durch 13 Jahre Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung. Im Ergebnis gab es beim Vormarsch der von der HTS angeführten Militärkoalition nur an wenigen Orten ernstzunehmenden militärischen Widerstand, aus den meisten Orten zogen sich die syrischen Regierungseinheiten kampflos zurück, die wenigen noch in Syrien stationierten russischen Bomber waren zwar in der Lage, in Aleppo Krankenhäuser anzugreifen, aber trotz zweimaliger Anflüge nicht mal in der Lage eine strategisch bedeutsame Brücke auf der Straßenachse Hama – Damaskus zu zerstören. Am Ende blieb der militärischen Führung nur die kampflose Übergabe von Damaskus an die Rebellen, niemand, nicht einmal die militärische Führung, schien noch gewillt, für Assad zu kämpfen und zu fallen. 

Drittens, und das muss an dieser Stelle unbedingt und vorrangig benannt werden, haben die islamistischen Rebellen, so bitter dies auch auf den ersten Blick sein mag, am Ende die syrische Revolution, ihre enormen Mobilisierungen und Opfer, einfach beerbt. Die Assad-Dynastie fiel, weil sie keinen wirklichen Rückhalt mehr hatte, weder in der Bevölkerung noch im Militär. Am Ende haben so ziemlich alle zu den Waffen gegriffen, viele Orte haben sich selbst befreit, selbst viele drusische Ortschaften haben sich bewaffnet erhoben und die oppositionellen Einheiten wurden selbst in den alawitischen Siedlungsgebieten teilweise mit Jubel empfangen.

Der heutige Tag, der Tag des Sturzes des Assad Regimes, gehört der syrischen Revolution, es ist ein Tag der Freude und deshalb sind überall die Menschenmassen auf den Straßen, in Syrien und im Exil. Hunderttausend Menschen sind seit 2011 verschwunden und inhaftiert worden, viele von ihnen werden dieser Tage aus den Foltergefängnissen befreit. Es ist ein Tag der Freude. Das sagen und schreiben auch die syrischen Gefährt*innen. Niemand weiß, was nun kommen wird. Aber niemand wusste auch vor 2 Wochen, was passieren wird. Die HTS und ihre Verbündeten sind nicht ansatzweise in der Lage, das gesamte syrische Territorium zu kontrollieren. Die kurdischen Kräfte sind ein bedeutender Machtfaktor und genießen weiterhin die Unterstützung der USA, das haben die letzten Tage gezeigt. Nun beginnt ein mühsamer Prozess der Austarierung der neuen Kräfteverhältnisse. Die zahlreichen lokalen und geopolitischen Akteure werden hinter den Kulissen ihre Einflüsse und Ansprüche geltend machen. Aber die Geschichte ist immer “unwritten”. Die syrische Gesellschaft kann auf die aufständischen Erfahrungen der Jahre 2011 ff zurückgreifen, der Terror der letzten Jahrzehnte sitzt allen noch in den Knochen, es scheint fraglich, ob ein neues repressives islamistisches Regime so einfach durchzusetzen sein wird, das dürfte auch der HTS und ihren Verbündeten klar sein. So oder so, “wir haben keine Angst vor den Ruinen”. Auf den Straßen schreiben wir Geschichte. Heute auf den Straßen von Damaskus, Hama, Homs und Daraa, der Wiege der Revolution. Und wenn uns der Wind der Geschichte gewogen ist, darüber hinaus. Es ist auf jeden Fall das Wagnis wert. 

recherchegruppe aufstand 

(aus dem Off), 8. Dezember 2024

P.S. Leider ist mit dem Verschwinden von Blogsport auch unser Archiv verschwunden. Ein Teil unserer Artikel findet sich aber noch im linksunten Archiv unter https://linksunten.archive.indymedia.org/user/1064/blog/index.html

Dieser Text wurde Bonustracks zugesandt.

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Sie werden alle fallen

In Syrien wie anderswo: Nieder mit den Tyrannen!

Revolutionäre Jüdinnen und Juden (Frankreich) 

Es ist schwierig, die Kette von Ereignissen, die zum Sturz des verbrecherischen Regimes von Baschar al-Assad geführt haben, zu verstehen und zusammenzufassen. Tatsächlich waren die 13 Jahre Bürgerkrieg, die auf den Volksaufstand von 2011 und dessen blutige Niederschlagung folgten, Anlass für zahlreiche Interventionen von außen (seitens des Iran, Russlands, der Türkei, Israels, der USA, Frankreichs usw.); in dieser Zeit haben sich die Gruppen, die gegen das Regime opponierten, vervielfacht, gespalten und neu zusammengesetzt. 

So wird die Koalition, die das Regime gerade zu Fall gebracht hat, von Dschihadisten angeführt, umfasst aber auch von der Türkei unterstützte Milizen sowie lokale bewaffnete Gruppen. Sie profitierte von der Schwächung der Hisbollah durch israelische Bombardements sowie von der Bindung der russischen Armee in der Ukraine. Derzeit behauptet sie, sie wolle weder Minderheiten angreifen noch ihr eigenes politisches Projekt durchsetzen, doch angesichts der Übergriffe, die ihre wichtigsten Gruppen in der Vergangenheit begangen haben, ist es keineswegs sicher, dass dies so bleiben wird. Auch ihre Beziehung zu den kurdischen Kräften gibt Anlass zu großer Sorge. Auf jeden Fall ist es unwahrscheinlich (aber nicht unmöglich), dass ihr Sieg zu einem fortschrittlichen oder demokratischen Regime führen wird. Dies wird vor allem von der Mobilisierung der sozialen Kräfte und der Konsolidierung eines starken progressiven Pols in Syrien abhängen. 

Eines ist jedoch seit Jahren klar: Wie sein Vater gehört auch Baschar al-Assad neben Putin, Netanjahu und Hemeti (Warlord im Sudan, d.Ü.) zu den größten Verbrechern gegen die Menschlichkeit in diesem Jahrhundert. Wie diese gehört er vor ein internationales Gericht. Zusammen mit seinen Verbündeten Russland, Iran und der Hisbollah ist er direkt für die Ermordung von Hunderttausenden Menschen verantwortlich. Er hat ganze Städte mit Fassbomben dem Erdboden gleichgemacht, Krankenhäuser bombardiert und Tausende von Oppositionellen in seinen Schlachthausgefängnissen hinrichten lassen. Er förderte die Entstehung dschihadistischer Kräfte, die selbst für zahlreiche Übergriffe verantwortlich sind, um sich als letzte Zuflucht für Minderheiten zu präsentieren und die internationale Unterstützung für den Aufstand zu schwächen. 13 Millionen Syrerinnen und Syrer wurden durch seine Verbrechen vertrieben.

Trotz all seiner Untaten hatte der Tyrann in Frankreich eine Reihe von politischen und medialen Multiplikatoren. Diese sind vor allem in der rechten und rechtsextremen Szene zu finden (wie Jean Lassalle, Thierry Mariani oder Frédéric Châtillon), aber auch in Teilen der Linken (wie Jean-Luc Mélenchon oder Youssef Boussoumah). Ihre Motive: Lagerdenken, Verschwörungstheorien, die Anziehungskraft autoritärer Regime sowie Korruption. Abgesehen von der internationalen Koalition gegen den Islamischen Staat und einer gewissen Unterstützung für das Projekt in Rojava hat die Solidarität mit den Völkern Syriens nicht so viele Menschen mobilisiert, wie sie es hätte tun sollen. Wir müssen die Lehren daraus ziehen, wenn wir eine wirklich internationalistische Linke wieder aufbauen wollen.

Wir freuen uns über den Sturz von Baschar al-Assad und die damit verbundenen Folgen, insbesondere für die politischen Gefangenen, die heute freigelassen wurden, aber die Völker Syriens haben noch einen langen Weg vor sich, um von Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit profitieren zu können. Dieser kann nur gedeihen, wenn eine wirklich demokratische Alternative aufgebaut wird, die die Völker und Minderheiten respektiert und frei von jeglichem imperialistischen Einfluss ist. 

Veröffentlicht am 8. Dezember 2024 auf dem Blog von Juives et Juifs Révolutionnaires, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für In Syrien wie anderswo: Nieder mit den Tyrannen!

Between a Rock and a Hard Place – Stimmen von der syrischen Küste

Azzam al-Youssef

Operation „Abschreckung der Aggression“: Stimmen von der syrischen Küste

„Was ist mit deinem Bruder passiert? Hat dein Mann geantwortet? Hast du mit deinem Sohn gesprochen?“

Diese Fragen hallen in den Gebieten unter der Kontrolle des syrischen Regimes nach Beginn der Operation „Abschreckung der Aggression“, die vor einigen Tagen von regierungsfeindlichen Gruppierungen gestartet wurde. Maan, ein 23-jähriger Student der Tishreen-Universität in Latakia, sagte gegenüber Al-Jumhuriya: „Krieg… Man kann kein Café, keinen Laden oder kein Geschäft betreten, ohne Nachrichten über den Krieg zu hören. Die Menschen kleben an ihren Geräten, warten auf Neuigkeiten oder rufen an, um nach ihren Familien zu fragen.“

Spannung und Aufregung haben die syrische Küste erfasst, wobei die Angst in den konfliktnahen Gebieten zunimmt – insbesondere in der Nähe der nordwestlichen Provinz Hama, wo zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels heftige Kämpfe im Gange sind. Der sogenannte „Evakuierungsmarkt“ ist chaotisch geworden, da Autobesitzer und Transportunternehmen exorbitante Preise für die Evakuierung von Familien verlangen, die verzweifelt der Kriegshölle in Aleppo und anderen Konfliktgebieten entkommen wollen.

Obwohl sie sich in einiger Entfernung von den Frontlinien befindet, wächst die Frustration der überwiegend regimetreuen Bevölkerung an der syrischen Küste. Die Schuld wird hin und her geschoben, sei es auf „ fahrlässige Verbündete “ oder auf die militärische Führung, die es versäumt, die Soldaten mit grundlegenden Dingen wie Nahrung und Kleidung zu versorgen. Die Korruption unter den Offizieren, die Wehrpflichtige ausnutzen, um sich finanziell zu bereichern, und sich auf veraltete Waffen verlassen, schürt die Unzufriedenheit nur noch. Selbst überzeugte Anhänger des Regimes spüren eine Veränderung gegenüber 2012, als diejenigen, die vor den Kämpfen gegen die Opposition flohen, verunglimpft wurden: Jetzt herrscht mehr Mitgefühl. Nisreen, eine Medizinstudentin an der Tishreen-Universität, erklärt: „Sie haben gesehen, wie ihre Kameraden in den vergangenen Kämpfen gefallen sind, wie ihre Opfer sinnlos geworden sind und ihre Familien ohne Unterstützung zurückgelassen haben.“

Dieser Bericht beleuchtet eine Reihe von Gesprächen und Äußerungen von der syrischen Küste, darunter Unterstützung für das Regime, Kritik an seinen Maßnahmen, Kritik an seinen Versäumnissen und Befürchtungen über den Vormarsch der Oppositionsparteien. Außerdem dokumentiert der Bericht Zeugenaussagen über die jüngsten Vorfälle in Nordsyrien. Diese Berichte lassen sich zwar nur schwer von unabhängiger Seite verifizieren, ihre Verbreitung an der Küste verrät jedoch viel über die vorherrschende Atmosphäre.

Alle persönlichen Namen in diesem Bericht wurden geändert, um die Identität der Personen zu schützen.

Der „Evakuierungsmarkt“

„Ich bin Sunnitin, aber in meiner Familie gibt es viele Armeeoffiziere“, sagt Buthaina, 33, “also flohen wir aus unserem Haus in Hamdaniya in den Stadtteil Furqan, nachdem wir erfahren hatten, dass das Dorf Orem al-Sughra in die Hände von Kämpfern gefallen war. Als diese weiter vorrückten, beschlossen wir, nach Latakia zu fliehen.“

Im Gegensatz zu Buthaina, die ein Auto besaß, mit dem sie fliehen konnte, war Ola, eine 38-jährige syrische Christin aus dem Aleppoer Stadtteil Suleymaniye, zusätzlich zu den ohnehin schon schlimmen Umständen auch noch von Ausbeutung betroffen. Sie sagte gegenüber Al-Jumhuriya: „Wir haben die Stadt voller Angst verlassen. Der Fahrer weigerte sich, uns mitzunehmen, bis wir ihm 11 Millionen syrische Pfund bezahlt hatten. Mein Mann und ich waren gezwungen, das Geld zu zahlen, weil wir ein Baby haben, das noch nicht einmal ein Jahr alt ist.“ Auf die Frage, ob die Gebühr eine Bestechung an irgendwelchen Kontrollpunkten einschloss, sagte sie nein: „Der Fahrer behauptete, die hohen Kosten seien entstanden, weil er sein Leben und die Sicherheit des Fahrzeugs riskierte!“

Ich habe zwei Familien kontaktiert, die ein ähnliches Szenario durchgemacht haben. Sie bestätigten, dass sie 1000 Dollar (15 Millionen syrische Pfund) für eine Busfahrt von Aleppo nach Latakia bzw. Damaskus bezahlt hatten.

Ali, ein Universitätsprofessor aus Tartus, äußerte seine Frustration darüber, dass die Unterstützung für die Bewohner der Küstenregion und die Studenten in Aleppo im Vergleich zu anderen Gouvernements begrenzt ist. „Volksinitiativen in Sweida, Raqqa und bei syrischen Stämmen stellten kostenlose Busse für die Evakuierung von Menschen aus Aleppo zur Verfügung, aber die Küstenbewohner blieben zurück. Alawiten und Christen waren besonders betroffen von Ausbeutung.“

Basma, eine Frau aus der Provinz Latakia, die mit einem Ingenieuroffizier der Militärakademie in Aleppo verheiratet ist, berichtete von ihrem Leidensweg: „Mein Mann zog sich ohne Vorwarnung mit einem Militärkonvoi zurück, so dass er weder mich noch seine Mutter mitnehmen konnte. Wir suchten Zuflucht im Haus einer Bekannten in Hamdaniya, einer Frau aus Idlib. Sie gab uns schwarze Tücher, die wir als Tarnung benutzen konnten. Wir beschlossen, zu unserem Haus zurückzukehren, um einige Habseligkeiten zu holen und dann aus Aleppo zu fliehen.“

Sie fuhr fort: „Bewaffnete Männer hielten uns auf der Straße an und fragten: ‚Wo wollt ihr hin? Wisst ihr nicht, dass das verboten ist?‘ Wir sagten ihnen, dass wir unser Haus verlassen hätten und dorthin zurückkehren würden. Sie ließen uns passieren, und wir setzten unseren Weg fort. „Am Eingang zu unserem Haus erschien ein Offizier, der es bewachte – es war als Offiziersheim ausgewiesen. Als wir darum baten, es betreten zu dürfen, schrie er uns an und bedrohte uns, so dass wir gezwungen waren, es zu verlassen, ohne etwas von unseren Habseligkeiten mitzunehmen.“

Zeugenaussagen von der Front

„Wir zogen uns nach Al-Safira zurück, das ein Sammelpunkt für die Truppen war, aber als wir erfuhren, dass Khan al-Assal gefallen war, zogen wir uns an die Küste zurück. Das war, bevor die Khanaser-Autobahn abgeschnitten wurde“, sagte ein vierzigjähriger Offizier aus dem Umland von Latakia, der an der Militärakademie in Aleppo stationiert gewesen war. Seiner Aussage zufolge ereigneten sich diese Geschehnisse, nachdem die Offiziere der Akademie am frühen Morgen den Befehl erhalten hatten, sich nach Al-Safira zurückzuziehen, ohne eine Erklärung für diese Entscheidung zu erhalten.

Die Kontrolle über Al-Safira im Umland von Aleppo ist von strategischer Bedeutung, da sich dort Munition, Fabriken zur Herstellung von Raketen und möglicherweise auch Lager für chemische Munition befinden. Israelische Sicherheitsquellen haben ihre Besorgnis darüber geäußert, dass syrische Oppositionsgruppen (insbesondere Hay’at Tahrir al-Sham) strategische Einrichtungen in Nordsyrien einnehmen könnten – darunter auch das Zentrum für wissenschaftliche Studien und Forschung, das mit der Entwicklung von Chemiewaffen in Verbindung gebracht wird.

In einem ähnlichen Bericht schilderte ein Angehöriger der regulären Armee aus dem Umland von Latakia, dass er mit einer Truppe von 250 Soldaten der 25. Division und einem Regiment der 4. Division in Richtung Safira unterwegs war. „Wir waren schockiert, als wir feststellten, dass die oppositionellen Kämpfer etwa 3.500 Mann stark waren“, so Muhammad. „In Anbetracht der Lage haben wir uns für den Rückzug entschieden.

Youssef, ein 26-jähriger Soldat, der seinen Wehrdienst ableisten muss, berichtet: „Wir flohen zu Fuß von Khan al-Sabil in der Provinz Idlib nach Qamhana im Norden der Provinz Hama. Es dauerte 48 Stunden. Ich kann den Terror und die Erschöpfung, die wir ertragen mussten, gar nicht beschreiben. Ein Soldat kann nicht mit Rationen kämpfen, die kaum ausreichen, um einen Vogel zu füttern.

Nahrungsmittelknappheit ist ein immer wiederkehrendes Problem für die Armee. Ein junger Mann aus einem Dorf in der Region Masyaf im Westen der Provinz Hama erklärte, dass die Einwohner, von denen die meisten der alawitischen Glaubensgemeinschaft angehören und das Regime weitgehend unterstützen, tun, was sie können, um zu helfen. „Trotz extremer Armut kochen viele Dorfbewohner Mahlzeiten für die Soldaten. Ich kenne eine Frau, die nur vier Hühner besaß, und sie hat alle geschlachtet, um die jungen Männer in der Armee zu ernähren“.

Tariq, ein 44-jähriger Ingenieur aus dem Umland von Tartus, der vor drei Jahren seinen Pflichtdienst absolvierte, teilte seine Sichtweise: „Das Problem ist, dass diese jungen Männer, die auf dem Schlachtfeld sterben, machtlos sind. Sie sind weder ausreichend bewaffnet, ausgebildet noch verpflegt, und die Korruption unter den Offizieren ist auf höchster Ebene weit verbreitet. Dennoch sind sie die einzige Hoffnung für die Dorfbewohner, die durch das Regime verarmt sind, von dem sie nun abhängig sind. Diese Menschen sitzen in der Falle und sind gezwungen, zwischen dem Schlechten und dem Schlimmeren zu wählen“. Er fügte hinzu: „Diese jungen Männer sind gezwungen zu kämpfen, weil der Militärdienst obligatorisch ist, wie jeder weiß. Die wirkliche Angst ist die vor Vergeltungsmaßnahmen dieser militanten Gruppen gegen eine arme Bevölkerung, die unter dem Regime nur Blutvergießen und Zerstörung erleidet, während nur wenige davon profitieren. Die Angst besteht darin, dass die Rache an diesen verarmten Menschen für die Handlungen einzelner Personen, die sie in keiner Weise repräsentieren, ausgeübt wird“.

Tariq brachte seine Enttäuschung zum Ausdruck: „Die alawitische Glaubensgemeinschaft befindet sich in einer Zwickmühle, zwischen beiden Seiten des Konflikts, ähnlich wie andere Glaubensgemeinschaften. Können wir nicht gegen Mord und Übergriffe Stellung beziehen, unabhängig davon, wer sie begeht? Können wir nicht aufhören, ein Verbrechen mit einem anderen zu rechtfertigen?“, fragte er, wobei sein Tonfall von Frustration geprägt war.

Die Krankenhäuser von Aleppo

Mohsen, ein freiwilliger Arzt des Verteidigungsministeriums im Tishreen-Militärkrankenhaus in Damaskus, teilte seinen Bericht: „Ich habe von Kollegen im Militärkrankenhaus von Aleppo erfahren, dass Bewaffnete in die Einrichtung eingedrungen sind, ihre Ausweise eingesammelt und die Mitarbeiter in zwei Gruppen aufgeteilt haben – Zivilisten, die freigelassen wurden, und Soldaten, die zur Hinrichtung ausgesondert wurden.“ Mohsen zufolge wurden die Soldaten massenhaft getötet. „Er fügte hinzu: ‚Keiner der Medien hat darüber berichtet, weil die Opposition bei ihrem so genannten Management von Militäroperationen die Fassade der Zivilität aufrechterhalten will, während die Regierungsmedien es vermeiden, ihre Verluste zu erwähnen.‘

Mohsen brachte seine Empörung über den Vorfall zum Ausdruck: „Sie haben jeden mit einem militärischen Rang im Krankenhaus auf der Stelle hingerichtet. Eine Krankenschwester, die als Assistentin eingestuft ist, hat einen militärischen Rang, und Ärzte gelten als Offiziere – einige sogar als Brigadegeneral oder Oberst. Diese Ränge sind jedoch symbolisch und werden aufgrund des Dienstalters verliehen. Diese Personen kämpfen nicht und erteilen keine militärischen Befehle. Sie sind Ärzte, die allen Syrern hätten helfen können“. Er fügte hinzu: „Ich trauere um die Ärzte und das Militärkrankenhaus selbst, das unter diesen schlimmen Umständen wichtige medizinische Dienste und Operationen hätte anbieten können.“

Der Direktor des Universitätskrankenhauses von Aleppo, Dr. Akram al-Asaad, entschied sich ebenfalls, sein Schweigen über einen Luftangriff auf das Krankenhaus zu brechen. „Wenn ich schweige, werde ich sterben“, sagte er in einer aufgezeichneten Nachricht mit spürbarem Entsetzen in seiner Stimme. „Dies ist das Universitätskrankenhaus, in dem wir studiert haben. Es zu zerstören, ist nicht zu rechtfertigen.“ Auf die Frage, wer für den Bombenanschlag verantwortlich sei, antwortete Dr. al-Asaad: „Die Luftwaffe ist unbekannt – es ist entweder die russische oder die syrische. Möge Gott diejenigen beschützen, die vorhaben, gegen euch zu fliegen.“

Ein in Latakia tätiger Arzt kommentierte die syrischen und russischen Luftangriffe auf das Universitätskrankenhaus von Aleppo mit den Worten: „Ich unterstütze den Einsatz gegen militante Terroristen, wo immer sie sich aufhalten.“

Ein anderer Arzt aus dem Umland von Tartus vertrat eine andere Meinung: „Ich bin dafür, jeden ins Visier zu nehmen, der syrische Zivilisten tötet, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit, aber nicht, wenn dadurch unschuldige Leben gefährdet werden. Das ist nicht zu rechtfertigen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Terroristen würden in das Al-Basel-Krankenhaus in Tartus eindringen – Gott bewahre – und das Krankenhaus würde daraufhin bombardiert. Wo ist da die Logik?! Wenn wir ein Land aufbauen wollen, in dem wir alle leben können, können wir nicht für andere akzeptieren, was wir für uns selbst nicht akzeptieren würden.“

***

Diese Aussagen spiegeln eine Reihe von widersprüchlichen Gefühlen wider – Angst, Wut, Versuche der Rationalisierung und Vorbereitung auf das, was vor uns liegt. Doch hinter all dem verbirgt sich eine nackte Realität: Die Menschen fühlen sich zwischen einem tyrannischen Regime und extremistischen Gruppierungen gefangen, ohne dass es einen klaren Weg zum Frieden gibt.

Erschienen in der englischen Übersetzung von Anas Al Horani am 4. Dezember 2024 auf Al-Jumhuriya, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Between a Rock and a Hard Place – Stimmen von der syrischen Küste

Fünf Tage, die die Waage in Syrien zum Kippen brachten

Sadiq Abdul Rahman

Erste Fakten und Schlussfolgerungen aus der Schlacht um die „Abschreckung der Aggression“

Innerhalb weniger Tage hat das syrische Regime die Kontrolle über weite Gebiete im Norden des Landes verloren, darunter Dutzende von Dörfern, Städten und Ortschaften, einschließlich der Stadt Aleppo mit ihrem großen urbanen, wirtschaftlichen, menschlichen und symbolischen Gewicht. Auch wenn es bei diesen Ereignissen viele Unbekannte gibt, die es schwierig machen, sie zu analysieren und ihren Ausgang vorherzusagen, gibt es doch einige grundlegende Fakten, die man im Hinterkopf behalten sollte, wenn man versucht, nachzudenken, zu analysieren und sich Meinungen und Positionen zu bilden.

Die vielleicht wichtigsten Fakten sind, dass das Regime einige dieser Gebiete während der gesamten Kriegsjahre gehalten und erbittert verteidigt hat, dass es lange und erbitterte Kämpfe geführt hat, bis es große Teile davon zurückerobern konnte, und dass es bei diesen Verteidigungs- und Rückeroberungskämpfen Zehntausende seiner syrischen Kämpfer und die seiner iranischen Verbündeten geopfert und Tausende von russischen und syrischen Luftangriffen und Hunderttausende von Granaten, Raketen und Geschossen eingesetzt hat, wobei es zusätzlich zu Zehntausenden von Todesopfern unter den Gruppen, die sich seiner Herrschaft widersetzten, Zehntausende von Opfern unter der Zivilbevölkerung und umfangreiche Zerstörungen gab, die auf Milliarden von Dollar geschätzt werden. Seine Erfolge vor Ort, insbesondere sein wichtigster Meilenstein im Jahr 2016, als er die östlichen Stadtteile von Aleppo zurückeroberte, waren sein bedeutendster „Sieg“ über seine Gegner, und all das könnte sich innerhalb weniger Tage in Luft aufgelöst haben.

Dieses Ereignis, das in der vergangenen Woche noch unvorstellbar gewesen wäre, wird in den kommenden Monaten und Jahren zweifellos von grundlegender Bedeutung sein. Das erste, was sich daraus ableiten lässt, ist die Schwäche und extreme Zerbrechlichkeit des syrischen Regimes, die all die Rhetorik der letzten Jahre über seinen „Sieg“ untergräbt. Unabhängig davon, ob es dem Regime nicht gelungen ist, diese Gebiete zu verteidigen, oder ob es sie aus Gründen, über die viel analysiert und spekuliert wird, nicht ernsthaft verteidigen wollte, bleibt das Ergebnis dasselbe: Es wirft schwierige Fragen für die russischen und iranischen Verbündeten des Regimes auf, ob ihre aktive Beteiligung am Schutz des Regimes weiterhin sinnvoll ist, und auch für diejenigen, die das Regime normalisieren und seine Wiederherstellung der Legitimität und der territorialen Kontrolle über das gesamte Land unterstützen wollen.

Tatsache ist auch, dass diese Schlacht nicht „plötzlich in einem stabilen Gebiet“ begann, wie diejenigen, die die lokalen syrischen Nachrichten nicht verfolgen, gemeinhin glauben, nachdem arabische und ausländische Medien die Berichterstattung über den „Krieg, der in Syrien zu Ende ging“, jahrelang eingestellt hatten. Von Anfang dieses Jahres bis Mitte Oktober haben das syrische Regime und seine Verbündeten in Nordsyrien 66 Zivilisten, darunter 18 Kinder, getötet, Hunderte von Menschen verletzt und Zehntausende vertrieben. Hinzu kommen Hunderttausende von Vertriebenen aus den vom Regime in den letzten Tagen verlorenen Gebieten, die gewaltsam aus ihren Häusern in den von den Regierungstruppen kontrollierten Gebiete vertrieben wurden und nun auf eine Rückkehr hoffen, Abertausende von ihnen leben seit Jahren in Lagern an der syrisch-türkischen Grenze. All dies ist nicht ohne politischen Kontext, vielmehr ist es das Scheitern aller politischen Initiativen, die darauf abzielen, die Legitimität des Regimes durch kleine oder große politische Verschiebungen und Absprachen wiederherzustellen, von der arabischen Initiative im vergangenen Jahr bis zur türkischen Initiative in diesem Jahr.

Unterm Strich hat sich die Aussage, dass es ohne eine „politische Lösung“, bei der das Regime ernsthafte Zugeständnisse macht, keine Stabilität in Syrien geben kann, die viele für einen bloßen „politischen Slogan“ hielten, als absolut richtig erwiesen. Die arabischen und türkischen Initiativen versprachen dem Regime eine Normalisierung, Unterstützung bei der Bewältigung der westlichen Sanktionen und Hilfe bei der Entsorgung seiner Taten. Im Gegenzug musste das Regime politische Bedingungen schaffen, unter denen Syrien aufhört, eine Quelle der Instabilität zu sein, die Syrer aufhören, ihr Land auf jede erdenkliche Weise als Flüchtlinge zu verlassen, und ein Teil der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens sicher zurückkehren kann. Neben diesen beiden Initiativen gemeinsamen Forderungen stellten die arabischen Staaten auch Forderungen in Bezug auf die Eindämmung des Zustroms syrischer Kämpfer und die Begrenzung des iranischen Einflusses in Syrien, und der türkische Staat hatte Forderungen in Bezug auf die Zusammenarbeit des Regimes in seinem Krieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Mit Ausnahme des türkischen Ersuchens um Zusammenarbeit gegen die PKK, das das Regime offensichtlich nicht abgelehnt hätte, wenn die anderen Bedingungen für eine Verständigung mit der Türkei erfüllt worden wären, hat das Regime nicht einmal versucht, bei einem der anderen Punkte außer Versprechungen und Worten etwas Ernsthaftes anzubieten. Ob es das nicht kann oder will, darüber gehen die Analysen auseinander, das Ergebnis ist dasselbe: Was in den letzten Tagen geschehen ist, beweist, dass es sinnlos ist, Stabilität in Syrien zu erwarten, ohne dass sich das syrische Regime auf einen ernsthaften politischen Prozess einlässt, den es seit 2011 hartnäckig und unerschütterlich ablehnt.

Es ist nützlich, sich die Identität der Gruppierungen ins Gedächtnis zu rufen, die heute ihre Kontrolle in Syrien ausweiten. Es handelt sich dabei nicht nur um „Dschihadisten“, wie viele gerne sagen, um sich von der Komplexität zu befreien oder ihre vorgefassten Meinungen zu festigen, und auch nicht um „Freiheitsrebellen“, wie andere aus demselben Grund gerne sagen, nämlich um sich von der Komplexität zu befreien oder ihre vorgefassten Meinungen zu festigen. Hayat Tahrir al-Sham (HTS) führt die Fraktionen des “Militärischen Operationskommando” an, die am vergangenen Mittwoch in Idlib und im Westen von Aleppo die Schlacht „Abschreckung der Aggression“ begonnen haben. HTS, wie sie genannt wird, ist die ehemalige al-Qaida-Tochter Jabhat al-Nusra, d. h. sie war bereits eine dschihadistische Organisation, versucht aber seit Jahren, unter ihrem Anführer al-Joulani ihr Gesicht zu wahren, indem sie den größten Teil ihrer dschihadistischen Rhetorik, nicht aber ihre religiöse Hardliner-Rhetorik, aufgibt und eine organisierte Herrschaft in Idlib aufbaut. Sie hat in Idlib eine organisierte Herrschaft aufgebaut, die das Leben der Menschen verwaltet, gegen ihre Gegner – hauptsächlich Dschihadisten – vorgeht, wenn sie sich gegen ihre Umgestaltungen aussprechen oder ihre Autorität in Frage stellen, in Gefängnissen Folter praktiziert, Demonstrationen gegen sie mit einer Kombination aus blutiger Gewalt und Manövern unterdrückt, wie es Diktaturen tun, und sich merklich bemüht, sich selbst zu vermarkten, indem sie sich von „dschihadistischer Rhetorik und dschihadistischem Verhalten“ abwendet, wie in den letzten Tagen deutlich zu sehen war. Aber sie kämpfen nicht allein. Es gibt Tausende von Kämpfern anderer Gruppierungen, von denen einige immer noch salafistisch-dschihadistisch sind, die meisten aber nie dschihadistisch waren. Es handelt sich um verschiedene lokale regimefeindliche und zumeist islamistische Gruppierungen, von denen viele für die Rückkehr in ihre Heimat kämpfen, aus der sie vom Regime gewaltsam vertrieben wurden, oder um den Traum zu verteidigen, dass das syrische Regime abtritt und ein neues, weniger tyrannisches politisches System im Lande errichtet wird.

Die „Syrische Nationale Armee“, die später vom nördlichen Stadtgebiet von Aleppo aus eine Schlacht unter dem Namen „Morgenröte der Freiheit“ ankündigte, wird von der Türkei nahestehenden Gruppierungen angeführt. Es stimmt, dass die Fraktionen des “Militärischen Operationskommando” auf verschiedenen Ebenen ebenfalls von der Türkei unterstützt werden, aber der Unterschied zwischen ihnen und den Fraktionen der “Syrischen Nationalen Armee” besteht darin, dass letztere der Türkei vollständig untergeordnet sind und ihre Kämpfe und wichtigsten militärischen Anstrengungen darauf ausgerichtet sind, die SDF zu bekämpfen, um der nationalen Sicherheit der Türkei und ihren Kämpfen gegen die Kurden zu dienen. Natürlich gibt es keinen Zweifel daran, dass es unter diesen Gruppierungen solche gibt, die früher in der “Freien Syrischen Armee” gegen das syrische Regime gekämpft haben, und dass viele von ihnen für die Verteidigung ihrer Gebiete kämpfen oder dorthin zurückkehren, nachdem sie von dort vertrieben wurden, aber das vorherrschende Merkmal ist die totale Abhängigkeit von der Türkei sowie das extreme Chaos, die internen Streitigkeiten, die Übergriffe und die verschiedenen Verbrechen, und das vielleicht auffälligste Merkmal in der Geschichte der “Syrischen Nationalen Armee” ist ihre gemeinsame Verantwortung mit dem türkischen Staat für das andauernde Verbrechen in Afrin gegen die Kurden, das Zwangsvertreibungen, Morde und den Diebstahl von Lebensgrundlagen und Eigentum umfasst.

Wir müssen uns all diese Details ins Gedächtnis rufen, um zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen zu gelangen: Es ist nicht richtig, all diese Gruppierungen auf „Dschihadisten“ oder „Anhänger der Türkei“ zu reduzieren, da dies nur dazu beiträgt, Missverständnisse zu verstärken. Es ist auch nicht möglich, auf „Stabilität“, „Sicherheit“ und „Wandel“ zu setzen, die dieses explosive Gemisch mit sich bringt, dessen innere Konflikte seit 2013 nicht einen einzigen Tag aufgehört haben, und auch die Verbrechen und Übergriffe der meisten seiner Hauptakteure haben seither keinen einzigen Tag aufgehört.

Eine weitere entscheidende Tatsache, die vielleicht die wichtigste ist, wenn man über den Ausgang der kommenden Tage nachdenkt, ist, dass das, was passiert ist, zumindest anfänglich das Ergebnis der Erlaubnis der Türkei war, Druck auf das syrische Regime auszuüben, das alle Initiativen zur Verständigung mit ihm ablehnt, und das Vakuum auszunutzen, das der Rückzug der Hisbollah und der Rückgang der Macht der iranischen Milizen in der Region hinterlassen hat, und dass es türkische, russische und iranische Absprachen gibt, die die Situation vor dieser Schlacht durch den Astana-Prozess herbeigeführt haben, und dass andere Absprachen die Situation nach dieser Schlacht herbeiführen werden, es sei denn, diese Dreigleisigkeit wird vollständig begraben, was bedeutet, dass sich in Syrien eine neue Wende vollzieht, über die man heute nur schwer spekulieren kann. In den kommenden Tagen werden wir wissen, ob sich die regimefeindlichen Gruppierungen im Rahmen der vorher festgelegten internationalen Absprachen bewegt und an diese gehalten haben oder ob sie auf eigene Faust über die Grenzen der Absprachen hinausgegangen sind, als sie die Gelegenheit dazu sahen. In jedem Fall wird das, was sie getan haben, niemandem nützen, nicht einmal ihnen selbst, und zu einem neuen schrecklichen Massaker durch das Regime und seine Verbündeten und zu einer Dummheit führen, aus der das Regime trotz seiner extremen Schäbigkeit und seines Versagens vor Ort politisch gestärkt hervorgehen wird, wenn die Fraktionen ohne internationale Absprachen und Vereinbarungen, die sicherstellen, dass Wohngebiete nicht auf Kosten ihrer Bewohner zerstört werden, in diesem Umfang expandieren.

Solange das Bild nicht vollständig ist, gibt es nur eines, das Syrien in eine weniger schlimme Lage bringen kann: eine innere oder äußere Veränderung, die das Regime zwingt, sich auf echte politische Verhandlungen über die Zukunft des Landes einzulassen. Die nächsten Tage werden viele der fehlenden Teile des Puzzles offenbaren.

Erschienen am 2. Dezember 2024 auf der arabischen Website von Al-Jumhuriya, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Fünf Tage, die die Waage in Syrien zum Kippen brachten

Erklärung zu den jüngsten Entwicklungen in Syrien

SDF Generalkommando

In dieser Woche gab es einen Großangriff und erhebliche Kräfteverschiebungen. In Aleppo und anderen Regionen haben die Regierungstruppen von Damaskus Niederlagen erlitten. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Angriff vom türkischen Besatzungsstaat orchestriert wird, mit dem Ziel, das gesamte syrische Territorium zu besetzen. Das Hauptziel dieses Angriffs sind jedoch nach wie vor die Gebiete unter der Autonomieverwaltung, um das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Völker der Region, darunter Kurden, Araber, Syrer und andere Gemeinschaften, zu verhindern. Die Regionen der Autonomieverwaltung sind einem groß angelegten Angriff ausgesetzt, der sich insbesondere auf die Gebiete von Al-Shahba’a und Aleppo konzentriert. Dies stellt eine ernste Bedrohung für das Überleben unseres Volkes dar.

Dieser kritische Moment stellt einen historischen Wendepunkt für alle Syrer dar, insbesondere für diejenigen, die in der Demokratischen Autonomieverwaltung leben. Das einzige Ziel dieses Angriffs ist es, unsere sicheren Gebiete einzunehmen und schließlich syrisches Territorium zu besetzen. Der Angreifer will allen Völkern in der Region Leid zufügen.

Seit mehreren Tagen leisten unsere tapferen Kämpfer erbitterten Widerstand gegen die anhaltenden Angriffe an der Manbij-Front und westlich des Euphrat.

Unsere Demokratischen Kräfte Syriens haben ihre Pflicht zur Befreiung und zum Schutz der Region stets erfüllt. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu dieser historischen Verantwortung, koste es, was es wolle. Wir werden diesen Angriffen entschlossen entgegentreten und unsere historische Pflicht erfüllen, die Region und ihre Menschen zu schützen. Es sollte keinen Zweifel an unserer Entschlossenheit geben. Wir appellieren an alle, dem Aufruf zur Mobilisierung der Bevölkerung zu folgen und sich eng mit den SDF und den Kräften der inneren Sicherheit abzustimmen. Es ist unerlässlich, dass wir in diesen schwierigen Zeiten zusammenstehen.

In diesen historischen Tagen rufen wir unsere Bevölkerung auf, sich gemeinsam für die Verteidigung ihrer Dörfer, Städte und der gesamten Region einzusetzen. Wir müssen uns am revolutionären Krieg des Volkes beteiligen und unsere Pflicht erfüllen, unser Heimatland zu schützen. Wir rufen die Jugend der Region, darunter Kurden, Araber, Syrer, Assyrer, Armenier und Tscherkessen, dazu auf, ihre historische Rolle zu erfüllen, indem sie sich den Widerstandsfronten anschließen und in die Reihen der SDF, YPG und YPJ eintreten.

Der gegenwärtige Krieg ist ein edler Kampf für Menschlichkeit und Menschenwürde. Es ist ein Krieg zum Schutz der Werte der Freiheit und der Zivilisation gegen die obskurantistischen Ideologien von ISIS und Erdogan. Es ist ein Krieg für das Licht und die Befreiung, ein Krieg, der eine Zukunft der Koexistenz und der Brüderlichkeit zwischen den Völkern garantiert.

Wir rufen die jungen Männer und Frauen der Region auf, sich den SDF anzuschließen und zum Aufbau einer freien Zukunft beizutragen. Wir sind zuversichtlich, dass wir mit der aktiven Beteiligung unserer Jugend diesen Angriff abwehren und die Pläne der türkischen Besatzung und ihrer Söldner vereiteln können.

SDF Generalkommando

1. Dezember 2024

Übersetzt aus dem englischen von Bonustracks

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Erklärung zu den jüngsten Entwicklungen in Syrien

Überall steigen die Spannungen

n+1

In der Dienstagabendrunde des Telemeetings wurde zunächst auf die Kriegssituation im Nahen Osten eingegangen.

Kürzlich haben die israelischen Streitkräfte UNIFIL-Stützpunkte im Südlibanon entlang der „blauen Linie“ angegriffen, mit der klaren Absicht, sie zum Rückzug zu zwingen. Bei dem Angriff wurden Kameras und Beobachtungstürme zerstört, und es gab einige Verletzte unter den Blauhelmen. Die Außenminister Frankreichs, Deutschlands, Italiens und des Vereinigten Königreichs brachten ihre Enttäuschung zum Ausdruck, während Israel erklärte, es habe das UNIFIL-Kommando zuvor zum Rückzug aufgefordert. Die UN-Truppen sind seit Anfang der 1980er Jahre als „militärische Eingreiftruppe“ im Libanon präsent, aber offensichtlich ist das Momentum der Vermittlung dem Momentum des offenen Krieges gewichen.

Der Hisbollah gelang es, tief in israelisches Hoheitsgebiet einzudringen, indem sie mit Drohnen ein Ausbildungslager der Golani-Brigade in der Nähe von Haifa angriff. Die feindlichen Abwehrsysteme konnten die Drohnen nicht abfangen, und eine von ihnen traf offenbar eine Kantine, wobei vier israelische Soldaten getötet und mehrere weitere verletzt wurden. Trotz der Enthauptung der Hamas- und Hisbollah-Führungsspitze sind die Netzwerke der Milizen noch lange nicht zerschlagen. Einige Analysten weisen darauf hin, dass die islamistische Organisation abgesehen von den führenden Persönlichkeiten über eine Netzwerkstruktur verfügt. Da in regelmäßigen Abständen Führungspersönlichkeiten getötet werden, steht die Hamas vor dem Problem, ihre Kader ständig zu erneuern. Die Struktur ist auch deshalb schwer zu beseitigen, weil sie wie ein Wohlfahrtsstaat funktioniert und in der Bevölkerung verwurzelt ist. Die Hisbollah im Libanon ist eine politische Partei, die im Parlament sitzt, Bürgermeister und Minister stellt und mit ihrem Unterstützungsnetzwerk einem großen Teil der schiitischen Bevölkerung Rückhalt gibt. In beiden Fällen handelt es sich um Strukturen, denen es gelingt, sich selbst nach schweren Schlägen zu regenerieren.

Nach dem Anschlag auf die Zwillingstürme am 11. September war von asymmetrischer Kriegsführung die Rede, als zwei zivile Verkehrsflugzeuge benutzt wurden, um das Herz der Vereinigten Staaten anzugreifen. Am 7. Oktober gelang es der Hamas, mit ganz alltäglichen Mitteln wie Pick-up-Trucks und Motorrädern auf israelisches Gebiet vorzudringen und in Tel Aviv eine starke Wirkung zu erzielen. Bei näherer Betrachtung ist es nicht korrekt, von Asymmetrie zu sprechen, denn wenn es zu einem Krieg kommt, bedeutet dies, dass eine gewisse Form von Symmetrie hergestellt wurde. Im Falle eines Konflikts neigt jeder Akteur dazu, sich an die Züge des Gegners anzupassen: Wenn die digitale Kommunikation abgehört wird, geht man zur analogen Kommunikation über. Die Regeln des Wargames sind kybernetisch (wenn/dann).

Die Nachrichten von der libanesischen Front sind bruchstückhaft, da die Kriegszensur in Kraft ist. In einem auf La7 ausgestrahlten Interview weist Lucio Caracciolo darauf hin, dass der israelische Vormarsch im Libanon nicht gut verläuft, dass die internationale Unterstützung für Tel Aviv abnimmt und dass vor allem die Gefahr eines Bürgerkriegs innerhalb Israels wächst. Das Chaos wird endemisch, und zwar nicht nur im Nahen Osten. In Afrika befindet sich der Sudan mitten im Bürgerkrieg, ein Konflikt, der auf die Nachbarländer überzugreifen droht. Die Ukraine steht kurz vor dem Zusammenbruch und die Zahl der Deserteure nimmt zu. Die Spannungen zwischen den beiden koreanischen Staaten nehmen zu. China hat eine massive Militärübung rund um Taiwan gestartet.

Wir befinden uns in einer Übergangsphase: Die Generalprobe für einen Weltkrieg ist im Gange. Trotz Konflikten, sozialem Chaos und sich auflösenden Staaten haben wir noch nicht die Art von Polarisierung erreicht, die zu einem offenen Zusammenstoß zwischen imperialistischen Giganten führt. Selbst unter dem Gesichtspunkt der Rüstung zeigt die Analyse des russisch-ukrainischen Konflikts einerseits den Einsatz von Satelliten, Elektronik und Drohnen und andererseits den Einsatz von Panzern, Stacheldraht und Schützengräben, Werkzeugen der vergangenen Kriegsführung.

Auf dem BRICS-Gipfel in Kasan, Russland, wird die Teilnahme von fünf neuen Mitgliedern auf der Tagesordnung stehen: Saudi-Arabien, ein Verbündeter der USA und Israels (siehe das Abraham-Abkommen in anti-iranischer Funktion), Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Äthiopien und Iran. Innerhalb der Gruppierung hat Indien keine friedlichen Beziehungen zu China. Der brasilianische Präsident Lula wird eine verstärkte Verwendung der nationalen Währungen vorschlagen, um den US-Dollar unter den Mitgliedsländern zu ersetzen. Die Amerikaner müssen die Hegemonie des Dollars verteidigen, aber sie sind 300 Millionen gegen die 3 Milliarden in China und Indien. Der Begriff „Globaler Süden“ bezieht sich auf die meisten, aber nicht alle „nicht-westlichen Länder“; seine Verwendung dient dazu, zu betonen, dass die aufstrebenden Volkswirtschaften mehr Macht über die globalen Angelegenheiten haben wollen. Es gibt jedoch kein Land , das an der Spitze dieser Phantomfront steht.

Aus dem Chaos der Welt werden sich deterministisch neue Strukturen bilden. Wir stürzen in eine scheinbare Sackgasse, aber in Wirklichkeit ist es das kapitalistische System, das an sein Ende gekommen ist, während sich eine neue Gesellschaftsform durchsetzen wird. Das Buch Caos. La nascita di una nuova scienza (Chaos. Die Geburt einer neuen Wissenschaft) von James Gleick erklärt, dass es in der Natur keine Schöpfung gibt: Wenn eine neue Ordnung entsteht, bedeutet dies, dass es im Chaos Attraktoren gibt. Wir sind uns sicher, dass der Kapitalismus tot ist und dass die künftige Gesellschaft bereits auf die gegenwärtige einwirkt, aber gleichzeitig wissen wir, dass der Übergang zu n+1 zu katastrophalen Situationen mit Hunderten von Millionen von Toten führen würde. Deshalb ist eine „Umkehrung der Praxis“ dringend erforderlich. Das kapitalistische System ist ein integriertes, aber auch sehr anfälliges System: Wenn einige wenige Glieder der globalen Vertriebskette (Versorgungskette) ausfallen, können Metropolen mit 15 oder 20 Millionen Einwohnern ohne Grundversorgung dastehen. Der weltweite Internetverkehr läuft über Unterwasserkabel, die mit Unterwasserdrohnen sabotiert werden können. Die Pandemie von Covid-19 hat gezeigt, dass die Welt miteinander verbunden ist, dass aber ein koordiniertes Handeln zwischen den Staaten nicht möglich ist: Wir haben gesehen, dass, um eine solche Situation ernsthaft anzugehen, eine Eine-Welt-Regierung erforderlich ist, ein Organismus, „der die Verteidigung der menschlichen Gattung gegen die Gefahren der physischen Umwelt und ihrer evolutionären und wahrscheinlich katastrophalen Prozesse übernimmt”.(Tesi di Napoli /1965).

Wir haben keine schrittweise Konzeption der Revolution: Der Übergang vom Kapitalismus zur künftigen Gesellschaft wird katastrophal sein, wie in Teoria e azione nella dottrina marxista (Theorie und Aktion in der marxistischen Lehre) (1951) beschrieben, wo wir Hinweise auf die „Katastrophentheorie“, „Scheitelpunkte ‚ und ‘singuläre Punkte“ finden.

Oxfam, ein internationaler Zusammenschluss von Non-Profit-Organisationen, veröffentlicht jährlich einen Bericht über Ungleichheit: Der Bericht 2024 (über die ideologischen Kapitulationen der Bourgeoisie vor dem Marxismus) konzentriert sich auf die Tatsache, dass die politische Macht den wenigen dient:

„Große und wachsende Ungleichheiten sind ein trauriges Merkmal des Zeitalters, in dem wir leben. Die schweren Krisen der letzten Zeit haben die sozialen Ungleichheiten und Brüche vergrößert und damit das eingeläutet, was wir ohne zu zögern als das ‚Jahrzehnt der großen Klüfte‘ bezeichnen, in dem Milliarden von Menschen gezwungen sind, ihre Zerbrechlichkeiten wachsen zu sehen und die Hauptlast von Epidemien, Lebenshaltungskosten, Konflikten, immer häufigeren extremen Wetterereignissen und einer Handvoll Superreicher zu tragen, die ihr Vermögen in einem paroxysmalen Tempo vermehren.“

Zum Abschluss der Telefonkonferenz wurden die Aussagen von Eric Schmidt, dem ehemaligen CEO von Google, erwähnt, der auf dem KI und Energie Summit in Washington, DC, sprach. Während des Treffens rief Schmidt zu einer stärkeren Entwicklung der künstlichen Intelligenz auf, obwohl Rechenzentren (die die notwendige Rechenleistung bereitstellen) immer mehr Energie benötigen und damit die Kohlenstoffreduktionsziele gefährden. Es gebe keinen Grund zur Besorgnis, so der ehemalige Google-Mann, denn in Ermangelung einer globalen Koordinierung werde die KI selbst das Problem der für ihre Entwicklung benötigten Energie lösen und gleichzeitig dazu beitragen, die Welt vor dem Klimawandel zu retten. Wir haben da unsere Zweifel, denn bei dieser Produktionsweise lassen die Maschinen die Welt verhungern (Mai la merce sfamerà l’uomo / Niemals soll die Ware den Menschen ernähren; 1953)

Veröffentlicht am 20. Oktober 2024 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

Veröffentlicht unter Uncategorized | Kommentare deaktiviert für Überall steigen die Spannungen