Ich kann nicht anders, als mich unter diesen besonderen Umständen auf ganz persönliche Art und Weise zu äußern – eine Art und Weise, die ich nicht umgehen kann, denn dieses Jahr 2023 war für mich und meine Familie und für viele von uns Genossen voller schmerzlicher Verluste, von denen der erste, der meines kleinen Sohnes Jacopo, der mich am unmittelbarsten betraf, mir heute wie eine dunkle Vorahnung erscheint. Ich erlaube mir daher, hier neben vielen anderen, die von ähnlicher emotionaler Intensität sind, die Nachricht von Toni vom 18. Januar 2023 zu zitieren:
„Mich hat die Nachricht erreicht, dass dein Sohn gegangen ist. Er hat sein Leiden beendet. Ich umarme dich, ich umarme dich ganz fest. In brüderlicher Verbundenheit. Ich weiß, dass jedes Wort des Trostes nutzlos ist. Aber ich möchte dich festhalten, dich an meinen Körper drücken, dich spüren lassen, was du weißt: Wir haben ein gemeinsames Leben aufgebaut, und der Schmerz eines jeden ist der Schmerz eines jeden. Fasse Mut. Toni.”
Nun, da mich die Nachricht erreicht hat, dass nach so vielen anderen auch Toni gegangen ist, bin ich immer wieder auf unsagbare Weise von diesem „Schmerz aller, der allen gehört“ überwältigt, und das drängt mich dazu, Trost (ach ja) in seinen Worten zu suchen: in dieser privaten Botschaft wie in den Seiten so vieler seiner Bücher, die mir in einem halben Jahrhundert mehr oder weniger intensiver Verbundenheit immer kostbar waren.
Zu den am wenigsten in Erinnerung gebliebenen Werken gehört vielleicht Il ritorno. Quasi un’autobiografia. Conversazione con Anne Dufourmantelle, Rizzoli 2003. Daraus möchte ich Auszüge aus einer Passage zitieren, die meiner Meinung nach die besondere Intensität der empathischen Reaktion wiedergibt, zu der Toni fähig war und die uns immer wieder auf die Möglichkeit und den Wunsch hinweist, „ein gemeinsames Leben aufzubauen“, in der unermüdlichen Anstrengung, sich das Gemeinsame wieder anzueignen. In Abgrenzung zu jeglichem Paten-Familien-Identitarismus und daher ohne Zugeständnis an die gegenwärtige „Rückkehr der faschistischen Barbarei“ mit ihren „patriarchalischen Gesellschaftsregeln, der Befehlsstruktur zur Ausbeutung und der Souveränität des Eigeninteresses in der politischen Form des Staates“.
La Conversazione – das anlässlich seiner freiwilligen Rückkehr nach Italien und im Gefängnis stattfand – ist wie „eine biografische und biopolitische Fibel“ aufgebaut, „die für jeden Buchstaben Worte wählt, die [für Toni] eine besondere Bedeutung haben“. Und hier, in aller Kürze, eines von denen, von denen ich glaube, dass sie ganz klar eine ganz besondere Bedeutung haben, indem sie einen prägenden Charakterzug von Tonis Persönlichkeit repräsentieren, die seit vielen Jahrzehnten fast ausnahmslos in diesem unterwürfigen Italien von zu vielen Hatern des Regimes in institutionellem oder professionellem Gewand diffamiert worden ist:
P wie Passion: Menschliche Leidenschaften, politische Leidenschaften. Leidenschaft ist der Ort maximaler Intensität in einer bestimmten Zeit?
(…)
…Leidenschaft bedeutet auch, ontologisch gesprochen, Bauen. Passion konstruiert das Sein. Wenn man eine Leidenschaft lebt, konstruiert man Szenen, Horizonte, Strukturen, Sehnsüchte und Freuden für sich und für andere. Leidenschaft führt immer zum Gemeinsamen.
In der Liebesleidenschaft hält man sich lieber aus der Welt heraus.
Das nennt ihr Psychoanalytiker „Wahnsinn zu zweit“. Wahre Leidenschaft ist ein gemeinschaftliches Konstrukt, das sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Paares abspielt. Diese Offenheit ist der aufregendste Aspekt im Leben der Leidenschaft: ein Gefühl der Stärke, ein Wunsch nach Schöpfung – was die Generation und die Kinder betrifft – und daher auch ein Wunsch nach Gemeinschaft, nach Teilen, nach Zusammenarbeit. Ich habe nie gedacht, dass man das Öffentliche dem Privaten opfern sollte oder umgekehrt, denn ich habe sie nie als gegensätzliche Begriffe verstanden. Wenn man jemandem begegnet, der dies teilt, beginnt eine wunderschöne Liebesgeschichte, eine wahre Geschichte voller Sehnsucht. Für mich fiel die Rückkehr nach Italien mit der Verwirklichung einer Sehnsucht nach dieser Art von Liebe zusammen.
Es versteht sich von selbst, dass Toni hier nicht (oder nicht nur) die Liebe eines Paares gemeint hat.
0. Jeder in diesem Land, der sich keinen Aufstand gewünscht hat, ist eine tote Seele, die nichts von den Leidenschaften der Geschichte erfahren hat – aus einem alten Flugblatt aus den Siebenundsiebzigern.
„Vor der Gruppe steht ein grauhaariger Mann in den Vierzigern mit einer runden goldenen Brille. Ein Gesicht auf halbem Weg zwischen einem russischen Terroristen des späten 19. Jahrhunderts und einem Geschäftsmann.” Hier ist er.
1. Als Achtundsechzig und dann Neunundsechzig ausbrachen, war er 35 Jahre alt, hatte aber bereits zehn Jahre Militanz hinter sich. Quaderni rossi, Classe operaia, die Potere operaio veneto-emiliano. Die Streiks der Elektromechaniker, der petrochemischen Fabrik von Porto Marghera, der Brenta-Fabriken. Versammlungen, Flugblätter, Streikposten mit den Arbeitern – ohne Arbeiterbewegung. Die conricerca (1) in Turin, mit Alquati. Die Diskussionen in Rom, mit Tronti. Die Intervention in der Emilia, mit Bianchini. Mit 35 Jahren hatte er einen angesehenen Posten an der Universität, eine Frau und zwei Kinder. Es gab genug, um die Ruder im Boot zu ziehen, um sich seiner Karriere zu widmen, dem Herd, respektablen Meinungen. Den Kampf hinter sich zu lassen – „meins habe ich schon gegeben“. Ein bereits festgelegtes bürgerliches Leben.
Unter diesen Bedingungen beginnt ein zweites Jahrzehnt der Militanz. Die 1970er Jahre.
2. Wie einer unserer Genossen sagt, sind (waren) sie in einer anderen Liga. Diese Art von Mann und Frau spielt in einer anderen Liga. Der Genosse, der jetzt etwas über 35 ist, mit etwas mehr als zehn Jahren Militanz, sagt, dass es nicht nur eine Frage der intellektuellen Vorbereitung ist, sondern der Fähigkeit, über die eigene Art zu leben, zu entscheiden. Um Gewissheit, Entschlossenheit, Unabhängigkeit von persönlichen Beziehungen. Es sind nicht wenige der richtigen Zutaten, die einen Revolutionär ausmachen.
„Es ist schwierig, den Leuten klarzumachen, was es nicht nur für Arbeiter und Studenten in ihren Zwanzigern, sondern auch für Männer in ihren Dreißigern bedeutet, ein militantes Leben zu führen. Es ist nicht nur ein totales zeitliches Engagement, ein riskantes und aufregendes Abenteuer: es ist eine Anstrengung der Selbstveränderung, verstandesmäßig und emotional, theoretisch und politisch“. Wird es weitere solche Männer und Frauen geben? Die Frage ist, wie man das heute möglich machen kann.
3. Wir glauben, dass er in den 1970er Jahren für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum wie Lenin war – oder besser gesagt, ein Lenin in nuce. Er war die Chiffre für diese revolutionäre Bewegung, für diese Klassenzusammensetzung. Die strategische Tiefe, die taktische Präsenz. Die Fähigkeit, den Wandel zu antizipieren, die Subversion zu leben. Die Aktualität der Revolution, nicht so sehr dort, wo der Grad der kapitalistischen Entwicklung am höchsten ist, sondern dort, wo die Subjektivität der Arbeiter am stärksten ist. Der Leninismus ist keine Tätigkeit für Heilige und schwache Mägen. Und diese Momente dauern nicht ewig. Das Fenster schließt sich. In der Tat wissen wir, wie es gelaufen ist. Kollektive und individuelle Parabeln, kollektives und individuelles Elend. Das unerbittliche Danach der besiegten Aufstände. Neue Wege, andere Wege. Die wir, da wo wir herkommen, noch nie befahren haben. Wir kamen nach diesem rot gefärbten Sonnenuntergang, wir sind auf der Suche nach dem Rot einer neuen Morgendämmerung. Darauf, auf das, was danach kam, wollen wir nicht näher eingehen. Stattdessen sollten wir zu den ungelösten Knoten der Niederlage zurückkehren. Der gesellschaftliche Arbeiter, das ungelöste Rätsel der Organisation.
4. In der Wut der Suche nach dem Jetzt vergessen wir die Zeit, die wir brauchen, um über die alten Bücher nachzudenken, die wir gelesen haben, die wir oft vergessen haben, die aber die entscheidendsten sind und immer noch Kraft haben. Die Bücher von damals, als das Fenster noch offen stand. Wir benennen zwei.
5. Crisi dello Stato-piano. (2) Die schwarze Magie der Operaisten. Ein Grimoire über die höllischen Kämpfe zwischen den Schulen der Geisterbeschwörer um die Macht über die Seelen der Kommunisten. Eine obskure Sprache, unergründlich für Sterbliche, die nicht in das arkane Wissen der Grundrisse eingeweiht sind, verbirgt Formeln und Alchemie, mit denen dämonische Geister der Tendenz, der Organisation und der Zusammensetzung beschworen werden können. Nur wenige können von sich behaupten, die mystischen Geheimnisse dieser dämonischen Schrift und die vergessenen Kräfte, die das Necronomicon enthält, vollständig verstanden zu haben. Ironischerweise sind es Texte wie diese, die historisch durch Kampfprozesse bestimmt sind, die in ihre eigene Zeit und die Aufgaben, die sie den politischen Subjektivitäten stellt, eingetaucht sind, in denen wir den Schatten und die Methode Lenins sehen. “Die Arbeiterklasse in Waffen, der Kommunismus in Aktion“.
6. La fabbrica della strategia. (3) Leninistische Methodik und Potenz, in 33 Lektionen, wiederbelebt in der realen Bewegung. Wenn man die Entwicklung verfolgt, gilt das Ausdrückliche auch heute noch. „Schreckliche Zeiten liegen vor uns. Die terroristische Ausnutzung der Krise durch das Kapital, die repressive Umwandlung des Staates, die endgültige Veränderung der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, der Fall des Wertgesetzes: All das sehen wir und wir werden sehen, wie es sich immer stärker gegen uns wendet. Wir werden Widerstand leisten müssen. Wir werden wiederentdecken, dass alle Waffen des Proletariats leninistisch eingesetzt werden müssen – vor allem jene, die uns eine Tradition der Niederlage und des Verrats am stärksten verwehrt. Nach diesen Ausführungen muss jedoch hinzugefügt werden, dass die marxsche und leninistische Definition unserer Aufgabe, den Staat für den Kommunismus zu zerstören, nur im Bewusstsein eines neu zusammengesetzten strategischen Projekts stattfinden kann – und innerhalb eines konsequenten internationalen Zyklus von Arbeiterkämpfen. Es ist eure Aufgabe, als Studenten und Arbeiter, als wir alle, die wir unter der Fahne des Kommunismus marschieren, das Problem des Aufstandes und der Befreiung in subversiver Praxis zu lösen.” Und boom.
7. Genug geredet. Erlaubt uns, diesen ausschweifenden Diskurs auf unsere eigene Art und Weise zu beenden. Die der Irregulären, der Unbeherrschbaren, der Unverbesserlichen – die Art von Männern und Frauen von Intellektuellen und Militanten, die mit 35 Jahren ein zweites Jahrzehnt der Militanz beginnen, mit all der Freude am Kampf und dem aufrichtigen Wunsch nach Revolution, eben deshalb, weil sie keine klassischen Intellektuellen sind und versuchen, Militante zu sein, innerhalb ihrer eigenen Zeit, die sich unerbittlich gegen sie richtet. Mit den Worten eines anderen Banditen, aus einer anderen Bande, aber aus der gleichen Bande. Natürlich ebenfalls aus den 1970er Jahren.
8. „In der Via Disciplini wimmelt es von Menschen – es ist die Redaktion einer Zeitung, die noch nicht erschienen ist – einer Zeitschrift ‚innerhalb der Bewegung‘ – inmitten von tausend Stimmen führen sie uns in einen kleinen Raum voller Bücher und Papiere – sie platzierten uns dort – es sind sechs oder sieben von ihnen, ein großer, schlanker Mann in den Vierzigern – etwas mystisch in seiner Gestik – er hielt eine schwirrende Rede – fast fraktal – wurde mehrmals von den anwesenden Genossen unterbrochen – und gezwungen, seine mit zunehmender Entschlossenheit ausgedrückten Konzepte zu wiederholen – am Ende erlaubte er sich, zugänglichere Formulierungen zu verwenden – ‚Cuccetta [Capanna] – obwohl er nie durch Intelligenz glänzte – hatte er in einem Punkt recht – um eine politische Bewegung von einigen wenigen in eine Massenbewegung umzuwandeln, braucht man eine geschickte Miliz – von hervorragender Qualität – wir haben die Intellektuellen – wir sind unter den Studenten und Arbeitern präsent – wir müssen auch auf die Vorstellungskraft einwirken – um die stärkste Organisation in Mailand zu schaffen – und so dachten wir an euch’ – diese Anspielung auf Cuccetta und die Statisten kam gut an – ‘Noooh!’ – wir antworteten ihm gleichzeitig – ‘Wir waren nicht Cuccettas Statisten – wir werden nicht die Schauspieler eines Regisseurs sein – auch wenn wir die Hauptrolle spielen’ -antwortete ich ihm – ‘Wir sind niemandes Söldner’ – fügte Jack hinzu – dann gingen wir mit einem freundlichen ‘Arrivederci und gute Arbeit!’“
Ein letzter Punkt
9. Methodisch zu arbeiten, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es bedeutet auch, die eigene Geschichte in ihrer Gesamtheit anzunehmen – die Siege und die Niederlagen, die Begrenzungen und die Eroberungen, die Reichtümer und die Tragödien – und damit zu kalkulieren, denn nur so kann man die Arsenale von gestern plündern, um heute noch Schüsse abzufeuern. Über die Begrenzungen und Niederlagen nachdenken, die Reichtümer und Eroberungen assimilieren, sie zur Munition machen – bis zum Sieg. Also: Arrivederci und gute Maulwurfsarbeit, liebe Genossen.
Neben der immer deutlicher werdenden Verschärfung der sicherheitspolitischen Maßnahmen, der Segregations- und Ausgrenzungsmaßnahmen und der Mechanismen zur Bevölkerungskontrolle, die die Kontrolle des europäischen Territoriums in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, erleben wir derzeit gleichzeitig das Erstarken rechtsextremer Positionen. Organisierte neonazistische und neofaschistische Gruppen, die über einen großen Handlungsspielraum außerhalb und innerhalb von Institutionen verfügen, breiten sich immer mehr aus.
Jahrzehntelange tiefe wirtschaftliche und soziale Krisen haben nicht nur die ärmsten und schwächsten Bevölkerungsschichten in die Knie gezwungen, sondern auch einen fruchtbaren Boden für die Propagierung populistischer, identitärer und stark reaktionärer Ideen geschaffen. Verschiedene politische Kräfte, die mehr oder weniger institutionalisiert sind, haben in den letzten Jahren die Früchte dieser Propaganda geerntet: von der wachsenden Zustimmung für die großen europäischen Rechtsparteien wie Rassemblement National, Lega und Fratelli d’Italia, AfD und Vox bis hin zum Erfolg der von Faschisten angezettelten Straßendemonstrationen. Die mazedonische Unabhängigkeitsbewegung in Griechenland, die Infiltration von Faschisten auf mehreren Plätzen gegen die Covid-19-Beschränkungen, die jüngsten Unruhen in Spanien gegen die Amnestie für katalanische Separatisten oder die rassistischen Ausschreitungen in Dublin sind nur einige Beispiele, die einem einfallen.
In diesem Kontext immer deutlicherer und einschneidenderer Unterdrückung und der jähen Neuanpassung des globalen Kapitalismus sind diejenigen, die sich organisieren, um Widerstand zu leisten und die Gewalt von Staaten, Kapital und ihren rechtsextremen Wächtern zu bekämpfen, mit immer umfassenderer und aggressiverer Repression konfrontiert. In dunklen Zeiten, wie wir sie erleben, in denen die Winde des Krieges immer lauter in unseren Ohren pfeifen, werden die Unterdrückung des inneren Feindes und die soziale Befriedung zu den Prioritäten aller nationalen Regierungen.
In diesem allgemeinem Kontext, während die Europäische Union über die Möglichkeit nachdenkt, antifaschistische Gruppen in die Liste der als Terroristen bezeichneten Organisationen aufzunehmen, befinden sich in Ungarn seit Februar 2023 zwei Genossen im Gefängnis. Beide sind in Ermittlungen der ungarischen Polizei wegen Angriffen auf Neonazis verwickelt, die am Wochenende des „Tages der Ehre“ aus ganz Europa nach Budapest gekommen waren. Ein Feiertag, an dem die Nazis der Vernichtung der deutschen Wehrmacht am 11. Februar ’45 durch die Rote Armee während der Belagerung von Budapest gedenken.
Die Anklageburg der ungarischen Staatsanwälte beschränkt sich jedoch weder auf die Ereignisse in Budapest noch auf die Gedenktage: Im Rahmen einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und Polizeibehörden versuchen die Ermittler, die Taten in Ungarn mit einem viel umfassenderen Verfahren in Verbindung zu bringen, das 2018 in Deutschland eröffnet wurde: dem sogenannten „AntifaOst“-Ermittlungsverfahren, in dem mehrere deutsche Genossen beschuldigt werden, Angriffe auf prominente Mitglieder der deutschen Neonaziszene verübt zu haben. Damit soll die Existenz einer kriminellen Phantomvereinigung bestätigt werden, die die Anschläge in Ungarn organisiert haben soll.
Aus diesem Grund hat die ungarische Staatsanwaltschaft neben Ilaria und Tobias, die in Budapest inhaftiert sind, 14 Europäische Haftbefehle gegen ebenso viele deutsche, italienische, albanische und syrische Genossen beantragt. Viele von ihnen sind bis heute unauffindbar.
Gabriele, ein Genosse aus Mailand, steht seit dem 22. November unter Hausarrest mit allen Einschränkungen, nachdem einer dieser Haftbefehle vollstreckt worden ist.
Das Verfahren, in dem über seine Auslieferung von Italien nach Ungarn entschieden wird, wird voraussichtlich im Januar 2024 enden, dem Monat, in dem in Budapest der Prozess gegen Ilaria, Tobias und einen dritten mit ihnen angeklagten Genossen beginnen wird. Ihnen wird vorgeworfen, an den Angriffen beteiligt gewesen zu sein und der mutmaßlichen Vereinigung, die die Angriffe organisiert hat, angehört zu haben oder sie zu kennen.
Am 13. Januar werden wir nicht nur auf die Straße gehen, um unsere Solidarität und Verbundenheit mit den Gefangenen in Budapest sowie mit Gabriele und den gesuchten Genossinnen und Genossen deutlich zum Ausdruck zu bringen, sondern auch, um klar zu machen, dass wir Partei ergriffen haben.
Wir haben uns entschieden, den Kampf gegen Faschisten und Nazis nicht an jene demokratischen institutionellen Apparate zu delegieren, die nichts anderes tun, als sie im Namen einer gepriesenen „Meinungsfreiheit“ zu verteidigen und zu legitimieren. Wir sind überzeugt, dass die Faschisten direkt bekämpft werden müssen, in diesem historischen Moment mehr denn je. Wir fordern militante Praktiken und glauben, dass es notwendig ist, sie in allen Bereichen anzuwenden, um die Nazigruppen zu stoppen.
Auch in italienischen Städten, wenn auch weniger gewalttätig als in anderen europäischen Zusammenhängen, sind Faschisten präsent und versuchen, ihr Haupt zu erheben. Diese Diener des Kapitals, falsche Rebellen, die nur zur Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung dienen, müssen im Keim zerschlagen werden!
Jeden Tag entscheiden wir uns in unseren Kämpfen und auf unseren Wegen dafür, an der Seite derjenigen zu stehen, die sich den Bossen widersetzen, derjenigen, die ausgebeutet werden, derjenigen, die unter Unterdrückung leiden, derjenigen, die sich gegen imperialistische Kriege wehren und beschließen, zurückzuschlagen, derjenigen, die ihre Freiheit nicht aufgeben.
Wir stellen uns gegen die Grenzen, die militärisch kontrolliert und geschlossen werden und die Menschen, die aus dem Elend fliehen, daran hindern, einen sicheren Ort zu finden, jene, die in Wahrheit ihr Leben aufs Spiel setzen.
Dieselben Grenzen, an denen täglich Migranten sterben, waren schon immer das Terrain für politische Repression und kapillare Kontrolle des Territoriums. In letzter Zeit wurden die administrativen Instrumente verfeinert, beschleunigt und in gewisser Weise „entpolitisiert“. Um nur einige Beispiele zu nennen, denken wir an die italienischen Genossen, die Anfang Juni anlässlich des Gedenkens an Clement Meric in Paris festgenommen und zurückgeschickt wurden, oder an die Dutzenden von Genossen, die an der Grenze mit einem Einreiseverbot für die No-Tav-Demonstration in Val Maurienne Ende Juni blockiert wurden, oder an die scheinbar „lebenslangen“ Einreiseverbote, die nach dem großen Kampftag gegen die Mega-Wasserbecken in Saint Soline am 25. März mitgeteilt wurden. Diese Beispiele zeigen, dass politische Dissidenten immer stärker kontrolliert werden und dass die europäischen Polizeikräfte sehr eng zusammenarbeiten, aber auch, dass Instrumente wie der Europäische Haftbefehl immer skrupelloser und „effektiver“ eingesetzt werden.
Wir werden uns nicht von der Repression unterkriegen lassen, und wir werden nicht aufgeben, uns in Kampfzusammenhänge zu begeben, selbst weit weg von den Orten, an denen wir uns jeden Tag befinden.
Wir sind dafür, in der ersten Person zu handeln und unsere Kämpfe nicht an Institutionen und den Staat zu delegieren, die alles akzeptieren, was in ihren Kanon von Demokratie und Befriedung fällt, indem sie versuchen, ihr Gesicht mit schönen Worten zu reinigen, die nur Worte bleiben.
Eine Welt frei von Faschismus und Faschisten ist möglich, es liegt an uns, sie zu schaffen.
FREIHEIT FÜR ILARIA, TOBIAS UND GABRIELE!
SOLIDARITÄT MIT DEN GENOSSEN UND GENOSSINNEN, GEGEN DIE ERMITTELT WIRD UND DIE AUF DER FLUCHT SIND!
SOLIDARITÄT MIT DEN BETROFFENEN DER ERMITTLUNGEN WEGEN DER ANTIFASCHISTISCHEN AKTIONEN IN BUDAPEST
FREIHEIT FÜR ALLE!
Landesweite Demo am 13. Januar 2024, 15:00 Uhr – Piazza Durante
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für Mailand, 13 Januar 2024: Landesweite antifaschistische Demonstration in Solidarität mit Ilaria, Tobias und Gabriele
Hätte er gewusst, dass er nie mehr zurückkehren würde, hätte er die Worte eins nach dem anderen gewählt, bevor er ging. Er hätte sie im Wörterbuch der Liebe nachgeschlagen und sie in goldenen Buchstaben drucken lassen. Er hätte einen Moment länger auf der Schwelle gewartet, um seinem Sohn zu sagen: Ich liebe dich, wie er es nie gesagt hat. Anstatt so auf die Straße zu gehen, ohne zu wissen, wohin er ging. In seinem Herzen das Gewicht der Stille, hoch am Himmel eine gleichgültige Sonne.
Es gab einen Moment, in dem er dachte, er hätte das Wesentliche vergessen. Er zögerte vor der Werkstatt des Schnitzers. Er schien zurückgehen zu wollen, er durchsuchte seine Taschen, nichts, was er zu Hause hätte lassen können. Dann setzte er seinen Weg fort, entschlossen, nicht mehr über Worte nachzudenken.
Sag mir nicht, was ich tun soll, ich will es nicht wissen. So hatte der Kleine auf eine Ermahnung geantwortet, sein Vater wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Normalerweise kommen die besten Antworten immer erst später. Aber nicht, wenn die Schritte auf dem Bürgersteig aufgehört haben, Geräusche zu machen. Oder mit einer neugeborenen Sonne, die schon bereit war zu sterben. Wenn er sich jedes Mal gefragt hätte, was er da tat, hätte er keinen guten Grund gefunden. Er wusste nur, dass er es tun musste. So verhalten sich auch Kinder, aber in ihren Augen brennt das Leben, funkelt die Entschlossenheit.
Hätte er gewusst, dass dies kein gewöhnlicher Tag war, sondern der erste in einer Welt, in der die Seelen nicht mehr an den Teufel, sondern an die Herrschaft verkauft werden. Hätte sein Sohn es ihm klar und deutlich gesagt, in Worten, die selbst ein Kind verstehen würde, hätte er sein Herz zu Hause gelassen und nur seinen dumpfen Verstand ins Gefängnis gebracht. Und jetzt würde er nicht auf eine Wand starren, als wäre es das Fenster des Schnitzers, das das Kind unermüdlich bewunderte.
Er würde nicht über die braunen Flecken streichen und keine Seufzer gegen Worte austauschen. Die er an diesem Morgen im üppigen Garten seines Sohnes nicht einfangen konnte. Als die Zeit nicht mit Täuschung tötete, als er murrende Wände fragte, warum nur Helden in den Himmel kommen. Und sich sagen lassen, dass man das gute Gewand tragen muss, um in die Herzen der Menschen vorzudringen.
Davon überzeugt sein, dass der Schrei der Stille kein Schmerz ist, sondern ein Schrei der Liebe und der Hoffnung. Die Welt der Seufzer mit dem Lächeln von Kindern zu schmücken, die im Gefängnis aufgewachsen sind. Oder den Klang der sich ständig verändernden Schritte mit Stimmen zu verwechseln, die das Meer überqueren können. Nicht mehr auf die Büßer und ihre Litaneien der Vergangenheit hören. Den Beweis verweigern, dass das Verbotene immer das Beste ist, was uns gegeben wird. Das, was jeden Erwachsenen zu einem Verdammten macht.
Sein Sohn ignoriert all dies und wartet zu Hause darauf, dass sich der Himmel wieder mit der Erde vereint. Er bittet um Licht für die eingeschlossenen Gemüter und um etwas Liebe für die sonnenlosen Schatten. Er betet zu Gott, die Kriege zu erhellen. Und wenn der Abend für den Tag das beste Ende ist, sammelt sich der Gefangene und fliegt. Er geht zu seinem Sohn, der vor der Werkstatt des Schnitzers auf ihn wartet.
Cesare Battisti sitzt seit Jahren im Knast für Taten, die über 40 Jahren her sind, der Staat rächt sich immer noch für den antagonistischen Aufbruch der 70er in Italien, von dem Cesare ein Teil war. Von ihm sind mehrere im Exil und im Knast entstandene Bücher erschienen, von denen leider kein einziges auf Deutsch vorliegt. Carmilla Online veröffentlicht regelmäßig aktuelle Kurzgeschichten von ihm, die teilweise auf Sunzi Bingfa sowie auf Bonustracks auf Deutsch erschienen sind.
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für Die Werkstatt des Schnitzers
Am 25. Juni wurde in Mailand ein Polizeieinsatz durchgeführt, bei dem sechs Präventivmaßnahmen (Aufenthaltsverpflichtungen-, Verbote und Meldeverpflichtungen) als Folge der Demonstration vom 11. Februar in Solidarität mit dem Hungerstreik von Alfredo Cospito erlassen wurden. Heute ist von diesen Maßnahmen nichts mehr übrig. Am 14. Dezember beschloss die GIP auf Antrag der Staatsanwaltschaft, alle vorsorglichen Maßnahmen aufzuheben. Im Moment sind die Ermittlungen abgeschlossen, aber die Zahl der Betroffenen ist auf 13 gestiegen, die aus verschiedenen Gründen des schweren Widerstands, der Verkleidung und der Sachbeschädigung beschuldigt werden.
Wir möchten nicht nur über den aktuellen Stand der Dinge berichten und unsere Solidarität mit den von dieser repressiven Maßnahme betroffenen Personen zum Ausdruck bringen, sondern auch ein paar Worte über diesen Tag und die Mobilisierung zur Unterstützung des Hungerstreiks von Alfredo gegen das 41bis-Regime und die lebenslange Haftstrafe verlieren. Der 11. Februar war Teil der zahlreichen Initiativen, die angesichts der Lügen des Staates, der Gewalt, die sich hinter der Kälte der Bürokratie verbirgt, und des sich verschlechternden Gesundheitszustands von Alfredo, der sich seit über 100 Tagen im Hungerstreik befand, ergriffen wurden.
In ganz Italien und im Ausland kam es zu zahlreichen Demonstrationen, Blockaden, Informations- und Störungsinitiativen, Angriffen auf Institutionen und ihre Vertreter.
In Mailand, in einer Stadt, die durch den Kampf von Alfredo geprägt ist, beschließen Hunderte von Menschen, an der Demonstration auf der Piazza XXIV Maggio teilzunehmen. Während der Demonstration folgen Reden, Sprechchöre, Graffiti und die Beschädigung von Schaufenstern aufeinander, bis die Polizei beschließt, dass die Demonstration nicht weitergehen soll. Mit massiven Beschuss mit Tränengas werden die Teilnehmer auseinandergetrieben, die gemeinsam einen anderen sicheren Weg suchen, um den Umzug zu beenden.
Abgesehen von der juristischen Aufarbeitung dieser Angelegenheit scheint es wichtig zu sein, sich noch einmal vor Augen zu führen, was die Köpfe und Herzen der vielen Menschen bewegte, die an diesem Tag und in den Wochen zuvor auf die Straße gingen. Die Entschlossenheit des Kampfes von Alfredo hat es geschafft, das Schweigen über die staatliche Folter zu brechen, die das 41-bis-Regime darstellt, das aus fast völliger Isolation und sensorischer Deprivation besteht und deren einziges Ziel die physische und psychische Vernichtung der ihr unterworfenen Person ist und die der Staat weiterhin durch das Schreckgespenst der Mafia legitimiert und aufrechterhält.
Draußen wurden viele Informationen verbreitet, um die Bedingungen und den gewalttätigen und strukturellen Charakter dieses Regimes und des gesamten Gefängnisses zu verdeutlichen. Eine Gelegenheit zum Kampf, die von vielen und in verschiedenen Formen geteilt wurde und die ihre eigene Beweglichkeit gefunden hatte. Wir wollen hier nicht in eine Analyse der Mobilisierung einsteigen, das wäre voreilig und ungenau, aber wir glauben, dass es wichtig ist, auf das zu schauen, was war und was bleibt, um weiterhin ein Terrain für den Kampf schaffen zu können. Wir haben den Eindruck, dass es uns gemeinsam gelungen ist, bei den Demonstrationen auf der Straße einen gewissen Raum einzunehmen, und auch wenn die Anzahl sicherlich bis zu einem gewissen Punkt ein Kräfteverhältnis mit den Ordnungshütern begünstigt haben, so war die Heterogenität in der Beteiligung und Zusammensetzung unserer Meinung nach ein grundlegendes Element in diesen Monaten. Die Möglichkeit, auf der Straße zu sein und sich den Platz nicht von der Polizei streitig machen zu lassen, sondern ihn sich zu nehmen, scheint uns ein gutes Omen dafür zu sein, was Demonstrationen in unserer Stadt sein könnten. Wir versuchen, selbstorganisierte Momente des Protests zu schaffen, in denen wir versuchen, einen Dialog mit der Polizei zu vermeiden, indem wir diejenigen, die teilnehmen wollen, mit ihren eigenen Methoden und Praktiken, schützen, und versuchen, in den hitzigen und aufgeladenen Momenten so weit wie möglich zusammen zu bleiben.
Wir haben noch einen langen Weg vor uns, wir müssen noch viele Vergleiche und Überlegungen anstellen, um die Kritik an 41 und lebenslanger Haft und an den Diffamierungen, denen wir ausgesetzt sind, aufrechtzuerhalten, und das umso mehr, als der Hungerstreik von Alfredo zu Ende ist.
Die Justiz und die Gefängnisse sind Kristallisationspunkte einer zunehmend ungleichen und zersplitterten Gesellschaft, die darauf abzielt, all diejenigen zu unterdrücken und zu disziplinieren, die sich ihr nicht fügen, oder diejenigen, die versuchen, sie nach ihren Vorstellungen zu verändern. In der Überzeugung, dass es notwendig ist, gegen diesen Zustand zu kämpfen, werden wir weiterhin denjenigen, die noch eingesperrt sind, unsere Stimme geben und Solidarität bekunden und uns organisieren, obwohl die Repression weiterhin jeden trifft und bedroht, der angesichts der Folter und der unzähligen Todesfälle in den Gefängnissen, der Ausbeutung am Arbeitsplatz und im Bildungswesen, der Zerstörung der Umwelt, der Ausplünderung der Territorien, des Krieges und des staatlichen Rassismus nicht den Kopf senkt.
Veröffentlicht am 20.12.2023 auf La Nemesi, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.
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Man musste kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass der Tod von Toni Negri in der Mainstream-Presse mit der ewigen Figur des „schlechten Lehrers“ und des „Theoretikers der Gewalt“ in Verbindung gebracht werden würde. Es ist die Banalität des Bösen, derer, die Befehle befolgen, aber nichts wissen, sich nicht wundern, nichts zu erkennen versuchen.
Toni Negri hat im Laufe seines langen Lebens unser Leben und unser Denken tiefgreifend beeinflusst. Wir sind ihm zu Dank verpflichtet und wir sind stolz darauf, sagen zu können, dass er ein großer, großer Lehrer war. Unser Lehrmeister. Deshalb ist heute eine Stunde der großen Trauer für uns alle, aber wir denken an ihn im Wind, und der Wind verschwindet nie wirklich und hört nicht auf. Er dreht sich weiter, umgibt uns und bewegt die Welt.
Toni Negri gab dem Massenarbeiter Macht und Stolz, indem er die Autonomie und die lebendige Arbeit in der tayloristischen Fabrik in den Mittelpunkt der politischen Aktion zur Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse stellte. Es ist die Macht der lebendigen Arbeit, die ohne das Kapital auskommen kann, ohne die das Kapital aber nicht auskommen kann. Die Unverzichtbarkeit der Arbeit zwingt das Kapital, sich umzustrukturieren und die Fabrik auf dem Territorium zu zerstückeln. Mit Negri wird der gesellschaftliche Arbeiter geboren, ein neues potentielles Subjekt der Transformation, das verschiedene Formen der Subjektivität annimmt, dessen Kampffeld die Metropole und ihre sozialen Widersprüche wird.
Die konkrete Utopie und Stärke der 1970er Jahre zerbrach an der Repression der Macht. Aber die Ideen, die ihr zugrunde lagen, haben sich nicht als unbegründet erwiesen. Die Umwälzungen des Kapitalismus, neue Ausbeutungsmodelle, das Aufkommen neuer Technologien, das relationale Werden der Arbeit und des general intellect, die Kraft der sozialen Kooperation und der Kommune als mögliche neue Form der Gegenmacht prägten die Kämpfe und Bewegungen an der Jahrtausendwende.
Bewegungen und Kämpfe, die sich auf dem schmalen Pfad zwischen Erpressung und Gewalt der Finanzmärkte und der neoliberalen Globalisierung bewegen. Imperium und Multitude: ein weiterer außergewöhnlicher Versuch, die neue Form der kapitalistischen Herrschaft und die neue prekäre Zusammensetzung der Arbeit zu lesen. Eine Wette, die noch im Gange ist.
Toni Negri lebte ein wunderschönes Leben, erfüllt von Liebe, Zuneigung, Freunden und Studenten, die ihm zuhörten und ihn lasen, mit der größtmöglichen Leidenschaft, die die Hauptantriebskraft seiner Existenz war, und vielleicht ist die wichtigste Botschaft, die er uns vermittelt hat, genau dies: Lebe mit Leidenschaft! Ein spinozianisches Leben. Auch ein schwieriges Leben, das immer mit Mut und Konsequenz geführt wird. Ein großzügiges Leben, immer zusammen mit anderen und Gefährten. Toni hörte zu, stellte Fragen, wollte von den anderen und über die anderen wissen, immer überzeugt von der Möglichkeit der gegenseitigen Bereicherung, von der unauslöschlichen Kraft des Zusammenseins, des gemeinsamen Handelns. Das rüpelhafte und individualistische Italien, das heute an der Macht ist, wird diese Regungen des Herzens und der Vernunft nie verstehen.
Sein kritisches Denken, sein unbezwingbarer Optimismus, seine Bereitschaft und Einfachheit trotz der Tiefe seiner Analysen und Überlegungen, zu denen er fähig war, werden uns für immer erhalten bleiben.
Effimera nimmt mit großer Anteilnahme an der Trauer von Judith, Anna, Francesco und Nina teil.
Veröffentlicht auf Effimera, in Deutsche übersetzt von Bonustracks.
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Wir veröffentlichen eine Erinnerung an Toni Negri, geschrieben von einigen Genossen aus Paris und aus anderen Orten der Welt, die die gleichen Ereignisse wie er erlebt haben oder jedenfalls die meisten seiner politischen Erfahrungen geteilt haben – inmitten von Leidenschaft, Repression, Exil. Am Ende des Textes die Liste der Unterzeichner (Effimera)
Toni Negri hat uns verlassen. Für einige von uns war er ein lieber Freund, für uns alle war er der Genosse, der sich im großen Zyklus der politischen Kämpfe der 1960er und der revolutionären Bewegungen der 1970er Jahre in Italien engagierte. Er war einer der Begründer des Operaismus und der Denker, der den Kämpfen der Arbeiter und des Proletariats im kapitalistischen Westen und den daraus resultierenden Umgestaltungen des Kapitals einen theoretischen Zusammenhang gab. Toni beschrieb die Multitude als eine Form politischer Subjektivität, die die Komplexität und Vielfalt der neuen Formen der Arbeit und des Widerstands widerspiegelt, die in der postindustriellen Gesellschaft entstanden sind. Ohne den theoretischen Beitrag von Toni und einigen anderen marxistischen Theoretikern hätte es keine Praxis gegeben, die dem Klassenkampf gerecht geworden wäre.
Ein Maestro, weder gut noch schlecht: Es war unsere Aufgabe und unser Privileg, seine Analysen zu interpretieren oder zu widerlegen. Es war vor allem unsere Aufgabe, und wir haben sie übernommen, den Kampf in unserem sozialen Umfeld, unser Handeln im politischen Kontext jener Jahre in die Praxis umzusetzen. Wir waren weder seine Jünger noch seine Gefolgsleute, und Toni hätte das auch nie gewollt. Wir waren freie politische Subjekte, die sich für ihr politisches Engagement entschieden, die ihren kämpferischen Weg wählten und die auch die kritischen und theoretischen Werkzeuge nutzten, die Toni ihnen mit auf den Weg gab.
Wir erinnern uns an Toni als unermüdlichen Militanten der sozialen und politischen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, als unerschütterlichen Förderer der Autonomia Operaia-Bewegung, als Hauptsündenbock der staatlichen Repression, die in der Razzia vom 7. April 1979 und dem anschließenden politischen Prozess gipfelte. Elfeinhalb Jahre Gefängnis, Einsatz von Spezialwaffen, Drohungen und Schläge waren der Preis, den der Staat ihn zahlen ließ. Wir erinnern uns auch an seine schmerzhafte und kontroverse Abreise aus Italien und sein Exil in Frankreich, in dem er nicht einen Moment lang sein Engagement für eine politische Lösung des Problems der Tausenden von politischen Militanten, die in Italien in Sondergefängnissen eingesperrt waren, aufgab. Ein Beweis dafür war die freiwillige Unterbrechung seines Exils und seine Rückkehr nach Italien im Jahr 1997 in der Hoffnung, zur Abschaffung der Sondergesetze beizutragen, was ihn aber stattdessen bis 2003 im Gefängnis bleiben ließ. Wir erinnern uns an ihn mit den Worten: „Der Kommunismus ist eine fröhliche, ethische und politische kollektive Leidenschaft, die gegen die Dreifaltigkeit von Eigentum, Grenzen und Kapital kämpft“. Wir erinnern uns an ihn als einen Mann, der immer ein offenes Ohr hatte, vor allem für die Jugend, einen Mann, der offen war für den Dialog und die Konfrontation, aber ein entschiedener Gegner jeder Ideologie und Praxis des Kapitals und der politischen Kräfte, die ihm institutionelle Formen geben.
Für die kulturelle, philosophische und politische Welt war Toni ein profunder Exeget der Gedanken Spinozas und einer der größten marxistischen Theoretiker an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Für uns war er auch und vor allem Genosse Toni. Mit Liebe nehmen wir Abschied, mit Liebe umarmen wir Judith, Anna, Nina und Checco.
Gianfranco Pancino, Loredana Zamuner, Giustiniano Zuccato,Isabella Annesi Maesano,Anna Soldati, Emanuela Bertoli, Sergio Bianchi, Donato Tagliapietra, Lia Lanzi, Leandro Barozzi, Giuliano Righi Riva, Sandra Doveri, Patrizio Galmarini, Maurizio Lazzarato, Gianni Mainardi, Agostino Mainardi, Jason Francis Mc Gimsey, Elicio Pantaleo, Ornello Turco, Barbara Bucco, Maurizio Gibertini, Teresa Passamonti, Italo Migliori, Angelo Gagliardi, Luciano Mioni, Mirco Dalle Carbonare, Gianni Sbrogiò, Patrizia Corrà, Roberto Segalla, Puccio Landi, Chicco Funaro, Lauso Zagato, Carlo Levi Minzi, Sandro Scarso, Marzio Sturaro, Paolo Benvegnù, Stefano Micheletti, Gigi Roggero, Paolo de Marchi, Paola Vellucci, Gaetano Grasso, Pino Cosenza, Emilio Mentasti, Giorgio, Ivan, Diego, Mara, Yuri Boscarolo, Piero Mancini, Paolo Carpignano, Icio Molinari, Fabrizio Sormonta, Piero Despali, Susanna Scotti, Gianfranco Ferri, Ulisse Marcato, Valerio Guizzardi, Ignazio Brivio, Flavio Restelli, Giorgio Moroni, Marco Scarfò, Giuli Peyronel, Giorgio Bonazzi, Saro Romeo, Tiziana Saccani, Giorgio Griziotti, Nadia Colella, Manuela Facinelli, Emilio Comencini, Angiola Zampieri, Annaflavia Bianchi, Fiorenzo Sperotto, Giovanni Giovannelli, Libero Maesano, Sandro Stella
Veröffentlicht am 19. Dezember 2023 auf EFFIMERA, übersetzt von Bonustracks.
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für Toni Negri – Nous ne regretons rien. Mit Liebe von deinen Gefährten*
Zwei Nächte bevor mich die Nachricht vom Tod von Antonio – Toni – Negri erreichte, träumte ich lange von ihm und seine Anwesenheit war so lebendig, dass ich beim Aufwachen das Bedürfnis verspürte, ihm zu schreiben. Meine Nachricht an die alte E-Mail-Adresse, die ich seit Jahren nicht mehr benutzt hatte, konnte ihn nicht erreichen. Als ich ihr von dem Traum erzählte, sagte eine Freundin zu mir: „Er wollte sich von dir verabschieden, bevor er geht“. Selbst bei der Divergenz unserer Gedanken, die mit der Zeit immer deutlicher wurde, verband uns etwas hartnäckig, was in erster Linie mit seiner großzügigen, rastlosen, pointierten Vitalität zu tun hatte, die ich sofort spürte, als ich ihn 1987 in Paris zum ersten Mal traf.
Mit dem Verschwinden von Toni habe ich das Gefühl, dass etwas fehlt – in mir, unter meinen Füßen, vielleicht vor allem hinter mir, als ob ein Teil meiner Vergangenheit plötzlich gegenwärtig wird und mir fehlt. Und dieses Fehlen betrifft nicht nur mich, sondern unser ganzes Land und seine Geschichte, die immer verlogener, immer vergesslicher wird, wie die hasserfüllten Nachrufe zeigen, die nur an den schlechten Lehrer erinnern und nicht an das schlechte, grausame Land, in dem er leben mußte und das er, vielleicht irrtümlicherweise, besser zu machen versuchte. Denn Toni hat, ausgehend von der marxistischen Tradition, der er angehörte und die ihn vielleicht geprägt und zugleich verraten hat, sicherlich versucht, sich mit dem Schicksal Italiens und der Welt in der extremsten Etappe des Kapitalismus zu messen, die wir gegenwärtig durchlaufen, mit wer weiß welchem elenden Ende. Und das ist es, was diejenigen, die weiterhin sein Andenken verunglimpfen, weder wagen noch jemals in der Lage wären zu tun.
Übersetzt aus dem italienischen Original von Bonustracks.
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für Im Gedenken an Toni Negri
Toni Negri ist gestorben. Seine Verdienste als Intellektueller (die untrennbar mit denen als Kämpfer verbunden sind) sind zahlreich: die kollektive Schaffung des theoretischen Arsenals der Arbeiterbewegung; die Untersuchung der konstituierenden Macht; die „Entdeckung“ der materialistischen Genealogie Machiavelli-Spinoza-Marx; die Thesen über Lenin; der Dialog mit Foucault, Guattari, Deleuze; die Analysen über das Imperium, die Multitude und das Gemeinschaftliche.
In diesen Analysen, unabhängig davon, ob man mit ihnen übereinstimmt oder nicht, findet sich eine Stärke, eine Hartnäckigkeit, eine Besessenheit, die den Revolutionären eigen ist. Mit seinen Betrachtungen war Toni immer dabei. Dort, wo es zu Unruhen kam, wo sich eine Versammlung oder eine Institution des Gemeinschaftlichen bildete, wo ein Ausdruck der konstituierenden Macht auftauchte, und natürlich dort, wo eine Revolution ausbrach. Niemals, weil er sie erklären müsste, schlimmer noch, sie den Protagonisten erklären wollte. Sondern immer, um sie voranzutreiben, um ihr Feuer zu verbreiten. Gegen die Autonomie des Politischen führte auch Negris Lenin nicht zur Avantgardepartei, er war vielmehr der historische Beweis dafür, dass der Kommunismus, ausgehend von der Marxschen Theorie, verkörpert werden konnte. Was Negri jedoch beschrieb, war ein paradoxer Körper, ein „Lenin der Versammlungen“, der einmal mehr jede Orthodoxie verdrängte.
Wo das Kapital und seine Gendarmen eine Wüste schufen, schwor Toni nicht auf Nostalgie, sondern riet, der Leere ins Auge zu sehen. So hatten sie in Italien die 1980er Jahre durchgestanden, die von Knast, Heroin und der Warenförmigkeit geprägt waren. Gleichzeitig hatte er aber immer die Annahme abgelehnt, dass das Leben bis zur vollständigen Blöße entkleidet werden kann. Das Leben, auf das Toni sein Augenmerk richtete, konnte unter allen Umständen rebellieren, Widerstand leisten, eine Fluchtlinie ziehen, sich kollektive Organisationsformen geben, selbst wenn es im Lager eingesperrt war, selbst wenn es zum Objekt der Nekropolitik gemacht wurde.
Von heute an stellt sich also die Frage nach dem Erbe Negris. Es ist ein komplexes Thema. Und es geht nicht darum, Toni zu einem Propheten zu machen, eine Figur, die er selbst als für immer verschwunden betrachtete. Es geht nicht nur darum, die Erinnerung an ihn wachzuhalten, sie möglichst von der biblischen Damnatio memoriae zu befreien, die immer noch schwer wiegt (und das ist ein gesamtitalienisches Problem). Vielmehr geht es darum, den intellektuellen Eigensinn nicht zu verlieren, der eines seiner Markenzeichen war, sich nicht anzupassen, sich nicht mit weniger als der Revolution zufrieden zu geben. Es ist klar, dass sich revolutionäres Denken in revolutionären Zeiten leichter herausbildet, aber das wichtigste Vermächtnis von Negri ist das, das uns auffordert, unter allen Umständen ein situiertes Denken zu pflegen. Nicht eines über Kämpfe, sondern immer eines in Kämpfen. Gott bewahre uns davor, dass Negri zu einem Museumsstück oder zu einem Kapitel in einem Lehrbuch wird, es sei denn, dieses Lehrbuch dient dazu, die neoliberale Akademie zu untergraben. Eine sehr gute Art und Weise, sein Andenken zu ehren, wäre die Wiederbelebung einer tiefgehenden Reflexion unter denjenigen, die sich einer bestimmten Geschichte und einer bestimmten theoretisch-politischen Haltung verbunden fühlen, nicht im Namen einer Rückkehr in die Vergangenheit (die ohnehin wenig Zukunft hätte), sondern mit dem Ehrgeiz, neue Wege, neue Perspektiven zu eröffnen und eine kollektive Maschine des gemeinschaftlichen Denkens wieder in Gang zu setzen.
Lassen Sie mich mit einer kurzen Anekdote schließen. Ich hatte das Glück, Toni vor einigen Monaten ein letztes Mal in Venedig zu treffen, wo er Judith Revel begleitete, die bei der IUAV ein Seminar gab. Körperlich bereits erschöpft, aber bei klarem Verstand, hatte er sich bereit erklärt, sich mit einer kleinen Gruppe junger Genossen zu treffen. Wir hatten vereinbart, dass die Dauer des Treffens eine halbe Stunde nicht überschreiten sollte. Nach mehr als zwei Stunden versetzte uns Toni mit seiner Erzählung immer noch in das Venedig der 1960er und 1970er Jahre. Wir standen zwischen den Gassen, Brücken, Tavernen und Versammlungen. Dann die Kämpfe, Streiks, Blockaden und die Geschichte der Autonomen Versammlung von Porto Marghera. Die verkörperte Erinnerung an einen Ort und ein Stück seiner rebellischen Geschichte. An diese Geschichte erinnere ich mich heute noch genau, ebenso wie an die Großzügigkeit dessen, der sie uns erzählt hat.
Marco Baravalle (Centri Sociali del Nord Est)
Erschienen auf Englisch am 16.12.2023 auf Global Project, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für Toni Negri. Der Eigensinn eines gemeinschaftlichen Gedankens
Frage: Du interessierst dich schon lange für das, was in Palästina passiert, ohne ein pro-palästinensischer Aktivist zu sein. Was hat eine Kritik, die sich der Revolution zuwendet, zu dem zu sagen, was sich dort abspielt?
Minassian:Ich würde sagen, dass man als Erstes davon ausgehen sollte, dass es nicht zwei Lager gibt, ein palästinensisches und ein israelisches. Diese Menschen leben in einem einzigen Staat und in einer einzigen Wirtschaft. Innerhalb desselben, sagen wir israelisch-palästinensischen Gebildes – das jedoch vollständig in israelischer Hand ist – sind die sozialen Klassen nicht nur in unterschiedliche Rechtsstellungen auf der Grundlage ethnisch-religiöser Kriterien eingebunden, sondern auch „zonisiert“. Der Gazastreifen wurde nach und nach zu einem „Reserve-Gefängnis“, in dem zwei Millionen Proletarier, die an die Ränder des israelischen Kapitals verwiesen wurden, festgesetzt sind. Letzteres bleibt jedoch in letzter Instanz ihr Herr. Die Menschen in Gaza benutzen israelisches Geld, konsumieren israelische Waren und haben von Israel ausgestellte Ausweise.
Der gegenwärtige „Krieg“ entspricht in Wirklichkeit einer Situation einer extremer Militarisierung des Klassenkriegs.
Ein „Land für zwei Völker“ – ein solches Raster der Situation in Israel-Palästina ist abwegig. Nirgendwo auf der Welt gehört das Land den Völkern. Es gehört den Besitzern. Das mag alles sehr theoretisch klingen, aber die Existenz der sozialen Beziehungen selbst wirft die Idee der „Lager“ auf diejenigen zurück, denen sie gehört: die Herrschenden.
Die Flüchtlingslager im Westjordanland, die man als das schlagende Herz „Palästinas“ bezeichnen könnte, sind nach wie vor Vororte von Tel Aviv. Ich verbrachte Abende damit, Tagelöhnern aus einem dieser Lager zuzuhören, wie sie erzählten, wie sich die Ethnisierung der Arbeitskräfte auf den Baustellen der israelischen Hauptstadt entfaltete: die aschkenasisch-jüdischen Bauherren, die palästinensischen Dienstleister von 1948 für die Durchreise der Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten, die sephardisch-jüdischen Vorarbeiter, die ebenfalls arabischsprachig waren, usw. Die meisten von ihnen waren in der Lage, ihre Arbeit zu verrichten. Und dann all die anderen importierten Proletarier: Thailänder, Chinesen, Afrikaner, die als sans-papiers in Wirklichkeit diejenigen sind, deren Situation am schlimmsten ist. All das kann nicht vermischt werden, denn jede Gruppe hat einen eigenen Status und einen eigenen Platz in den Produktionsverhältnissen.
Aber diese Welten sind nicht untereinander durchlässig, sie sind ineinander verschachtelt, schauen sich gegenseitig an und kennen sich.
Dutzende von Thailändern, die in der Landwirtschaft am Rande des Gazastreifens ausgebeutet wurden, wurden von der Hamas getötet und verschleppt. Jetzt halten israelische Bosse die Löhne anderer zurück, um sie zu zwingen, in Kriegsgebieten zu arbeiten. Jede einigermaßen konsequente Gesellschaftskritik muss im Zusammenhang mit dem, was in Israel-Palästina passiert, auch die Perspektive der thailändischen Arbeiter einbeziehen. Dieses Land soll den palästinensischen Proletariern ebenso wenig gehören wie den thailändischen Arbeitern.
Frage: Ist der Versuch, über die „nationale Frage“ in Israel-Palästina hinwegzugehen, nicht ein bisschen ein Tritt ins Fettnäpfchen?
Minassian:Israel hat es geschafft, eine weltweit einzigartige Situation herbeizuführen: die Integration eines selbst ethnisierten („jüdischen“) Proletariats in den Staat gegen den ebenfalls ethnisierten („arabischen“) Rest des Proletariats. Der israelische Staat hat die Akkumulation von „nationalem“ Kapital in Rekordzeit organisiert, er hat den Import eines „nationalen“ Proletariats organisiert und sich zum Wächter über dessen Existenz und Reproduktion aufgespielt, da er von einem anderen („palästinensischen“) proletarischen Segment in seiner Existenz bedroht wird. Wenn man jedoch die Brille der Phantasmagorie vom „Staat als Garant der Existenz der Menschen“ abnimmt, zeigt sich, dass das jüdische Proletariat in Israel eine Art Kriegsbeute in den Händen des Staates darstellt.
Dies ist auf der Seite des palästinensischen Proletariats nicht der Fall, wo die Kampfdynamiken eine gewisse Autonomie bewahrt haben und in komplexer Weise mit den instrumentellen Logiken ihrer nationalistischen politischen Rahmung koexistieren.
Es mag widersinnig erscheinen, aber ich denke, man muss die Hamas als Subunternehmer Israels für die Verwaltung des Proletariats im Gazastreifen betrachten. Wie ich bereits sagte, „untersteht“ letzteres in letzter Instanz dem nationalen israelischen Kapital. Solange dieses nicht die Wahl getroffen hat, die Entwicklung einer anderen, „palästinensischen“ kapitalistischen Entität an seiner Seite zuzulassen, ist das Proletariat des Gazastreifens, selbst wenn es eingepfercht ist, in seine Kreisläufe eingeschrieben. Diese Situation kommt jedoch nicht ohne eine ausgelagerte soziale Formation aus, die mit der Regulierung der Eingeschlossenen betraut ist – es gibt kein Gefängnis ohne Aufseher.
Was hier geschieht, ist kein inter-imperialistischer Krieg. Es ist im Wesentlichen eine „innere Angelegenheit“, in der die „nationalen“ Lager eine Nebelwand sind. In den aktuellen Ereignissen gibt es keinen proletarischen Kampf. Die Militarisierung der Antagonismen, die von der Hamas und der israelischen herrschenden Klasse gemeinsam produziert wird, bringt einen „Widerstand“ hervor, der keine Logik eines autonomen proletarischen Kampfes enthält, nicht einmal eine stammelnde.
Das ist kein Krieg, sondern eine Verwaltung des überzähligen Proletariats mit militärischen Mitteln, die denen des totalen Krieges entsprechen, von Seiten eines demokratischen, zivilisierten Staates, der zum zentralen Block der Akkumulation gehört. Diese Tausende von Toten scheinen mir eine besondere Bedeutung zu haben. Sie zeichnen ein erschreckendes Bild der Zukunft – der kommenden Krisen des Kapitalismus.
Aber eine Verwaltung des überzähligen Proletariats mittels Bombenteppichen, die in der Art und Weise, wie sie von allen Zentralstaaten des kapitalistischen Raumes als legitim angesehen wird, das, was derzeit geschieht, meiner Meinung nach in eine globale Offensive einbettet. In Frankreich tritt dieser globale Charakter besonders deutlich hervor: Wir sind in eine Phase eingetreten, in der selbst politische Formulierungen mithilfe humanistischer Parolen bekämpft werden – sobald sie auf eine Straßenaktivität der gefährlichen Klassen stoßen könnten. Es gibt keinen „Import“ des Konflikts. Es gibt eine globale Offensive. In diesem Sinne findet der Kampf für uns in Frankreich sehr wohl hier statt, gegen Frankreich. Wir haben unsere eigene Nation zu verraten, immer, wann immer es möglich ist.
Frage: Was hat die Hamas in einer solchen Situation zu gewinnen?
Minassian: Vor dem 7. Oktober hatte ich folgende Vorstellung von der Situation. Auf der einen Seite eine Offensive der kolonialen extremen Rechten, sowohl um das Westjordanland zu annektieren als auch um die Schalthebel des israelischen Staates in die Hand zu bekommen. Auf der anderen Seite zwei palästinensische Staatsapparate, die ausschließlich von Renten leben und nur daran interessiert sind, sich als solche zu reproduzieren. Ich hatte im Hinterkopf, dass diese Mächte in der Defensive waren und dass sie sich vor allem darauf vorbereiteten, einen Kontrollverlust über die von ihnen abhängige Bevölkerung sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland zu erleiden.
Unter meinen Gesprächspartnern im Westjordanland, ob linke Akademiker oder bewaffnete Subproletarier, sagten mir vor einigen Monaten alle: „Die Hamas unterstützt nicht den Widerstand vor Ort. Sie denkt an ihre eigenen Interessen“.
Und in der Tat hat sich die Hamas nicht wie eine Kampforganisation verhalten, sondern wie eine militärische Struktur, wie ein Staat. Das Besondere an ihrer Operation war jedoch, dass sie zwangsläufig die Aussicht auf einen israelischen Gegenschlag enthielt, dem sie in einer imposanten Unterlegenheit gegenüberstehen würde. Die Hamas verhält sich wie ein Staat, aber ohne die Mittel eines Staates, und sie opfert einen Teil der Interessen eines Teils ihres Apparats und ihrer sozialen Basis in Gaza, in der Hoffnung, in Zukunft mehr zu haben. Viele der Anführer werden bei dieser Aktion ihr Leben verlieren.
Die Operation vom 7. Oktober stellt seitens einer herrschenden Klasse ein erstaunliches Verhalten dar, das sich jedoch meiner Meinung nach in erster Linie durch die Widersprüche erklären lässt, die die Hamas selbst durchziehen. Es ist eine Hypothese, aber es ist nicht undenkbar, dass die Operation vom 7. Oktober vom bewaffneten Arm der Hamas ohne große Absprache mit der politischen Führung konzipiert wurde. (Es ist auch denkbar, dass das Ausmaß der Bresche in der Mauer die Planer des Angriffs selbst überrascht hat, die vielleicht eine Art Selbstmordaktion durchführen wollten und nicht mit einem solchen militärischen Zusammenbruch Israels gerechnet hatten, der die Tür zu Massakern großen Ausmaßes öffnete).
Die Operation der Hamas ist keineswegs ein fanatischer tausendjähriger Wahn. Es ist eine riskante Wette, die sich aber auszahlen kann. Die Optionen in Israels Händen sind begrenzt. Es gibt den Weg der Verhandlungen, den Weg des regionalen Krieges und nicht viel dazwischen. Aber es bleibt eine Wette, denn es ist nicht sicher, dass der israelische Staat und das israelische Kapital die Entscheidung für eine Stabilisierung treffen werden.
In jedem Fall ist die Etappe „Massaker“ durch Gräberteppiche unvermeidlich, aber das ist eine andere Frage, sie bereitet den Führern natürlich keinerlei Sorgen.
Frage: Du sagst, dass die Hamas sich wie ein Staat verhält, aber nicht die Mittel dazu hat. Du sagst auch, dass sie einige ihrer Interessen opfert, um später mehr davon zu haben. Kannst du das genauer erklären?
Minassian: Ganz einfach, im Rahmen von Verhandlungen anerkannt zu werden. Wahrscheinlich nicht im Hinblick auf ein Friedensabkommen, so weit sind wir noch nicht und in Wirklichkeit glaube ich, dass weder die Hamas noch Israel ein Interesse an einem umfassenden Abkommen haben. Aber die Ausrottung der Hamas ist aus israelischer Sicht nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen. Indem sie ihre militärischen Fähigkeiten demonstriert, versucht die Hamas, sich als unabdingbar für das regionale Kräfteverhältnis zu erweisen.
Das Scheitern der Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA in den letzten Jahren zeigt, dass die Zeit nicht für „Lösungen“ reif ist. Für die Hamas geht es, wie jedermann sagt, darum, die amerikanische Lösung eines israelisch-saudischen Abkommens zu blockieren. Was sie dabei zu gewinnen hat, ist in erster Linie, sich als Gesprächspartner für die arabischen Länder in der Region zu etablieren, die PLO [Palästinensische Befreiungsorganisation, zu der neben der Fatah auch die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) gehört] im Westjordanland und im Libanon weiter zu marginalisieren. Es bedeutet, kleine Märkte der palästinensischen Vertretung auf Kosten des PLO-Konkurrenten zu erobern.
Frage: Sind die Interessen, die hier auf dem Spiel stehen, wirklich so begrenzt?
Minassian: Ich weiß nicht genau, wie ich diese Frage beantworten soll. Natürlich müssen diese Militäroperation und der Krieg, den sie auslöst, auch in einem globalen Kontext gesehen werden, in dem die Regulierungskanäle des Kapitalismus zusammenbrechen.
Krieg ist meines Erachtens immer ein Versuch, die Krise der kapitalistischen Verwertung als Operation der Deakkumulation zu lösen. Aber er ist auch Ausdruck der Erschütterung des Gleichgewichts, das dem Verhältnis zwischen Staat und Kapital zugrunde liegt. Er ist ein Krisenmoment, in dem die Kontrolle des Kapitals, des Gesamtkapitals, über den Staat gelockert wird zugunsten der Aneignung des Staates durch bestimmte besondere kapitalistische Sektoren, ja sogar durch Clans und Politiker. Der Krieg zwischen Kapitalisten ist nicht nur ein Krieg zwischen Imperialismen. Er bringt zahlreiche Akteure zusammen, die in Ermangelung von Leitplanken manchmal riskante Wetten eingehen, eine Karte ausspielen und versuchen, von einer Umwälzung der Kräfte zu profitieren. Eine solche Spirale ist seit dem Krieg in der Ukraine zu beobachten. Die eingefrorenen Fronten erwachen wieder: Wir hatten Karabach, jetzt ist es Gaza.
Die Generalstäbe rücken vor, probieren Pläne aus, testen Widerstände und stürzen sich ins Wasser. Das ist es, wozu sie spontan Lust haben, ständig. Was uns in den letzten zwei Jahren überrascht hat, ist, wie sehr die Leitplanken, die sie zurückhielten, zu zerbröseln scheinen.
Frage: Welcher Art ist die Herrschaft der Hamas über die Menschen in Gaza? Wie sichert sie ihre Macht; welche Gewinne ziehen ihre Anführer daraus; welche (offenen oder verdeckten) Verbindungen zu Israel unterhält sie?
Minassian: Die Hamas ist eine Bewegung, die aus der Bewegung der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Wie fast überall in der arabischen Welt entwickelte sie sich in den 1970er und 1980er Jahren innerhalb des palästinensischen Kleinbürgertums, in den besetzten Gebieten und in der Diaspora. Seit ihrem Eintritt in den Kampf gegen Israel im Zuge der ersten Intifada hat sich diese soziale Basis auf proletarischere Segmente ausgeweitet, bevor die Kontrolle über das Gaza-Territorium und seine Militarisierung ihren Charakter grundlegend verändert haben. Sie fand sich, wie bereits erwähnt, in der Position eines Staatsapparats wieder, mit der Notwendigkeit, viele verschiedene und gegensätzliche kategoriale Interessen zu integrieren, zwischen ihnen zu jonglieren und zu vermitteln. Und parallel dazu hat sich die Hamas, da Gaza kein wirklicher Staat ist, auch in eine Milizpartei verwandelt, vergleichbar mit der Hisbollah im Libanon.
Diese doppelte Entwicklung hat eine widersprüchliche Dimension. Ich stelle die Hypothese auf, dass der aktuelle Krieg in gewisser Weise den Sieg der zweiten Logik über die erste markiert. Der bewaffnete Arm hat über den Staatsapparat gesiegt; die militärischen Alimentierungskreisläufe (aus dem Iran) haben über die zivilen Alimentierungskreisläufe (aus Katar) gesiegt.
Die Hamas ist eine klassenübergreifende Bewegung, was ihre erratischen Bewegungen erklärt. Die Bewegung gewann die Wahlen zum palästinensische Legislativrat 2006 als Partei der Ordnung: Sie versprach, dem Sicherheitschaos ein Ende zu setzen, die Waffen zum Schweigen zu bringen, die Korruption zu bekämpfen, einen pro-bürgerlichen Staatsapparat aufzubauen, der die soziale Ordnung mit einer auf Wohltätigkeit basierenden sozialen Umverteilung sicherstellt. Paradoxerweise erschien sie als die Anti-Intifada-Partei, und die Mehrheit der Notabeln der beiden Wirtschaftszentren des Westjordanlands, Nablus und Hebron, stand damals auf ihrer Seite, blieb aber mit jordanischen Wirtschaftsinteressen verbunden. Die Hamas gewann anschließend die entsprechenden Wahlen im Gazastreifen, allerdings mit den Parolen Widerstand und militärische Rekrutierung, die auf das Lumpenproletariat in den Flüchtlingslagern abzielten. Nicht mit der Logik eines Aufstands oder einer sozialen Bewegung, sondern mit der Logik militärischer Klientelpolitik. Anders als im Westjordanland gibt es in Gaza keine Handels- und Stadtbourgeoisie.
Der Interklassismus ist seitdem nicht mehr explodiert. Die Hamas hantiert weiterhin mit gegensätzlichen Mobilisierungslogiken. Der Anführer ihres bewaffneten Arms, Mohammad Deif, ist eine Art mythische Ikone, ein Überlebender zahlreicher gezielter Mordversuche. Er wird als James Bond aufgebaut, um mit Teenagern in Flüchtlingslagern zu sprechen, während die Führer in Anzügen in 5-Sterne-Hotels in Katar abhängen und mit Ministern und Kapitalisten aus der arabischen oder türkischen Welt alle möglichen Leckereien essen. Und wenn es der Mohammad-Deif-Rand ist, der eine Aktion wie die vom 7. Oktober startet, lässt die Anzugträger-Fraktion ihn gewähren, weil sie geheime Hoffnungen hegt, die Früchte in den diplomatischen Korridoren ernten zu können.
Frage: Ich bin vorsichtiger, was die Kompradorenbourgeoisie in Gaza-Stadt davon hält, während ihre Villen von den Bomben dem Erdboden gleichgemacht werden.
Was sind die Merkmale der Ausbeutung der Proletarier in Gaza?
Minassian: Ich habe viel Zeit im Westjordanland verbracht, aber ich kenne den Gazastreifen nicht direkt. Aufgrund seiner politischen und geografischen Lage, die an einen Raum intensiver kapitalistischer Akkumulation geklebt ist, könnte man sagen, dass Gaza ein großer „Mülleimer“ Israels ist. Aber selbst in den Mülltonnen der Kapitalisten gibt es soziale Spaltungen.
Ist es im Grunde eine Art Ghetto? Konkret: Haben die Proletarier in Gaza Arbeit (formell oder informell), oder muss man sie mehrheitlich für überzählig halten?
„Überzählig“ in dem Sinne, dass die Arbeit in Gaza fast nirgends eine kapitalistische Akkumulation ermöglicht. Das Kapital, das in Gaza zirkuliert, stammt hauptsächlich aus Renten (und selbst das sind nur sehr unbedeutende Renten): Renten aus der Auslandshilfe (Iran und Katar), Renten aus Monopolsituationen (die Tunnel). Die erwirtschafteten Profite resultieren nicht aus der Ausbeutung der Arbeit durch Kapitalisten. Die Reproduktion der Proletarier und die Verwertung sind zwei getrennte Prozesse, wie der Eine sagen würde. Die Bosse sind in ihrer überwältigenden Mehrheit unbedeutend und der Staat reguliert nichts.
Gaza ein Raum, der völlig abseits der kapitalistischen Verwertungskreisläufe liegt, wie viele andere Peripherien der Welt auch. Es gibt keine „nationale Bourgeoisie“, da es kein Gaza-Kapital gibt.
Es gibt auch keine „traditionelle Bourgeoisie“ wie im Westjordanland oder in Jerusalem – alte Familien, die auf verstaubtem Handels- und Landkapital sitzen, das aber in den sozialen Beziehungen noch effizient ist. Stattdessen gibt es in Gaza eine Form der neuen „Kompradoren“-Bourgeoisie, die sich auf Zirkulationsrenten stützt. Dabei handelt es sich nicht um eine Klasse im engeren Sinne, sondern um eine soziale Formation, die massive Einkünfte aus ihrer Position als Vermittler im Handel mit ausländischen Kapitalisten bezieht (im Gegensatz zu einer Bourgeoisie, die ein Interesse an der Entwicklung der nationalen Wirtschaft hat).
Ein Teil dieser Bourgeoisie deckt sich mit dem politischen Apparat der Hamas, da das zirkulierende Kapital weitgehend aus einer Rente geopolitischer Natur stammt, es kommt aus Staaten wie Katar oder dem Iran. Aber es gibt auch andere Renten, zum Beispiel aus dem Grenzverkehr mit Ägypten. Um die Schmugglertunnel herum wurden Vermögen aufgebaut, und hier handelt es sich eher um einen globalisierten Feudalherren – typischerweise ein Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Im Jahr 2007 kam es in Rafah im Süden des Streifens zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen sozialen Clanformationen und dem politisch-militärischen Apparat der Hamas, bei denen es um die Besteuerung des Warenverkehrs ging.
Im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ist die Hamas nicht für den öffentlichen Dienst zuständig, sie zahlt auch nicht die Gehälter: Diese gehen immer zu Lasten der PA. Die PA kürzt oder reduziert regelmäßig die Gehälter der Beamten in Gaza, um die Hamas zu schwächen.
Regelmäßig, und wahrscheinlich zum Teil als Folge davon, gibt es auch „soziale“ Mobilisierungen, die Würde fordern – typischerweise Wasser, Strom, Löhne. Die Hamas unterdrückt sie mehr oder weniger gewaltsam, jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung, die darauf hindeutet, dass sie darauf achtet, kein Öl ins Feuer zu gießen. Die aktuelle Militäroffensive folgt auf eine ähnliche Episode, die sich im Sommer ereignet hat. Man kann sich leicht vorstellen, dass es eine Verbindung oder zumindest eine Logik gibt, die diese beiden Arten von Ereignissen miteinander verbindet.
Der Protest gegen die verwaltende Hamas und die Unterstützung der kämpfenden Hamas sind keineswegs antagonistisch. Der erste greift Ihre Würde an, während die zweite sie rächt. Ohne die Hamas-Kämpfer hätte die Hamas-Verwaltung in Gaza wahrscheinlich mit größeren Protesten zu kämpfen.
Frage: Du sagst, dass du das Westjordanland besser „kennst“ als Gaza. Gibt es große Unterschiede zwischen diesen beiden Gebieten oder handelt es sich im Gegenteil um zwei Varianten derselben Logik?
Minassian: Der Gazastreifen ist seit langem der bereits erwähnte „Mülleimer“ mit überzähligen Flüchtlingen. Ein winziges Gebiet, in das 1947-1948 ein Strom von Flüchtlingen getrieben wurde, der die lokale, überwiegend bäuerliche Bevölkerung überschwemmte. Es gibt dort keine Ressourcen. Im Westjordanland ist die Klassenbildung anders, dort gibt es Städte und Honoratioren. Und es gibt landwirtschaftliche und Wasserressourcen, die Israel für sich beansprucht. Die Löhne sind doppelt so hoch, es gibt einige Industriezweige, die auf einer relativen Integration zwischen der Kompradorenklasse der PA und dem israelischen Kapital beruhen. Die Fatah, die die Städte regiert, ist eine Partei, die keinen sozialen Zusammenhalt mehr hat. Im Jahr 2006 verlor sie die Wahlen gegen die Hamas. Im Jahr 2007 unternahm sie einen von Israel und den USA unterstützten Coup, um die Hebel der öffentlichen Macht in den Städten des Westjordanlandes zu behalten, und „überließ“ Gaza der Hamas. Seitdem hat sie keine auf irgendeiner Form von demokratischem Verfahren beruhende Legitimität mehr. Ihre Macht beruht auf der Zusammenarbeit mit Israel, die hinter hohl klingenden nationalistischen Reden verborgen ist. Sie regiert über voneinander getrennte Enklaven, die immer mehr von Siedlungen umgeben sind und in die die israelische Armee regelmäßig eindringt.
Viele palästinensische Arbeiter aus dem Westjordanland arbeiten legal oder illegal auf israelischem Gebiet oder in den Siedlungen. Sie haben wirtschaftliche Verbindungen zu den Palästinensern von 1948, die mit der israelischen Staatsbürgerschaft ausgestattet sind; sie sprechen oft Hebräisch.
Was passiert derzeit im Westjordanland? Was macht die Fatah? Gibt es soziale oder politische Kräfte, die einen mehr oder weniger proletarischen Charakter haben, die im Moment der Krise stärker werden könnten?
Der Gazastreifen scheint mir im Moment verloren, was die Möglichkeiten hinsichtlich einer proletarischen Aktivität betrifft. Anders sieht es in den Städten des Westjordanlandes aus, wo der innerpalästinensische Kampf um die politische Kontrolle seit Jahren mit autonomen Manifestationen des Klassenkampfes voranschreitet. Die soziale Kontrolle wird gemeinsam durch einen Sicherheitsapparat gewährleistet, der von kompradoren Kapitalisten, die von Israel abhängig sind, und städtischen Baronen, die mit Jordanien verbunden sind, unterhalten wird. Der Zusammenhalt dieser Klasse zerfällt immer weiter, die Fatah reguliert nichts mehr und jeder versucht, sich sein Lehen auf Kosten der anderen zu sichern. Das erwartete Ereignis, das all dies klären sollte, ist der Tod des paranoiden Dinosauriers Mahmud Abbas, aber die Dinge werden sich zwangsläufig beschleunigen.
Die Hamas ist seit fünfzehn Jahren im Westjordanland in einen Schlafmodus gefallen. Es gibt keine öffentlichen oder direkten militärischen Aktivitäten. Sie unterhält Loyalitäten, aber diskret. Die bewaffneten Gruppen, die im Norden (Nablus, Jenin, Tulkarem) wieder aufgetaucht sind, haben keine Verbindungen zu ihr. Diese Passivität erweckte den Eindruck, dass die Hamas die Situation abgesegnet hatte und den Status quo nicht durchbrechen wollte. Innerhalb der bewaffneten Gruppen in den Flüchtlingslagern brachte ihr das einen schlechten Ruf ein: Sie war die Kehrseite der Fatah, nur Maulhelden, politische Interessen, die sich von denen des Volkes unterschieden. Und dann diese Operation: Das ändert eindeutig die Situation in Bezug auf die Wahrnehmung. Ob es uns gefällt oder nicht, das Wappen wird dadurch verdammt aufgewertet. Schon jetzt sieht man die Hamas-Flagge überall auf den Demonstrationen wehen, was vor einem Monat noch unvorstellbar war. Wird die Hamas der PA die Macht im Westjordanland direkt streitig machen? Das ist unwahrscheinlich, da ihre Aktivitäten nicht nur von der PA, sondern auch von Israel genau überwacht werden und da die palästinensischen Enklaven im Westjordanland kein zusammenhängendes Gebiet bilden, lassen sie sich militärisch nicht halten, ohne die Sache mit der israelischen Armee zu verhandeln. Aber sie kann ihre Strategie ändern und die Aktivitäten bewaffneter Gruppen auf die eine oder andere Weise unterstützen.
Wie dem auch sei, die Dinge werden sich zwangsläufig bewegen. Die PA wird es schwer haben, ihre Sicherheitshoheit aufrechtzuerhalten. Die Kohärenz der politisch-sicherheitspolitischen Klasse wird auf eine harte Probe gestellt werden.
Die Armee und die Siedler haben parallel zur Offensive in Gaza eine Reihe von Angriffen im Westjordanland gestartet. Diese Offensive wird sich intensivieren und eine Reihe von Massakern mit sich bringen, die stärker eingegrenzt sind als in Gaza, aber wahrscheinlich auch stärker „selbstorganisiert“ sind.
Es gibt also allen Grund, besorgt zu sein. Aber irgendwie habe ich auch die Hoffnung, dass ein autonomer Kampfraum gestärkt wird und die bleierne Decke aus Unterdrückung und Klientelismus, die die PA in den letzten 15-20 Jahren produziert hat, wegfegt – dass ein Zusammenbruch der palästinensischen Sicherheitskräfte die seit Jahren erwartete soziale Explosion ermöglicht. Die Klassenverhältnisse im Westjordanland sind von außergewöhnlicher Gewalt geprägt. Die Bourgeoisie im Westjordanland hat lange Zeit von der kooperativen Situation mit Israel profitiert, sie hat sich vollgefressen und es wäre gut, wenn sie den Hintern ein bißchen zusammenkneifen müsste.
Frage: Seit einiger Zeit gibt es in Israel soziale Proteste gegen Netanjahu und insbesondere seine Justizreform. Welche Konsequenzen haben diese Kämpfe (wenn überhaupt) in der aktuellen Situation? Inwieweit drückt der „zivile“ Widerstand der israelischen Bevölkerung (z. B. die jüngsten Kämpfe gegen die Justizreform) solche Bestrebungen aus?
Minassian: Der Krieg scheint mir auch ein Symptom für den Kohärenzverlust der Kapitalistenklasse zu sein; und gleichzeitig wird dieser Kohärenzverlust durch die militärische Einheit verschleiert. Der israelische militärische Zusammenbruch am 7. Oktober scheint weitgehend aus der Auseinandersetzung hervorzugehen, die durch die israelische Kapitalistenklasse verläuft und die zum ersten Mal die Institution des Militärs erreicht hat. Der Kampf in den letzten Monaten war intensiv und hat sich auf der Straße entladen. Das alte Israel, aschkenasisch, bürgerlich, säkular und militärisch, das vertikal in Tel Aviv akkumuliert, traf auf die herrschende extreme Rechte, sephardisch, revanchistisch und horizontal akkumulierend in den Hügeln des Westjordanlandes. Aber bei diesen Demonstrationen ist nie etwas Proletarisches übergeschwappt. Schlimmer noch: nichts Demokratisches, im „zivilen“ Sinne, wie du es nennst. Das Proletariat in Israel, das dennoch unter einem hohen Ausbeutungsniveau leidet, wird durch seine existenzielle Einbindung in den Militärstaat mundtot gemacht.
Die kriegerische nationale Einheit hat diesen Machtkampf innerhalb der israelischen herrschenden Klasse vorübergehend unter den Teppich gekehrt: Um Gaza unter einem Bombenteppich zu ertränken, sind sich alle einig; und um eine bleierne Sicherheitsdecke zu errichten, auch. Seit der allgemeinen Mobilmachung ist die Jagd auf den inneren Feind eröffnet. Sie betrifft die Handvoll Linker, die es noch gibt, aber auch und vor allem das muslimische Proletariat (die Palästinenser von 1948), bei dem jede noch so kleine Solidaritätsbewegung mit den Opfern der wahllosen Bombardierungen zur Strecke gebracht wird. Was wird in einigen Monaten passieren? Wird der Krieg zu einer Angleichung der herrschenden Klasse an die Siedlerpartei führen? Diese wird zwar von der Mehrheit der Bourgeoisie wegen ihrer religiösen Rückständigkeit verachtet, steht aber dennoch am stärksten im Einklang mit einer Mobilisierung, die auf die Jagd nach Arabern ausgerichtet ist und zweifellos noch nicht enden wird.
Frage: Glaubst du, dass das rein koloniale Analyseraster operativ ist, um die Beziehungen zwischen Israel und dem palästinensischen Proletariat zu definieren?
Minassian: Ja und nein, offenkundig.
Wir befinden uns in einer Situation, in der es weniger um die Ausbeutung einer einheimischen Arbeitskraft geht als um die Verwaltung einer überschüssigen proletarischen Bevölkerung, und zwar in einem Ausmaß, das innerhalb der kapitalistischen Akkumulationszentren einzigartig ist. Für jeden Arbeiter mit einem Arbeitsvertrag in Israel gibt es einen weiteren, der in einer der großen geschlossenen Vorstädte festgehalten wird, die die Siedlungszentren unter palästinensischer Gerichtsbarkeit bilden: der Gazastreifen und die Städte des Westjordanlandes. Das sind fast fünf Millionen Proletarier, die nur wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt eingepfercht sind, unsichtbar, die vom täglichen Verkauf ihrer Arbeitskraft leben und von Soldaten bewacht werden, damit sie nicht aus ihren Käfigen herauskommen.
Dieses große Einsperren, diese Operation der Trennung zwischen nützlichen Proletariern und überzähligen Proletariern auf ethnisch-religiöser Basis, beginnt gleichzeitig mit dem Beginn des Friedensprozesses, der in Wirklichkeit ein Prozess der Externalisierung der sozialen Kontrolle über die Überzähligen ist. Zuvor, in den 1970er und 1980er Jahren, waren die Palästinenser massiv vom israelischen Kapital in Lohn und Brot gebracht worden.
In diesem Sinne ist der Begriff „kolonial“ etwas unpassend, um das soziale Verhältnis zu bezeichnen, das seit Anfang der 1990er Jahre in Israel-Palästina herrscht. Darüber hinaus hat er den Nachteil, dass er einen Gegensatz zwischen zwei nationalen Formationen festschreibt, die in Wirklichkeit gemeinsam produziert und reproduziert werden. Palästinensische und israelische Proletarier sind Segmentierungen ein und desselben Ganzen. Was sich seit dem 7. Oktober abspielt, muss als eine Verhandlung durch Gewalt zwischen dem Subunternehmer aus Gaza und seinem israelischen Arbeitgeber betrachtet werden. Es muss in diesem Sinne klar von der Kampfaktivität der palästinensischen Proletarier unterschieden werden, der die Subunternehmer der Hamas und der PA an vorderster Front gegenüberstehen. Sie hat nie aufgehört zu existieren, aber die nationalistische Umarmung wird ihr, zumindest in Gaza, einen schweren Schlag versetzen.
Abgesehen von allen moralischen Erwägungen scheint mir der Begriff „Widerstand“, der auf die koloniale Vorstellungswelt verweist, ungeeignet, um die Militäroperation vom 7. Oktober zu bezeichnen: Die Interessen der Hamas sind nicht die der Proletarier, sie sind nicht die – um die gängige Vokabel zu verwenden – des „palästinensischen Volkes“. Die Proletarier in Gaza werden, unabhängig vom Ergebnis dieser Verhandlungen, die großen Opfer sein – sie sind es bereits. Wenn Israel die Flügel wachsen, um sich seines Subunternehmers zu entledigen, würde das bedeuten, dass Israel die Flügel wachsen, um sich seiner überzähligen Proletarier in Gaza zu entledigen. Das eine kann nicht ohne das andere gehen.
Andererseits glaube ich aber auch, dass wir nicht ohne ein auf dem Kolonialen basierendes Analyseraster auskommen können.
Israel beerbt diese europäische Logik, die darin besteht, die Arbeitskraft auf der Grundlage rassischer Kriterien zu „animalisieren“ und eine Barriere zwischen der zivilisierten und der vorzivilisierten Welt zu ziehen. Dieses Paradigma wirkt in Israel mit voller Wucht, und zwar auf eine ganz bewusste Weise. Derzeit werden die Menschen in Gaza nach dieser Logik massakriert: Man ertränkt sie in Bomben, ohne ein anderes politisches Ziel zu verfolgen, als sie zu „beruhigen“ und an die Hierarchie zu erinnern, die die Menschengruppen in dieser Region der Welt voneinander trennt. Ein Hund beißt, man erschießt das Rudel.
Es muss daran erinnert werden, dass diese Grenzen zwischen Zivilisation und Tier fließend sind. Sie waren und sind auch innerhalb der israelisch-jüdischen Staatsbürgerschaft wirksam. Arabische (Mizrahis) oder äthiopische (Fallashas) Juden waren lange Zeit auf der falschen Seite des Zauns und stellten eine Art einheimische Prügelknaben dar, die dazu benutzt wurden, andere Einheimische zu besänftigen.
Das Koloniale, als Erbe der eigentlichen Kolonialzeit, erzeugt eine Art „Trieb“-Ökonomie, um die sich der Aufbau sozialer Kategorien rankt – und das ist übrigens nur das vergröberte Bild dessen, was in der gesamten „Festung“, die aus den zentralen Ländern der kapitalistischen Akkumulation besteht, vor sich geht, wie man an der unmittelbaren Übertragung des „Zivilisationskriegs“ auf Frankreich sieht.
Die gegenwärtige Dynamik und ihre Logik, die überzähligen Proletarier in Reserve zu halten, führt eine Flut von Affekten mit sich, die auf Demütigung aufgebaut sind. Angesichts der Unmöglichkeit, kollektiv in die sozialen Beziehungen einzugreifen, produziert die Ohnmacht eine Logik des doppelten Ressentiments: Suche nach Anerkennung auf der einen Seite, Rache auf der anderen.
Weil sie keine Bourgeoisie haben, auf die sie sich stützen, weil sie kein Proletariat haben, das sie selbst ausbeuten, müssen sich Politiker wie die der Hamas auf die Ausbeutung dieser Affekte stützen, deren Verkörperung sie werden – aus Mangel an etwas Besserem, aus Mangel an mehr.
Frage: Um auf Israel zurückzukommen: Wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Akkumulation weitgehend auf der permanenten „Kriegswirtschaft“ + auf der Landnahme + auf der Ausbeutung des mehr oder weniger formellen palästinensischen Proletariats beruht, muss man dann jede „Lösung“ (z. B. „Zweistaatenlösung“) als entschieden unmöglich betrachten?
Minassian: Als Israel ab den 1990er Jahren die Verwaltung der palästinensischen Arbeitskräfte in den besetzten Gebieten loswerden wollte, übertrug es diese Aufgabe an einen Subunternehmer, die Palästinensische Autonomiebehörde. Doch Israel hält sich nicht an den Vertrag, der zu einer Art symbolischer Souveränität führen sollte. Es misshandelt seinen Subunternehmer. Daraufhin revoltiert der Subunternehmer: Es kommt zur zweiten Intifada, in der sich ein Kampf der PA gegen ihren Arbeitgeber mit einem allseitigen proletarischen Kampf gegen Israel und den Subunternehmer vermischt, der sich jedoch als durch die Triangulierung abgewürgt erweist. Am Ende dieser historischen Sequenz spaltet sich die Subunternehmerschaft der PA. Ein schlecht behandelter, aber gefügiger Subunternehmer im Westjordanland; ein anderer schlecht behandelter, aber quirliger Subunternehmer in Gaza. Die Hamas mag als Feind behandelt werden, aber Tatsache ist, dass Israel in diesem Kontext nicht ohne Subunternehmer auskommt.
Kehren wir kurz zu diesem Prozess und seinem Scheitern zurück. Warum haben die Kapitalisten den „Frieden“ nicht ergriffen, der darin bestand, einen palästinensischen „nationalen Prozess“ in Gaza und im Westjordanland zu unterstützen? Was ihnen damals in den Schoß fiel, war die Öffnung eines regionalen Marktes mit den umliegenden Ländern, die Möglichkeit von Investitionen in Ländern mit billigen Arbeitskräften. Es hätte ausgereicht, der Autonomiebehörde die Attribute eines Schurkenstaates zu überlassen, der von externen Geldgebern bis zum Anschlag finanziert wird und der ein gefangener Markt geblieben wäre.
Die Antwort auf diese Frage ist für mich nicht eindeutig. Ich stelle zwei Hypothesen auf. Die erste ist die des Gewichts des „militärischen“ Kapitals, das durch die militärische Rente gestützt wird, die aus den USA nach Israel fließt. Dieser Militärkapitalismus, der mit dem High-Tech-Sektor verbunden ist, wird über den Kopf des regionalen Marktes hinweg internationalisiert. Die zweite Hypothese sieht das Scheitern des Friedensprozesses als Teil der großen Katastrophe, die der Versuch der USA, den Nahen Osten in den 2000er Jahren umzugestalten, darstellte.
In der Erwartung, dass sich der Kapitalfluss in der Region durch militärische Mittel verflüssigen würde, hatte sich Israel dann zunächst daran orientiert, bevor es sich vorstellte, dass es die ‘Untervergabe’ haben könnte, ohne etwas an die Machthaber in den palästinensischen Reservaten abtreten zu müssen. Dies alles hielt fast zwanzig Jahre lang an. In diesem Zusammenhang entstand schließlich sogar die Aussicht auf die Erschließung neuer Märkte in der arabischen Welt (das so genannte Abraham-Abkommen und neue Aussichten auf eine Pax americana mit Saudi-Arabien), und es ist wohl diese Situation, die gerade zerbrochen ist.
Was sich am 7. Oktober gezeigt hat, ist, dass die Butter-und-Brot-Gleichung nicht haltbar ist: Man wird mit den palästinensischen Kerkermeistern der palästinensischen Reserven verhandeln müssen, um die auf seinem Territorium gebildeten Ghetto-Reserven einzudämmen, oder sich ihrer entledigen müssen, was eindeutig eine neue Seite in der Geschichte der kapitalistischen Gewalt in den Ländern des zentralen Akkumulationsblocks aufschlagen würde. Das ist nicht unmöglich. Es lässt einen nur schaudern.
Frage: Ist die Idee des „palästinensischen Volkes“, auch wenn sie sich über die sozialen Spaltungen hinwegsetzt, nicht trotzdem operativ, auch innerhalb der beherrschten Klassen?
Minassian: Gesellschaftskritik ist meiner Meinung nach vor allem die Produktion von Kategorien, die es ermöglichen, Antagonismen in Form von sozialen Widersprüchen zu denken. In einem Kontext wie dem israelisch-palästinensischen mag dies wie eine Operation erscheinen, die die zirkulierenden subjektiven Kategorien, auf deren Grundlage die Kampfaffekte konstruiert werden, über das, was als Identität wahrgenommen wird, verzerrt.
Die Idee des „palästinensischen Volkes“ als Gegenkategorie zu „Israel“ ist natürlich an vielen Stellen wirksam: auf Ausweispapieren und in den meisten Köpfen, auch als Legitimationsmodus für proletarische Kämpfe.
Aber die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist: Es ist die Geschichte der Bildung einer kapitalistischen jüdischen Bourgeoisie, die eine arabische feudal-marktwirtschaftliche Bourgeoisie auslöscht; die Verschmelzung dieser Bourgeoisie mit einem Militärstaat usw. Die Ethnisierung der sozialen Beziehungen hat eine Geschichte, die in erster Linie die Geschichte der herrschenden Klassen ist. Die Proletarier werden in diese Ethnisierung der Antagonismen innerhalb der herrschenden Klasse hineingezogen.
Man darf nie aus den Augen verlieren, dass im „palästinensischen Kampf“, einschließlich des unter dem Banner der Hamas geführten, in erster Linie ein Kampf zu lesen ist, der von den herrschenden arabischen Gesellschaftsklassen – oder von denen, die danach streben, in sie zu investieren – für ihre Integration in das israelische Kapital geführt wird. Die Interessen der Proletarier, auch wenn sie sich manchmal unter dem Banner des nationalen Kampfes wiederfinden, stehen in letzter Instanz im Widerspruch zu denen ihrer Bourgeoisie.
Ich glaube, dass Solidarität nicht mit dem „palästinensischen Widerstand“, sondern mit den Kämpfen der Proletarier gegen die ihnen zugemuteten Existenzbedingungen geboten ist. Die Proletarier kämpfen unter den Flaggen, die ihnen zur Verfügung stehen. Wir sollten nicht auf die Flagge schauen, sondern auf die Kämpfe selbst. Eine palästinensische Flagge und sogar eine Fatah- oder Hamas-Flagge sind potenziell Kampfstandarten, die sich je nach Kontext den politischen Managern entziehen. Im Übrigen sollte man nicht auf die Hamas scheißen, weil sie Islamisten sind, sondern weil sie ein Apparat zur Kontrolle des Proletariats ist, ein Staat im Entstehen.
Dennoch kann diese Gesellschaftskritik manchmal unglaublich kalt und weit entfernt von den Erfahrungen eines Kampfes erscheinen, der andere Kategorien mobilisiert. Die Mütze, die ich aufsetze, um über dialektischen Materialismus zu sprechen, ist nicht die gleiche, wie wenn sich die Situation vor meinen Augen entfaltet, mit ihrer Gewalt, ihren Kämpfen und ihrer Subjektivität.
Frage: Läuft eine materialistische Kritik in einem derart identifikationsgeladenen Kontext nicht Gefahr, zu abgehoben zu erscheinen?
Minassian: Mir scheint, dass in einem solchen Kontext eine Herausforderung darin besteht, nicht eine Position, sondern einen Standpunkt, eine Methode zu wahren. Ein revolutionärer Blick besteht zunächst darin, sich nicht von der Verselbständigung moralischer Kategorien, die von der Linken gehandhabt werden, blenden zu lassen. Ich sehe zwei, die derzeit in Gesprächen ständig drohen, ein dialektisch orientiertes Denken zu erdrücken.
Der erste ist der reflexartige Klagegesang nach dem Motto „Das Proletariat ist nicht so, wie man es gerne hätte“: antisemitische muslimische Proletarier, rassistische jüdische Proletarier. Abgesehen davon, dass dieses Denken – das darin besteht, die Innerlichkeit des Proletariers von einer intellektuellen Position aus zu betrachten – von Natur aus bürgerlich ist, ist es in einer Situation, die die eines Antagonismus ist, in der sich keine Form proletarischer Autonomie manifestiert, besonders unangebracht.
Was sich derzeit entfaltet, ist eine Logik der Umarmung des Proletariats auf der einen Seite und des reinen Massakers an überzähligen Proletariern auf der anderen. Einige werden also den guten alten Zeiten nachtrauern, in denen die palästinensischen politischen Gruppierungen (und damit, so wird vermutet, das Volk selbst) links waren. Mir scheint, das ist dumm. Die Ideologie der politischen Gruppierungen ist, sobald man davon ausgeht, dass sie in erster Linie darum kämpfen, dass ihre Führer sich zu einer herrschenden Klasse aufschwingen und sich reproduzieren, zweitrangig. Was die Methoden betrifft, möchte ich nur daran erinnern, dass es beispielsweise ein Kommando der DFLP [Demokratische Front für die Befreiung Palästinas], einer ideologisch linksradikalen (und mit Gruppierungen der israelischen Linksradikalen verbundenen) palästinensischen Formation, war, das 1974 das Massaker an 22 Kindern in einer Schule in Ma’alot verübte.
Ein zweiter Reflex des problematischen Denkens besteht darin, die Metaphysik in die Analyse einfließen zu lassen. Dieses metaphysische Denken ist in der Idee der Wiederholung enthalten, die Erstarrung und Verwirrung generiert. Es ist in den Ausführungen über die „Massaker an den Juden“, aber auch über die „palästinensische Tragödie“ am Werk. Diese Elaborate, die sich vielleicht autonom in den Tiefen der Psyche entwickeln, sind nichtsdestotrotz reine Produkte der Art und Weise, wie das bürgerliche Denken die sozialen Verhältnisse in den Himmel der Ideen verschiebt.
Lassen wir die Geschichten von Farce und Tragödie beiseite. Die Geschichte wiederholt sich nicht: Die Antagonismen, die sich entfalten, sind in erster Linie aktuelle Antagonismen.
Der Text erschien am 30. Oktober 2023 im französischen Original, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.