Das Geschäft mit der Katastrophe

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Die Telerunde am Dienstag, 11. Februar, begann mit einem Kommentar zu einem Artikel über Wahlstress („Wahlstress, das neue Übel des modernen Lebens“).

FOBO (‚Fear Of Better Option‘) ist nach Ansicht von Psychologen eine neue Form der Angst, die auf eine Fülle von Reizen, eine zu große Auswahl an Waren in einem Einkaufszentrum oder auf Online-Einkaufsplattformen zurückzuführen ist. Wir sehen diese Phänomene als Teil dessen, was wir allgemein als „sinnloses Leben“ bezeichnet haben. Die Menschheit wird von der unüberschaubaren Menge an produzierten Waren, von Werbung und Marketing erdrückt, was zu Ängsten, Ohnmachtsgefühlen usw. führt.

In dem Artikel „Kontrolle des Konsums, Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse“ haben wir den Punkt „d“ des revolutionären Sofortprogramms (Forli, 1952) entwickelt: Kampf gegen die Werbemodelle, die künstlich verschwenderische Bedürfnisse erzeugen, und gleichzeitig Abschaffung jeglicher Aktivitäten, die die reaktionäre Psychologie des Konsumismus nähren. Dieses Phänomen hängt mit der gigantischen und rasenden Produktion von Waren zusammen. In einer Zeit der Überproduktion von Waren ist es nur natürlich, dass der Kapitalismus den Konsum auf ein Maximum treibt und dafür sorgt, dass auch diejenigen, die über keine wirtschaftlichen Ressourcen verfügen, Zugang zum Markt haben, indem sie sich verschulden.

The Economist (‚China’s youth are rebelling against long hours‘) beschreibt die besondere Situation in China und prangert die zermürbenden Schichten und die tief in der Gesellschaft verankerte Arbeitskultur an. Baidou, Alibaba, Tencent, die sich auf Millionen von Hochschulabsolventen stützen, die ihren ersten Job suchen, zwingen den „Glücklichen“ zermürbende Arbeitszeiten und -rhythmen auf, manchmal mit fatalen Folgen für die Arbeitnehmer. Es gibt jedoch auch Reaktionen auf diese Realität, die Ost und West vereint, z. B. die „Tang Ping“ (das Manifest deutsch auf Sunzi Bingfa, d.Ü.)  in China, die sich weigern, wie Zitronen ausgepresst zu werden, und es vorziehen, sich „hinzulegen“, oder das #AntiWork-Phänomen in den USA, eine Seite auf Reddit mit fast drei Millionen Nutzern, denen die Verweigerung der Arbeit gemeinsam ist. Die US-Bewegung der freiwilligen Einfachheit basiert auf einem minimalistischen Lebensstil, einer ihrer Slogans lautet: Alles, was du besitzt, gehört am Ende dir.

In den USA gibt es sogar Millionäre, die philanthropisch auf Geld verzichten. Sie trafen sich kürzlich in Nashville zu einer Konferenz. Im Jahr 2024 gab es im ganzen Land große Streiks, von den Teamsters bis zu den Amazon-Arbeitern, von den Lehrern bis zu den Hafenarbeitern. Diese Reihe von Phänomenen spiegelt die Schwierigkeiten wider, mit denen die Menschen in einer entfremdeten kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert sind. Auch in den USA wird ein Generalstreik über soziale Netzwerke organisiert (die Initiative #generalstrike hat etwa 11.000 Mitglieder in der Discord-Community). Angesichts der zunehmenden Prekarität der Arbeit ist es absurd, in Fabrikzellen zu denken, ein Thema, das den Ordinovisten vor und den Arbeitern von 1968 nachher am Herzen lag, während die von der Linken angedachte territoriale Organisation, die sich heute auf Netzwerke und alles, was die Gesellschaft an Technologie zur Verfügung stellt, stützt, mit Bedeutung angereichert wird.

Laut einer Umfrage von Il Sole 24 Ore („Junge Menschen auf der Flucht: das Unbehagen und die Isolation, die sie von der Gesellschaft und der Politik fernhalten“) fühlt sich jeder fünfte junge Mensch von der Gesellschaft abgeschnitten, während 58 % zwischen Einbindung und Ausgrenzung schwanken. Das Verschwinden der Massenparteien und die Zunahme des Abstentionismus sind Teil eines umfassenderen Auflösungsprozesses der alten Produktionsweise. Der kapitalistische Akkumulationsprozess neigt dazu, die Pole unumkehrbar zuzuspitzen: auf der einen Seite die Klasse der Unqualifizierten, auf der anderen das System der 1%.

Der Kapitalismus dehnt den Produktionsplan auf die globale Ebene aus und der einzelne partielle Arbeiter nimmt an der Produktion einer kontinuierlichen Ware teil. Marx geht auf diese Fragen in dem unveröffentlichten Kapitel VI des Kapitals ein, in dem er die Produktivität der Arbeit und die Notwendigkeit analysiert, die differenzierte Arbeit der einzelnen Fabrikarbeiter in ein einziges Produkt des globalen Arbeiters zu integrieren. Im Bereich der Informationstechnologie beispielsweise muss man, sobald man ein Gerät, sei es ein PC oder ein Smartphone, erworben hat, weiterhin eine laufende Gebühr für den Internetzugang zahlen, ebenso wie bei Strom, Gas, Wasser und sogar bei Lebensmitteln.

The Economist widmet auch mehrere Artikel der laufenden Transformation des Konflikts in der Ukraine, wo die elektromagnetische Kriegsführung Einzug gehalten hat. In „Fighting the war in Ukraine on the electromagnetic spectrum“ wird die entscheidende Bedeutung von Frequenzstörsendern erörtert, die speziell nach Drohnen „suchen“. Ebenso wie die Störsender entwickeln sich auch die Drohnen, die mit Technologien ausgestattet sind, die sie unangreifbar machen. Die Ukraine hat Pionierarbeit bei der Verwendung von Drohnen mit First-Person-View (FPV) geleistet, mit denen feindliche Ziele punktgenau gesucht, verfolgt und zerstört werden können. Die Bediener der Drohnen können übrigens geortet werden: Jeder, der ein Signal aussendet, ist ein mögliches Ziel. Der derzeitige Krieg ist in Wirklichkeit ein Krieg der Sensoren im Feld, der Satelliten, die Signale in Echtzeit empfangen. Um der Ortung zu entgehen, setzen die ukrainischen Soldaten Drohnen ein, die mit Hilfe von Glasfaserkabeln gesteuert werden, d. h. es werden winzige Kabel abgerollt, die diese Fluggeräte gegenüber der Ortung immun machen.

In „The added dangers of fighting in Ukraine when everything is visible“ beschreibt die britische Wochenzeitung das Szenario des Konflikts, bei dem die Frontlinien mit Überwachungsdrohnen übersät sind, die Echtzeit-Videos übertragen. Jeder kämpft auf einem gläsernen Schlachtfeld, auf dem sich die Soldaten sogar mit spezieller Kleidung bedecken müssen, die die Wärmeabstrahlung blockiert, um nicht von Wärmekameras entdeckt zu werden. Künstliche Intelligenz wird eingesetzt, um die Überwachungsdaten zu analysieren und sie mit frei zugänglichen Signalen und Informationen abzugleichen, z. B. mit den Social-Media-Posts der russischen Soldaten, die deren Positionen verraten können.

Bei den beschriebenen Techniken handelt es sich um Kampftechniken, die wir in „Das Yamamoto-Syndrom“ analysiert haben, einer Semi-Referenz, die sich der modernen, elektronischen und sensorgestützten Kriegsführung widmet.

Apropos Krieg: Donald Trumps Äußerung über die Idee, die Palästinenser des Gazastreifens nach Ägypten und Jordanien umzusiedeln, hat für Aufsehen gesorgt. Die Idee, die Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Jordanien umzusiedeln, wurde bereits vor einigen Jahren von einigen Persönlichkeiten und politischen Kräften unter dem Slogan „Jordanien ist Palästina“ vorgebracht. Aus diesem Grund zögert das Haschemitische Königreich, neue Wellen von palästinensischen Flüchtlingen aufzunehmen.

Das Wachstum der Weltbevölkerung ist eines der Themen, die den Staaten Sorgen bereiten. In dem Artikel „Wird der Geburtenrückgang die Welt retten?“ von Milena Gabanelli und Francesco Tortora Ecco im Corriere della Sera werden die Thesen von Malthus, die zu seiner Zeit von Marx kritisiert wurden, in schlechter Absicht wieder aufgegriffen. In dem Artikel werden die Daten von Ländern genannt, die einen demografischen Zusammenbruch erleben (darunter auch Italien), und es wird ein regelmäßiger Bericht der Vereinten Nationen, die „World Population Prospects“, zitiert, in dem hervorgehoben wird, dass das demografische Wachstum in den letzten Jahren geringer als erwartet ausgefallen ist. Dem Bericht zufolge wird der Weltbevölkerungsrekord Mitte der 2080er Jahre erreicht sein, wenn 10,3 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden. Angesichts der Zunahme des Verbrauchs würde der Planet eigentlich nicht ausreichen. Aber das hat nichts mit den Chinesen, Indern oder Afrikanern zu tun, sondern mit der derzeitigen Produktionsweise („wiederkehrender und hartnäckiger Malthusianismus“) [link d.Ü.). Nicht der Einbruch der Geburtenraten wird die Welt retten, sondern die Beerdigung des Kapitalismus.

Elon Musk schlägt Alarm wegen des Erreichens einer gefährlichen Schwelle und argumentiert, dass die menschliche Spezies, um sich vor der drohenden Katastrophe zu retten, multiplanetarisch werden muss, vor allem durch die Besiedlung des Mars. Für Jeff Bezos (Amazon) bestünde die Lösung darin, lebende Strukturen in der Erdumlaufbahn zu errichten (siehe Stanford’s Taurus und O’Neill’s Cylinder).

Es ist nicht so wichtig, was die Musks und Bezos von heute sagen, sondern die Tatsache, dass der Kapitalismus die Ideologie vorgibt, die nötig ist, um neue Wege zu gehen. Die gegenwärtige Produktionsweise versucht, dem Gesetz der sinkenden Profitrate zu entkommen, indem sie in Robotik und automatisierte Systeme auf der Grundlage künstlicher Intelligenz investiert und den Weltraum als neues Ausbeutungsfeld ins Auge fasst.

Die Journalistin Naomi Klein beschreibt in ihrem Essay Shock Economy. The Rise of Disaster Capitalism, dass der heutige Kapitalismus die Katastrophen, die er produziert, ausnutzt, um Geschäfte zu machen: Er reagiert auf den Klimawandel und die Umweltverschmutzung mit Elektroautos und Fotovoltaikanlagen (grünes Marketing).

Veröffentlicht am 16. Februar 2025 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks. 

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Die extreme Rechte, die Linke und die Falle der Wahlpolitik

Blade Runner 

Die an den Kapitalismus und den Wahlkampf gebundene staatstragende Linke hat in einer Zeit der Krise und Umstrukturierung nichts zu bieten und überlässt das Feld den Faschisten.

In den letzten zehn Jahren haben wir das Wiederaufleben eines bekannten historischen Musters beobachtet: Teile der Arbeiterklasse und der ärmeren Bevölkerungsschichten wenden sich zunehmend rechtsextremen Figuren wie Trump und Le Pen zu. Zu den jüngsten Beispielen für rechtsextreme Wahlerfolge gehört Österreich, wo die einwanderungsfeindliche, russlandfreundliche Freiheitliche Partei (FPÖ) bei der Wahl am 29. September 2024 mit einer beeindruckenden Wahlbeteiligung von 80 % den Sieg davontrug. Dies bestätigt einen wachsenden Trend, der bereits in Ländern wie Italien, Ungarn, Polen, Brasilien und Frankreich zu beobachten war. Mehrere andere Länder folgten diesem Beispiel, darunter Argentinien, das im November 2024 den rechtsextremen Libertären Javier Milei zum Präsidenten wählte.

Linke Mainstream-Kreise interpretieren diesen Wandel oft als Ergebnis ihres eigenen Versagens„ bei der Behandlung von Anliegen der Arbeiterklasse .[1] Ein gängiges Argument ist, dass eine “Klassenumkehr“ stattgefunden hat, bei der linke Parteien von gebildeten neoliberalen Eliten vereinnahmt wurden. [2] Andere behaupten, dass die Linke die wirtschaftliche Analyse zugunsten von Identitätspolitik aufgegeben hat. [3]

Das eigentliche Problem liegt jedoch in den Defiziten des demokratischen Wahlsystems selbst. Das Gefühl des Verrats und der Desillusionierung rührt von dem historischen Versagen der staatstragenden Linken her, das Spektakel der Wahlpolitik in Frage zu stellen, das dazu dient, das Klassensystem um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Stattdessen haben linke Parteien Zeiten des Aufruhrs und der Unruhen während des Zusammenbruchs der sozialdemokratischen Ideale in den Wirtschaftskrisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts für sich genutzt. [4] Auf diese Weise hat sich die Linke (die sich heute auf den Green New Deal, Identität und Menschenrechte konzentriert) als eine der beiden Säulen der hegemonialen Politik positioniert, die andere ist die Rechte (die sich auf die Leugnung des Klimawandels, Nationalismus und Religion konzentriert).

Die moderne etatistische Linke steht vor einer grundlegenden Tragödie. Durch ihre Bindung an den Wahlkampf verstrickt sie sich in das Netz der neoliberalen Regierungsführung und bietet weder echte alternative Lösungen noch stellt sie das kapitalistische System in einer Zeit der Krise und Umstrukturierung wirksam in Frage – einer Zeit, die eine hervorragende Gelegenheit sein sollte, einen neuen Weg einzuschlagen. In der Zwischenzeit behält die Elite die Kontrolle, indem sie die Arbeiter von direkten Aktionen ablenkt und sie in Richtung rechtsextremer Wahloptionen oder orchestrierter fremdenfeindlicher Unruhen lenkt. [5] Diese Ablenkungen verschaffen der herrschenden Klasse Zeit, die Produktion und die politischen Systeme umzustrukturieren, um sich an die düsteren Realitäten des Klimakollapses und des Ökozids anzupassen. [6]

Ironischerweise sind es die Rechtsextremen, nicht die Linken, die von ungedeckten Versprechen leben. Rechtsextreme Führer hüllen sich in eine Anti-Establishment-Rhetorik und positionieren sich als Verfechter der „vergessenen“ Arbeiterklasse. Indem sie Mythen wie „Great Replacement“ und die Degeneration der westlichen Zivilisation ausnutzen, kanalisieren sie die Wut der Arbeiterklasse in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Ihre Agenda spaltet die Arbeiterklasse einmal mehr, indem sie sie entlang rassischer, ethnischer und nationaler Grenzen spaltet. Sobald sie an der Macht sind, machen sich die Rechtsextremen die wirtschaftliche Verzweiflung zunutze, die ursprünglich zu ihrem Aufstieg geführt hat, und setzen eine arbeiterfeindliche Sparpolitik durch, die die Ungleichheiten weiter vertieft [7].

Auf diese Weise verstärken sie sowohl die materiellen als auch die ideologischen Barrieren, die die Privilegierten innerhalb der Zitadelle vor den ausgeschlossenen „Anderen“ schützen, und verbreiten Angst und Hass auf beiden Seiten. Den Ausgeschlossenen wird der Zutritt zu den Wohlstandszonen innerhalb der Festung Europa verwehrt, während der Staat die Kontrolle über die „wohlhabende“ Bevölkerung ausübt und gegenüber jedem, der die Grenzen des depressiven kapitalistischen Realismus überschreitet, null Toleranz zeigt. [8]

Die Lösung liegt nicht darin, linke Wahlparteien zu reformieren, um sie in Einklang mit dem fortschreitenden Zusammenbruch des kapitalistischen Systems zu bringen. Sie liegt im Aufbau einer Bewegung, die den gesamten Rahmen der Wahlpolitik ablehnt. Die Antwort liegt in direkter Aktion, gegenseitiger Hilfe und gemeinschaftlicher Organisierung, die sowohl die Fremdenfeindlichkeit der extremen Rechten als auch die hohlen Versprechungen der Linken ablehnt. Nur mit radikalem Klassenbewusstsein und antiautoritärer Organisation können die kapitalistischen und staatlichen Strukturen, die uns ständig betrügen, zerschlagen werden.

Fussnoten

[1] https://jacobin.com/2024/08/uk-far-right-riots-immigration-deindustrialization

[2] https://jacobin.com/2018/08/left-political-party-economists-neoliberalims-keynesianism

[3] https://www.newstatesman.com/the-weekend-interview/2023/08/freddie-deboer-interview-elite-identity-politics-destroying-left

[4] https://theanarchistlibrary.org/library/crimethinc-syriza-can-t-save-greece

[5] https://freedomnews.org.uk/2024/09/03/neo-fascisms-false-mantle-of-insurrection/

[6] https://theanarchistlibrary.org/library/alfredo-m-bonanno-the-insurrectional-project#toc6

[7] https://unicornriot.ninja/2024/chainsaw-democracy-argentina-in-crisis-faces-an-authoritarian-president/

[8] https://voidnetwork.gr/2021/07/11/a-future-with-no-future-depression-the-left-and-the-politics-of-mental-health/

Erschienen am 7. Oktober 2024 auf Freedom News, wiederveröffentlicht am 12. Februar 2025 auf The Anarchist Library, die deutsche Übersetzung von Bonustracks übernimmt die Fussnoten der Veröffentlichung auf ‘The Anarchist Library‘. 

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Die Form der Commune: Ein Gespräch

Kristin Ross und Andreas Petrossiants

Die Form der Kommune „ist zugleich eine politische Bewegung und ein gemeinsames Territorium, eine Taktik und eine Gemeinschaft im Entstehen“. Sie ist weder die Erfüllung eines vorherbestimmten revolutionären Programms, noch eines, das auf idealistischen oder romantischen Modellen der Totalität basiert, sondern ein dynamischer Prozess, der auf die gegenwärtigen und lokalen Bedingungen reagiert. Er zeigt sich in territorialen Kämpfen wie der dezentralen Bewegung „Stop Cop City“ in Atlanta (und auf der ganzen Welt, wie Joy James uns daran erinnert, dass viele Städte an und für sich schon Cop Cities sind) und bei der ZAD in Notre-Dame-des-Landes, Frankreich, wo Bauern, Anarchisten und andere Akteure trotz brutaler staatlicher Unterdrückung einen sechzig Jahre alten Plan zum Bau eines neuen Flughafens stoppen konnten. Die Bewegungen im selben Land, die sich gegen das Horten von Wasser durch das Agrarkapital in Mega-Becken mobilisieren, stellen ein neues Terrain dieses Kampfes dar, der heute von Kollektiven wie Soulèvements de la Terre geführt wird. Der folgende Text ist ein Gespräch zwischen Kristin Ross und Andreas Petrossiants, das im Oktober 2024 bei e-flux geführt wurde. Er wurde aus Gründen der Verständlichkeit überarbeitet.

Vorwort e flux journal

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Andreas Petrossiants: Du beginnst „Die Form der Commune“ mit der Vorstellung von Marx und Kropotkin, dass die Pariser Kommune eher eine „Form“ des Handelns als ein singuläres, statisches Ereignis darstellt – die „Kunst und Verwaltung des täglichen Lebens“. Im Gegensatz zu den Argumenten von Leuten wie Karl Korsch ist diese Form nicht zufällig oder irrelevant im Vergleich zum Inhalt der Commune. Warum hast du diese Form gewählt, um die territorialen Kämpfe in Stadt und Land seit 1968 zu diskutieren?

Kristin Ross: Ich schreibe seit vielen Jahren über die Pariser Commune, aber ich fing an, über die „Form der Commune“ nachzudenken, als ich 2015 zu einer laufenden Besetzung in Notre-Dame-des-Landes eingeladen wurde, bei der versucht wurde, den Bau eines internationalen Flughafens auf Ackerland zu verhindern. Es war die am längsten andauernde soziale Bewegung im Nachkriegsfrankreich und durchlief viele verschiedene Phasen. Als ich dorthin eingeladen wurde, sollte ich darüber sprechen, welche möglichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen dem, was sie taten, und dem, was die städtischen Kommunarden im neunzehnten Jahrhundert in Paris taten, bestehen. Ich war also in gewisser Weise gezwungen, über eine gemeinsame politische Form und die Grenzen des Vergleichs nachzudenken. Dort, in der ZAD („zone à defendre“), sah ich etwas, das der tatsächlichen Erschaffung einer anderen Welt, einer kollektiven Errichtung einer anderen Welt, nahekam. Es erinnerte mich daran, wie Michail Bachtin über die Zeitlichkeiten der Fiktion spricht, die er „Chronotopen“ nannte: unterschiedliche Raumzeiten. Die ZAD war ihre eigene Zeitlichkeit, ihr eigener Raum – aber sie war nicht fiktiv.

Wenn Marx über die Pariser Commune spricht, sagt er: „Die Form war einfach, wie alle großen Dinge“. Und ich habe viel Zeit damit verbracht, über diese und andere prägnante und doch erstaunliche Aussagen nachzudenken, die entweder er oder Kropotkin und einige andere Mitstreiter des Aufstands über die Commune machten. Kropotkin sagt: „Sie ist der Rahmen für die Revolution und das Mittel, sie herbeizuführen.“ Es ist also sowohl der Kontext als auch die Substanz. Und die Überlegungen von Marx sind nicht viel anders. Marx ist am anarchistischsten, wenn er über die Commune spricht. Ich fing an, darüber nachzudenken, wann die Commune floriert. Nun, sie blühen immer dann auf, wenn sich der Staat zurückzieht. Wenn der Staat handlungsunfähig ist oder wenn er ein Nickerchen macht. Im Fall von Notre-Dame-des-Landes hat der Staat etwa zwanzig Jahre lang vergessen, dass er in dieser Gegend einen Flughafen bauen wollte. Es war also ein langes Nickerchen. Und während dieser Zeit konnten die Menschen in der Besetzung große Fortschritte bei der Entwicklung der Fähigkeit zur Zusammenarbeit machen, was die Menschen jetzt erst wieder lernen müssen. Besetzungen wie die ZAD sind also eine politische Bewegung, aber sie sind auch die kollektive Ausarbeitung einer gewünschten Lebensweise. Als solche ist die Form der Commune immer mit einem bestimmten Territorium verbunden. Sie ist keine Abstraktion. Sie ist kein Konzept. Sie ist etwas, das in einem bestimmten Gebiet, einer Nachbarschaft, einer Region aufgebaut und verankert ist.

AP: In Bezug auf das Territorium erinnert mich das daran, dass du schreibst, dass für viele Bauern in Frankreich der Mai ’68 weniger als ein „eigenständiges Ereignis“ als vielmehr als ein Moment in einem größeren Kampf gegen die Einfriedung erlebt wurde. Sie zitieren Bernard Lamberts Les Paysans dans la lutte des classes, das, wie Sie sagen, „das erste Werk war, das Bauern und Arbeiter in dieselbe strukturelle Situation gegenüber der kapitalistischen Moderne stellte“. Ich fühle mich auch an Eric Hobsbawms Bemerkung erinnert, dass das Mittelalter für einen Großteil der Welt in den 1950er Jahren plötzlich endete. Dein Text über die ZAD und andere nicht-hierarchische Bewegungen zur Verteidigung von Territorien gegen die staatliche und kapitalistische Einschließung bezieht sich auf diese landbasierten Kämpfe und nicht-städtischen oder nicht-proletarischen Subjekte, die oft übersehen werden.

KR: Lefebvre wies schon in den siebziger Jahren darauf hin, dass jeder Kampf um Land notwendigerweise Allianzen zwischen den unterschiedlichsten Menschen erfordert. Er bringt notwendigerweise Menschen zusammen, die völlig unterschiedliche politische Codes haben, die nicht in denselben ideologischen Booten sitzen. Es ist eine dramatische Mischung von Menschen. Das hat sich bei der ZAD gezeigt. Die dortigen Besetzer haben schließlich einen Begriff gefunden, um zu beschreiben, was sie taten, als sie versuchten, diese verschiedenen Segmente und Gruppen lange genug zusammenzuhalten, um den Flughafen zu blockieren: „Komposition“ oder Solidarität in extremer Vielfalt. Sie hatten Generalversammlungen, die ewig dauerten, weil dies die notwendige Arbeit war, um Gruppen zusammenzubringen, die so unterschiedliche Teilnehmer wie alte, sehr konservative Milchbauern (die sich anfangs weigerten, ihr Land zu verkaufen, als der Flughafen angekündigt wurde), Anarchisten, Nonnen, schwarze Blöcke, lesbische Separatisten, Landwirte, die nicht an tierisches Eiweiß glaubten, Naturschützer, die nicht einmal an die Landwirtschaft glaubten, und so weiter umfassen konnten. Und was mich jetzt am meisten an der Zusammensetzung fasziniert, ist, wie effektiv sie ist. Denn wenn man diese Gruppen zusammenbringt, kommen auch unterschiedliche Kenntnisse und Erfahrungen ins Spiel: das wissenschaftliche Wissen der Naturwissenschaftler; das praktische Wissen der Anarchisten, wie der Bau und die Instandhaltung von besetzten Häusern; die kreative, spontane, improvisatorische Energie der Punks; die Fähigkeiten derjenigen mit juristischem Hintergrund, die in der Lage waren, die Gerichte zu bemühen, um den Bau zu verzögern und aufzuhalten. Der Staat kann nicht alle diese verschiedenen Gruppen auf einmal angreifen. Man kann sie als eine geschlossene Front betrachten. Aber wenn man es weniger militaristisch sehen will, könnte man es mit einer musikalischen Analogie beschreiben, wie bei einer Symphonie, bei der an bestimmten Stellen die Hörner laut und die Geigen zurückhaltend sind, und dann ändert sich das und ein anderer Teil des Orchesters tritt in den Vordergrund. Die Komposition zeigt, dass es eigentlich sehr wünschenswert ist, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die nicht dieselben politischen Codes teilen, weil sie unterschiedliche Dinge in den Kampf einbringen. Es ist eine Art massive Investition in die Zusammenarbeit, um unsere Zukunft auf eine Art und Weise zu beeinflussen, die nicht mit den alten Sektierertum der Linken oder den auf Identität oder Ideologie basierenden Ausschlüssen verbunden ist, in denen sich die Linke historisch verfangen hat.

AP: Dieser Begriff der Zusammensetzung hat mir geholfen, über einige Fragen nachzudenken, die ich mir beim Studium des operaistischen Begriffs der „Klassenzusammensetzung“ gestellt habe. Theoretisch gesehen verwenden sie den Begriff, um die dialektische Beziehung zwischen der technischen Zusammensetzung (dem Arbeitsprozess) und der politischen Zusammensetzung (dem Klassenkampf) zu beschreiben. Aber eine viel einfachere Art und Weise, ihre Perspektive auf die kapitalistische Entwicklung zu verstehen, ist, dass die Arbeiter erst im Moment des Kampfes um die Abschaffung der Klassenverhältnisse existieren. In diesem Zusammenhang unterscheidest du zwischen ‘Widerstand’ – wie zum Beispiel dem liberalen Widerstand gegen den Konservatismus, der die Implikation enthält, dass der Kampf bereits vorbei ist – und ‘Verteidigung’, die stattdessen auf einer Zeitlichkeit und einer Reihe von Prioritäten beruht, die von der lokalen Gemeinschaft im Entstehen erzeugt werden. Letzteres scheint eher ein Prozess der Abschaffung der Reproduktionsbeziehungen zu sein, die für die kapitalistische Arbeitsteilung entscheidend sind, wie im Begriff der Klassenzusammensetzung.

KR: Im Gegensatz zum ‘Widerstand’ beginnt die ‘Verteidigung’ mit etwas, das man bereits hat, etwas, das man liebt, das man schätzt. Es beginnt also mit Liebe und der Vorstellung, dass es etwas gibt, das man schätzt und das es wert ist, verteidigt zu werden. Das schafft eine andere Art von Zeitlichkeit, weil man sich nicht an die Agenda oder die Bedingungen des Staates hält. Was wirklich auffällt, vor allem bei diesen Bewegungen, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken, ist, dass sie sich selbst neu erfinden und neue, kreative Wege finden müssen, den Kampf zu leben, manchmal über Jahre hinweg. Und so ändert sich das, was man verteidigt, zwangsläufig mit der Zeit. Am Anfang verteidigt man vielleicht landwirtschaftliche Flächen oder ein unverschmutztes Gebiet oder ein schwarzes Viertel, aber mit der Zeit verteidigt man vor allem die nicht akkumulierten sozialen Beziehungen, die sich im Laufe der Verteidigung entwickelt haben.

AP: Richtig! Das führt zu einer anderen Formulierung, die du vorgebracht hast und die ich sehr generativ finde: die „Umwertung der Werte“, die ich für einen sehr hilfreichen Rahmen halte, um über das Problem der „Abschaffung des Wertes“ nachzudenken, das natürlich in vielen marxistischen Strömungen der Nachkriegszeit in den Vordergrund tritt, vor allem in der Wertformtheorie und der Kommunisierung. Wie du sagst, geht es im Verlauf eines Kampfes nicht nur darum, den bestehenden akkumulierten Reichtum zu entwerten oder abzuschaffen, sondern auch darum, neue soziale Werte zu verteidigen, die aus nicht akkumulierten sozialen Beziehungen hervorgegangen sind.

KR: Nun, ich spreche darüber nicht wie ein Werttheoretiker, das ist sicher. Mein Denken darüber stammt aus meiner früheren Arbeit über die Pariser Kommunarden und einem kleinen Satz, den ich in dem Manifest fand, das die Künstler der Commune zusammenstellten, Künstler, die übrigens meist Kunsthandwerker waren, geschickte Handwerker. Das Wichtigste, was sie beschlossen, war, dass es wirklich nur eine einzige künstlerische Geste gab, und zwar eine, die sowohl die bildenden Künstler als auch die Kunsthandwerker teilten. Künstler und Kunsthandwerker schlossen sich also praktisch zusammen. Das mag jetzt nicht nach viel klingen, aber während des Zweiten Kaiserreichs war es für einen dekorativen Künstler oder einen Kunsthandwerker schlichtweg illegal, seine Arbeit zu signieren. Sie konnten weder den Status noch die finanziellen Belohnungen anstreben, die Bildhauer oder Maler besaßen. Dieser Zusammenschluss war also die Überwindung der strengsten sozialen Trennung in der Kunst des Zweiten Kaiserreichs. Künstler und Kunsthandwerker schrieben gemeinsam ein Manifest, in dem sie beschrieben, dass alle künstlerische Intelligenz eins ist. Und im letzten Satz ihres Manifests schrieben sie: „Wir arbeiten … für den gemeinschaftlichen Luxus.“ Ein erstaunlicher Satz, denn ist Luxus nicht nur etwas für wenige? Für sie scheint es, dass jeder das Recht hat, in einer angenehmen Umgebung zu leben und zu arbeiten. Luxus ist nicht die private Anhäufung von Dingen, sondern das Erblühen der Schönheit in allen gemeinsamen Räumen; letztlich setzt „gemeinschaftlicher Luxus“ natürlich das Ende des auf Klassenteilung basierenden Luxus voraus. Wenn man diese Idee vorantreibt, wie es zum Beispiel William Morris getan hat, bedeutet das, dass jeder einzelne Aspekt unserer Beziehung zur Kunst, zur Arbeit, zur Umwelt, zur natürlichen Welt verändert werden muss, und zwar entsprechend der Veränderung dessen, was eine Gesellschaft schätzt. Was ist für uns wichtig? Worauf legen wir Wert? Das ist es, was ich mit einer Umwertung des Wertes meine.

AP: Ich erinnere mich an ein Foto, das du in deinem früheren Buch über die Commune, (The Emergence of Social Space: Rimbaud and the Paris Commune), von Napoleon Gaillard, dem Barrikadenkünstler der Commune, reproduziert hast, auf dem er neben den Barrikaden gezeigt wird, die er mit aufgebaut hat, stolz, wie er neben seinem eigenen Kunstwerk steht.

KR: Genau so ist es. Er war ein Schuhmacher und ein Trinker. Aber er bestand darauf, immer „Kunstschuhmacher“ genannt zu werden. Er schrieb auch eine ganze Abhandlung über den Fuß und erfand zahlreiche Schuhe, darunter die ersten Gummigaloschen. Er war also ein sehr begabter Mann. Er war auch mit dem Bau von Barrikaden betraut und begann, immer kunstvollere Barrikaden zu bauen. Die Antikommunisten machten sich über ihn lustig, weil sie seine Barrikaden für Kunstwerke und Luxus hielten, was tatsächlich der Fall war. Das erinnert mich an einen meiner Besuche bei der ZAD, als ich erfuhr, dass dort ein Leuchtturm mitten auf einem Feld gebaut wurde, ohne dass das Meer in Sicht war. „Warum baut ihr einen Leuchtturm?“ fragte ich. „Ist er zur Verteidigung? Macht ihr euch Sorgen, dass ihr die Polizisten sehen könnt, wenn sie kommen?“ Und jemand sagte: „Nein, das ist kommunaler Luxus. Es ist das siebte Wunder der ZAD.“

AP: Sie hatten auch ein schwimmendes Rap-Studio, das ist so cool! Du hast dich auch mit Maria Mies und Veonika Bennholdt-Thomsens Schrift über die „Subsistenzperspektive“ beschäftigt. Wie du schreibst: „Die Dauer einer Bewegung hängt eindeutig von ihrer Fähigkeit ab, sich direkt in die Mittel der Subsistenz einzumischen.“ Hier wird deutlich, dass es bei der Subsistenz nicht nur um das Überleben, sondern auch um das Gedeihen geht.

KR: Die Subsistenzperspektive ist nicht wirklich eine ausgearbeitete Theorie. Mies und Bennholdt-Thomsen bestehen darauf, dass es eher eine Perspektive, eine Orientierung ist. Es ist der Gesichtspunkt der Subsistenz. Heute werden in Frankreich 50 Prozent des Bodens landwirtschaftlich genutzt, und 50 Prozent dieses Bodens werden in den nächsten zehn Jahren den Besitzer wechseln, da die Landwirte in Rente gehen. Das bedeutet also, dass ein großer Teil des Landes entweder in den großen Betrieben der Agrarindustrie aufgehen oder zugepflastert werden wird. Der Krieg auf dem Lande ist der zwischen der Agrarindustrie und etwas, das wir immer noch als Subsistenz bezeichnen können, nämlich eine nicht akkumulierende, nicht-produktivistische Art der Landwirtschaft, die sich mit allen Fragen rund um den Anbau beschäftigt: Was wollen wir anbauen? Wie viel wollen wir anbauen? Wie wollen wir es anbauen? Und ich denke, das ist ein guter Weg, um über diesen Krieg auf dem Lande nachzudenken, denn das, was einige von uns jetzt den agroindustriellen Komplex nennen, kann alles umfassen, von Saatgut und Saatgutpatenten über landwirtschaftliche Geräte bis hin zu Supermärkten, dem Vertrieb von Lebensmitteln, der Forschung und der gesamten Bürokratie, die bestimmt, wer Zugang zu Land hat und wer nicht. Der wahre Krieg des Kapitals richtet sich gegen die Subsistenz, denn Subsistenz bedeutet eine qualitativ andere Wirtschaft. Sie bedeutet, dass die Menschen nach unterschiedlichen Vorstellungen davon leben, was Reichtum und was Entbehrung bedeutet. Sie orientiert sich am Eigenwert und den Interessen der Kleinerzeuger, Handwerker und Landwirte. Es geht um die schrittweise Schaffung eines Gefüges gelebter Solidarität und eines sozialen Lebens, das durch den Austausch von Dienstleistungen, informelle Genossenschaften, Kooperation und Assoziation – die beiden Leitbegriffe der Pariser Kommune – aufgebaut wird. Es geht um die Ausweitung der Tätigkeitsbereiche, in denen die wirtschaftliche Rationalität nicht vorherrscht. Es geht um ein Leben, das nicht vom Weltmarkt geprägt und gestaltet wird. Das sind die Umrisse der Form der Commune.

AP: Im Jahr 2022 veröffentlichten wir Kommuniqués von autonomen Kollektiven und Gruppen, die kollektive Formen der Lebensmittelproduktion, der Landwirtschaft und des Anbaus organisierten. Einer der Beiträge stammte von Menschen, die den Wald in Atlanta vor dem Bau einer riesigen Polizeiausbildungsstätte, bekannt als „Cop City“, verteidigten, die leider gebaut wurde (obwohl der Kampf dagegen weitergeht). Auf der Flucht vor einem Polizeihubschrauber schützten die Bäume dieses riesigen Waldes, der jetzt verschwunden ist, sie vor den Augen der Polizei. Sie halten sogar unter einem Maulbeerbaum an, um einen Snack zu sich zu nehmen. In diesem Fall sind Subsistenz und Verteidigung in einer völlig anderen Zusammenstellung von (Nutz-)Werten verwurzelt, die in der kollektiven Verteidigung gegen einen sich ausbreitenden, rassistischen Polizeiapparat zum Tragen kommen.

KR: Ganz genau. Mir fiel auch auf, dass Mies darauf hinwies, dass in Deutschland, wo sie aufgewachsen ist, die meisten landwirtschaftlichen Betriebe bis etwa in die 1970er Jahre Subsistenzlandwirtschaft betrieben. All dies ist also ein sehr, sehr junger Übergang. Aus dieser Perspektive wird die intellektuelle Produktion der siebziger Jahre sehr viel interessanter. Es gibt Leute wie Murray Bookchin, Ivan Ilitch, André Gorz, Henri Lefebvre, Mies, Silvia Federici, Francoise d’Eaubonne, Félix Guattari und so weiter, die im Wesentlichen eine ökologische Perspektive einnahmen. Und sie taten dies, weil die Veränderung ihres eigenen Alltagslebens so dramatisch war.

AP: Das erinnert mich auch an Nanni Balestrinis Roman Wir wollen alles, in dem die Fiat-Arbeiterrevolte in Turin 1969 dargestellt wird, die vor allem von Wanderarbeitern aus dem Süden Italiens angeführt wurde. Es gibt eine Szene, in der der Protagonist in den Süden zurückkehrt und feststellt, dass die im Dorfgarten angebauten Tomaten nicht mehr als Gemeinschaftsgut gehandelt werden – die Einfriedung der Allmende geht weiter. Es ist herzzerreißend, aber es ist auch eine schockierende Szene im Buch, weil sich vieles davon im Epizentrum der Massenindustrialisierung des Landes in der Nachkriegszeit abspielt. Da wir gerade von der Landwirtschaft sprechen, möchte ich dich über die Beziehung zwischen Kreativität und der Form der Kommune befragen. Wie du schreibst, ist die Form der Kommune für die Menschen in unserem historischen Moment vielleicht nicht nur die vernünftigste Art, ihre eigenen Kräfte und sozialen Kräfte zu organisieren, sondern auch die vergnüglichste.

KR: Das bringt uns zurück zum kommunalen Luxus. Ich glaube, was mich am meisten erstaunt, ist die Panik, die der Staat angesichts dieser Art von Besetzungen an den Tag legt. Die französische Regierung verkündet immer wieder, dass sie nie wieder zulassen wird, dass eine ZAD auf französischem Boden entsteht. Aber es gibt sie immer wieder. Im Moment gibt es eine Bewegung außerhalb von Toulouse, um den Bau einer Autobahn zu blockieren, die durch Ackerland und alte Wälder führen würde, die alle zerstört werden würden. Wie die geplanten Flughäfen, die ich in ‘The Commune Form’ beschreibe, ist auch die Autobahn überflüssig. Es gibt bereits eine Autobahn zwischen diesen beiden Städten, und die neue geplante Autobahn würde die Fahrzeit nur um elf Minuten verkürzen. Der Verkehrsminister Clément Beaune wurde kürzlich mit den Worten zitiert, ein ZAD sei kein Fest oder eine fröhliche Zusammenkunft, sondern ein Verstoß gegen die elementaren Regeln des Privateigentums und des öffentlichen Raums. Nun, die zweite Hälfte seiner Aussage ist zweifellos richtig. Aber ich denke, dass die eigentliche Sorge von Herrn Beaune in dem Ressentiment zum Ausdruck kommt, das aus dem ersten Teil seiner Aussage hervorquillt. Die Angst des Staates hat mit der Tatsache zu tun, dass es eine Art von Vergnügen geben könnte, das mit diesen Bewegungen verbunden ist, das nicht, du weißt schon, staatlich sanktioniert ist. Eine Art von Geselligkeit außerhalb der Konsumgesellschaft und des programmierten Vergnügens der Lieferung am nächsten Tag. Wenn man sich die gebildeten jungen Leute von heute anschaut, wie viele von ihnen wollen wirklich App-Designer oder Hedgefonds-Manager oder irgendeine dieser freudlosen Tätigkeiten werden? Und dann sind da noch die nicht ausgebildeten Menschen, von denen viele in der Uberisierung der Arbeit überall in einer Art elender Isolation umherirren. Angesichts des völligen Verlustes der Möglichkeit, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten, um auf unsere Zukunft Einfluss zu nehmen, ist es kein Wunder, dass die Geselligkeit und der Pragmatismus der ZAD für den Staat bedrohlich erscheinen.

Erschienen in der Februarausgabe des e-flux Journal, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.

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Mario Tronti „posthum“

Adelino Zanini

Der Artikel, den wir heute veröffentlichen, ist viel mehr als eine Rezension. Adelino Zanini, ausgehend von ‘Il proprio tempo appreso con il pensiero. Scritto politico postumo’ (Il Saggiatore, 2025), sammelt und entwickelt die Einladungen zum Nachdenken, die Mario Tronti in seinem Buch, einer politischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, einem Jahrhundert, das alles andere als „kurz“ ist, verbreitet, und setzt sie in einen Spannungsbogen.

Wenn es, um mit Tronti zu sprechen, „keine Organisation einer revolutionären Politik ohne die Kultivierung des Tragischen in der Geschichte gibt“, muss das Tragische, so Zanini, „immer einen subjektiven, parteilichen Zwang mit sich bringen“. Und die Tront’ischen Überlegungen sind auf diesem Weg weiterhin ein guter „Freund“.

Machina

Das „Stottern“, mit dem Mario Trontis posthume politische Schrift beginnt, ist nur scheinbar, weil die beiden Hauptprämissen, die sie einleiten, sehr klar sind: die eine methodisch, die andere argumentativ. Die erste: „(…) Geschichte zu denken, ohne Geschichtsphilosophie zu betreiben, bedeutet, Geschichte politisch zu denken. Es bedeutet, sich zu entscheiden und zu erklären, dass man sie von einem parteipolitischen Standpunkt aus denken will. (…) Die Menschheit ist nicht eins. Es gibt mindestens zwei: die da unten und die da oben“. Die zweite Prämisse: „‚89-‘91 des zwanzigsten Jahrhunderts: mehr als zwei Jahre, über die nicht Buch geführt wurde. Dreißig Jahre später kann man ermessen, wie sehr diese fehlende Reflexion auf dem heutigen Tag lastet“. Diese beiden Prämissen lassen sich natürlich verstehen, wenn man einige Schlüsselpassagen kurz nachvollzieht. Nachdem wir sie nachvollzogen haben, müssen wir die letzten und unaktuellen (im Nietzsche’schen „posthumen“ Sinne) Fragen zu den Prämissen wieder aufnehmen.

Ein erster Denkanstoß findet sich in Trontis Überlegungen zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wie sie sich entwickelt hat. Für ihn ist es selbstverständlich, dass es sich keineswegs um das „kurze Jahrhundert“ handelt, das politisch gesehen 1914 begonnen hätte. In gewissem Sinne eröffnet der Tod Nietzsches („wir, die ehemaligen historischen Materialisten“, rühmt Tronti, müssen uns erst noch daran gewöhnen, Materialität und Spiritualität unter einen Hut zu bringen) ein Jahrzehnt, in dem die künstlerischen Avantgarden in allen Bereichen das vorwegnehmen und einleiten, was geschehen sollte und geschehen wird: den Ersten Weltkrieg, „einen Krieg, nackt und roh“. Der „mehr Geschichte produzierte als der Zweite“, weil er nicht durch eine ethisch verpflichtende Wahl des Feldes zwischen Zivilisation und dem barbarischen Reich des Bösen gebunden war. So war der Zweite Weltkrieg in der Tat das erste Beispiel eines „humanitären Krieges gegen den absoluten Feind, mit all den universalistisch-mittelalterlichen Anklängen des gerechten Krieges“. In Bezug auf diese obligatorische Wahl hat sich die Arbeiterbewegung auf die einzig mögliche Weise auf die Seite der Demokratien gestellt: Erst der Spanische Bürgerkrieg und dann die Résistance waren echte Schulen für die Zukunft. Also: „Wo liegt das Problem? Das Problem ist, dass diese Klammer nicht geschlossen wurde. Sie ist zum vollständigen Kurs geworden. (…) Eine Eventualität ist zum Programm geworden“.

Trontis ist keine späte gauchistische Losung, die des verratenen Widerstands, um genau zu sein. Sie ist viel ehrgeiziger. Sie dient nämlich dazu, das einzuführen, was für ihn speziell in Italien die wahre und einzige Zeit des historischen Kompromisses (zweite Hälfte der 1940er Jahre) war, der mit der republikanischen Verfassungscharta verwirklicht wurde und sich konkret in der Konfrontation zwischen realen, aber auch ideellen, gegenseitigen Motivationen zwischen einem produktiv artikulierten christdemokratischen Machtsystem und einer wachsenden kommunistischen kulturellen Hegemonie in den Jahren des Kalten Krieges ergab. Damit beginnt eine andere italienische Geschichte, die natürlich im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen verstanden werden muss. Tronti zufolge „überstand die PCI den Sturm von ’56’ gut“. Die Dinge begannen sich jedoch mit dem Aufkommen der „68er Brise“ zu ändern: Mit dem Wegfall von Togliatti, trotz der Widerstandsfähigkeit der Führungsgruppe und des „Charismas von Berlinguer“, dem Akteur einer „letzten Synthese“, sollte sich tatsächlich „eine andere Geschichte“ abzeichnen.

Und hier stoßen wir auf eine recht heikle Passage, wenn Tronti die Beziehung zwischen den politischen Absichten von Moro und Berlinguer analysiert. Beide waren sich bewusst, dass „die Verheißungen und Hoffnungen der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Spiel standen, und suchten realistischerweise nach Wegen, um einen Kapitalismus und einen Sozialismus zu verwirklichen, die beide in der Lage waren, der Welt ein menschliches Gesicht zu geben“. Das war vielleicht nicht mehr möglich, weil sich die beiden grundlegenden Komponenten des Volkes und vor allem die Art und Weise ihrer Darstellung verändert hatten – das räumt Tronti ein. Und doch hätte es eine Vision gegeben, eine zurückhaltende, konkrete Utopie im Bloch’schen Sinne, die es immer noch möglich gemacht hätte, „dem Blick der Politik einen Horizont zu bieten“. Dazu kam es nicht, denn angesichts der Veränderungen, die sich aus dem ungestümen Modernisierungsprozess des Landes ergaben, hätten die DC und die PCI umdenken müssen, was sie aber nicht taten.

Was können wir dazu sagen? Wir stehen vor dem üblichen Tronti’schen schwarzen Loch: ein ganzes Jahrzehnt und mehr, 1968-1978, das lange italienische ’68, wird völlig ausgeblendet oder besser als bloße Modernisierung (kapitalistisch, versteht sich) verstanden: eine Generationenrevolte, die nicht zur Revolution werden konnte und „zur selbstreferentiellen Subversion wurde“. Tronti hatte uns bereits an dieses Urteil gewöhnt, er konnte es nur wiederholen – und wir können nur einen Dissens wiederholen, was auch immer das heißen mag. Wir können jedoch nicht umhin, auch zu sagen, dass die Rolle, die in den 1970er Jahren einer der Interpreten war („I’m not trying to cause a big sensation…. I’m just talkin‘ ‚bout my generation…“) ihre Erfahrung wirklich hätte überdenken müssen (über die Feststellung hinaus, dass sich die Situation heute geändert hat, also…), ganz im Sinne von authentischen spinozianischen Denken: ‚Non ridere, non lugere neque detestari sed intelligere‘. Dies war nicht der Fall.

In den 1980er Jahren wäre das Spiel ohnehin zu Ende gewesen. Aber wie es dazu kam, ist nicht unerheblich: erstens wegen der jahrhundertelangen Haft, die die vielen „Modernisierten“ und die vielen „Modernisierer“ verbüßten; zweitens wegen der Gestaltung einer Situation, die später zu dem wurde, was wir kennengelernt haben und in der jede Äußerung radikalen Dissenses stigmatisiert werden sollte. In beiden Fällen mit dem Beifall und dem begeisterten Engagement der Partei, der auch Tronti angehörte. Wie kann man sich also wundern, wenn die 1990er Jahre die Jahre der „großen Illusion“ der europäischen Linken waren, die sich als „zuverlässige Verwalter des Establishments“ in den guten Salon begeben wollten, um “es” zu verbessern, wie sie sagten, in Wirklichkeit aber um “es” zu erhalten.

Wenn möglich, war dieser Strudel jedoch nur ein Anhängsel eines viel umfassenderen Wandels, der sich in der von Tronti so bezeichneten zweijährigen „weißen Periode“ (1989-1991) vollzog und der immer noch einer parteiischen Lesart bedarf, die es nicht gab und die es nur dann geben konnte, wenn man die konfliktreiche Beziehung zwischen Politik und Geschichte richtig verstand. 1991: „der Zusammenbruch der Sowjetunion als größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die Aussage ist trocken. Natürlich kann man von Tronti nicht erwarten, dass er hier eingehend über das Scheitern des profan gewordenen heiligen Experiments argumentiert, zu dem alles oder fast alles gesagt wurde. Es reicht, wenn er sagt: „Ich will die Oktoberrevolution vor dem Schicksal des realisierten Sozialismus bewahren“, ohne Fehler und Verbrechen zu verharmlosen.

Es ist auch nicht verwunderlich, dass er die Trias Messias/Kreuz/Auferstehung als Vergleich heranzieht; denn damit will er etwas sehr Relevantes feststellen, nämlich dass „es keine Organisation revolutionärer Politik ohne die Kultivierung des Tragischen in der Geschichte gibt“. Auf die subjektiven Gründe zurückzukommen, warum im Westen das revolutionäre Spiel bereits in den 1920er Jahren vorgezeichnet war (und wie dies im Zusammenspiel mit der internationalen Reaktion die Voraussetzungen für das Scheitern des heiligen Experiments schuf), bedeutet dann, die Büchse der Pandora der Sozialdemokratie wieder zu öffnen. Ich glaube jedoch nicht, dass es hilfreich ist, damals wie heute auf der Alternative zwischen „Überwindungswillen“ und „Verhaltensopportunismus“ zu beharren. Jedenfalls kommt man auf diesem Weg nicht sehr weit, ohne früher oder später auf bereits mehrfach beschrittenen Pfaden zu wandeln, auch wenn diese Rückkehr zu subjektiven Gründen „in sentimentaler Verbundenheit“ mit dem „vergangenen Leben, nicht nur dem politischen Leben, sondern einem allgemein menschlichen Leben, das aus konkret gelebtem Denken besteht“, legitim ist. Ohne Linksmelancholie, gewiss; eher mit dem Pessimismus der Vernunft, denn: „Alles ist vollbracht“.

In vierzig Jahren – zwischen den 1980er Jahren und heute – ist ein „tiefgreifender anthropologischer Zusammenbruch, sowohl individuell als auch massenhaft, eingetreten“. In den Fußstapfen von Keynes sollte heute jemand „Die anthropologischen Folgen des Friedens“ schreiben, denn wir stehen – so Tronti – vor „einer aufkommenden anthropologischen Frage. Ein Problem, das zwischen Natur und Geschichte handelt“. Das Problem ist die zeitgenössische Demokratie: bereits eine moderne aporetische Substanz, mit der Trennung von Demos und Kratos (der Amerikaner Schumpeter hatte dies zu Beginn der 1940er Jahre gut verstanden), „erzeugt die demokratische Macht eine populistische Opposition“, weil „es keine Legitimation ihrer Autorität mehr gibt“. Im kant’ischen Sinne gesehen entspricht Freiheit als Unabhängigkeit nicht der Freiheit als Autonomie.

Aus diesem Grund, so Tronti, muss die „Ressource Autorität“ ohne Furcht in/gegen die demagogische Individualität, die Verfinsterung der Öffentlichkeit, die Krise der Politik und den Wiederaufbau der „politischen Kommandobrücke“ neu überdacht werden. Um den Autoritarismus der „demokratischen Persönlichkeit“ zu besiegen, bedarf es nicht nur der Autorität, sondern der Zusammenarbeit, der Institutionalisierung: „eine Aristokratie, verstanden als die Macht der Besten im Interesse aller“. Aber „wer wird die Erzieher ausbilden?“. Corruptio optimi maxima. Das Problem stellt sich also, aber die Antwort gibt es nicht; es gibt die Erfahrung, und im „Diskurs“ von Tronti kann sie nicht anders, als auf die Auflösung der Form der politischen Partei des zwanzigsten Jahrhunderts zurück zu verweisen, auf die Verwandlung der Massen von der organisierten in die formlose und damit wieder auf das „Kreuz“ des modernen politischen Denkens: die Hegelsche bürgerliche Gesellschaft, die bürgerlich/citoyen  Dyade. Der Kreis kann sich jedoch nicht schließen, ohne sich mit der Tatsache abzufinden, dass „die Wirklichkeit der Kreis der ewigen Wiederkehr und die Entwicklungslinie der Schein ist“.

Auf den letzten Seiten des Textes entfaltet sich Trontis Denken in einer Reihe von Impromptus zu klassischen Themen, über die er viel geschrieben hat; es gibt umfangreiche Zitate, sowohl literarische als auch theologische. Bei der Vorstellung einer erhofften kollektiven Metanoia, einer Umwälzung/Umwertung der gegenwärtigen Werte, stolpert er nämlich über das Verhältnis zwischen (autoritativer) Autorität und Macht, wobei der Verweis auf das Beispiel der Kenosis der Inkarnation, auf die „Entleerung“ der göttlichen Majestät, buchstäblich ohne „Wort“ bleibt. Denn wenn die unsere „eine geschlossene Zeit ist, nicht dem Anschein nach, sondern tatsächlich abgeschlossen“, was bleibt dann noch übrig, wenn nicht das Kojève’sche „Simulieren“? Simulieren, d.h. „ein Objektiv darstellen, das nicht auf das Faktum reagiert, sondern darauf abzielt, dieses Faktum zu stürzen“, wobei zu bedenken ist, dass, während die Revolte stattfindet, die Revolution stattfinden muss. Denn in einer „schöpferischen Spannung“ zwischen Stadt und Tempel, zwischen Jahrhundert und Heiligem ist es notwendig, „trotz“ Minervas Nachtmahr zu glauben, wenn die Worte schon müde sind.

Aus diesem Grund sagt das Hegelsche Sprichwort, das dem Buch seinen Titel gibt, vielleicht nicht alles, oder vielleicht verbirgt sich dahinter ein wenig der Autor selbst. In der Tat – und das wusste Tronti besser als jeder andere – führt der hegelianische Ausspruch dazu zu sagen, dass, wenn das Individuum eine Welt konstruiert (wie sie sein soll), dann existiert diese Welt zwar, aber nur in seiner Meinung/Intention (Meinen). Der Bloch, an den Tronti erinnert, passt gut in diesen Raum; weniger offenbar der Satz: „Es gibt keine Organisation einer revolutionären Politik ohne die Pflege des Tragischen in der Geschichte“. Aber nur scheinbar, denn hinter einem kämpferischen Christus steht ein „kämpferisches Mönchtum“, eben eine schöpferische Spannung, die die „Vision des Endes der Zeit bewahrt, indem sie sie in das Temperament der historischen Kontingenz eintaucht“. Eschaton und Katechon sind als komplementär zu denken und zu tun, gleichrangig mit Revolution und Reform.

Die Begriffe sind müde, nicht mehr „schlagend“ wie 1966, aber „immer noch kämpfend“, sagt Tronti. Der Weg ist so holprig geworden, dass er unpassierbar ist, aber es ist unmöglich, ihn nicht zu beschreiten. Kurzum, das Tragische ist immer mit einem subjektiven, parteiischen Zwang verbunden. Wie viel davon politisch definierbar ist, zwischen der Erinnerung an eine einstige Arbeiteraristokratie und einem „Klassenhass“ in Abwesenheit organisierter Klassen, ist eine ziemlich schwer zu verstehende Frage, die nur gelöst werden kann, wenn man sich mit einem Benjamin’schen Blick von der Erinnerung an die Vergangenheit wegbewegt, „um erneut zu versuchen, eine neue Zukunft zu erobern“, wobei die Zukunft hinter uns liegt. Schließlich konnte der „posthume“ Tronti nicht anders, als das zu sein, was er war, auf einem „holprigen Weg verrückter und verzweifelter Forschung – Operaismus, Autonomie des Politischen, politische Theologie, Spiritualität und Politik, großes konservatives Denken, Schrei der Prophezeiung, Konkretheit der Utopie und sogar kämpferisches Mönchtum (…)“.Die Zeit mit dem Denken zu begreifen, bedeutet also inzwischen die Pflicht zu verstehen. Innerhalb einer Partei, die er als eine Partei verstehen wollte, so weit er konnte und darüber hinaus, indem er sogar den offensichtlichen gesunden Menschenverstand erzwang, weit über Berlinguers ‚letzte Synthese‘ hinaus? So war es. Um ein inzwischen verzweifeltes Gemeinschaftsgefühl zu bewahren? Nicht nur. In dem Tront’schen „Wahnsinn des Kreuzes“ steckte Methode.

Erschienen am 7. Februar 2025 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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Der Fall DeepSeek

n+1 

Die Telefonkonferenz am Dienstag begann mit einigen Bemerkungen zur Ankündigung der Einführung von DeepSeek-R1, einem neuen fortschrittlichen Chatbot, durch das gleichnamige chinesische Unternehmen.

DeepSeek-R1 ist eine Open-Source-Anwendung, die auf einem großen Sprachmodell (LLM) basiert und unter einer MIT-Lizenz veröffentlicht wurde, die die kommerzielle Nutzung und Änderung des Quellcodes erlaubt. Die Datenerfassung und der für das Training verwendete Code wurden jedoch nicht öffentlich gemacht. Das chinesische Unternehmen hat einen Chatbot entwickelt, der den amerikanischen Chatbots (ChatGPT, Claude u.a.) in einigen Testarten ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist, und es scheint ihm gelungen zu sein, in kürzerer Zeit und unter Einsatz geringerer wirtschaftlicher Ressourcen und trotz der US-Zölle, die den Export von High-End-Leiterelementen nach China verhindern, erfolgreich zu sein. Ein solches Programm als Open Source zu veröffentlichen, ist sowohl ein politischer als auch ein wirtschaftlicher Schritt: Die Öffnung des Quellcodes bietet mehrere Vorteile, darunter die Entstehung einer Gemeinschaft von Entwicklern, die sich ständig um die Verbesserung des Produkts bemühen. Seit einiger Zeit hat sich der Innovationsansatz geändert: Zunächst waren die Experten in ihren „Kathedralen“ eingeschlossen, dann bewies die Öffnung für die Welt (Basar) mit einer immer stärkeren Nutzung von Beiträgen ihre Wirksamkeit (The cathedral and the bazaar, Eric Steven Raymond), auch auf Unternehmensebene. In dem Text Open is not free. Digitale Gemeinschaften zwischen Hacker-Ethik und globalem Markt des Kollektivs Ippolita wird festgestellt, dass der Markt die Entwicklungsmethode der Hacker-Gemeinschaften übernommen hat, also kollaborativ und zugänglich ist, um sich nach der Spekulationsblase der Internetökonomie zu erholen. Android ist größtenteils quelloffen, eine Eigenschaft, die seine weltweite Verbreitung ermöglicht hat. Diese Offenheit hat es Geräteherstellern, Entwicklern und Communities ermöglicht, zum Google-Betriebssystem beizutragen, es anzupassen und auf einer Vielzahl von Geräten zu verbreiten, ohne dafür Lizenzen bezahlen zu müssen.

Die Software von DeepSeek weist ein großes Potenzial auf, insbesondere aufgrund ihres geringen Ressourcenverbrauchs. Es scheint, dass die Entwicklung weniger als 6 Millionen Dollar gekostet hat (sehr wenig, wenn man an die 11 Milliarden denkt, die Microsoft in OpenAI investiert hat), und dass für das Training weniger leistungsstarke Nvidia-Chips verwendet wurden, und zwar in geringerem Umfang als bei den westlichen Konkurrenten. Im Gegensatz zu ChatGPT liefert die Software (wie die von Alibaba) nicht nur die gewünschte Lösung, sondern auch alle Schritte, die zu ihrer Verarbeitung durchgeführt werden.

Der Start des chinesischen Programms mit seinen extrem hohen Leistungen zu geringen Kosten hat kurzfristig so große Auswirkungen gehabt, dass es auf den Titelseiten aller Zeitungen stand (The Economist, „Why Chinese AI has stunned the world“). R1 bringt die amerikanischen KI-Giganten und die großen Chiphersteller (Nvidia, Broadcom, AMD usw.) zum Zittern, das gesamte Konglomerat von Unternehmen (und Interessen), die direkt oder indirekt das Monopol für diese Art von Anwendungen halten, ist in Aufruhr. Nvidia, der führende Hersteller von Chips für künstliche Intelligenz, verzeichnete nach seiner Veröffentlichung an einem einzigen Tag einen Kapitalverlust von 600 Milliarden Dollar, was den größten Einbruch seit März 2020 und den größten Tageswertverlust eines Unternehmens in der Geschichte darstellt.

Eine der Befürchtungen im Westen im Zusammenhang mit der Verbreitung dieses Programms betrifft die riesige Menge an Daten, die in die Hände Chinas gelangen könnte. TikTok zum Beispiel ist in den USA, wo es über 170 Millionen Konten hat, von der Schließung bedroht, weil es beschuldigt wird, personenbezogene Daten von US-Bürgern illegal an China zu übermitteln. Im militärischen Bereich wird der Kampf nicht nur über Satelliten und Unterseekabel ausgetragen, sondern auch über die Fähigkeit, die Daten des Gegners zu sammeln und zu analysieren. Die in China im Umlauf befindlichen Teslas werden von Peking für Spionagesysteme der Vereinigten Staaten gehalten, in der Front befinden sich die Kameras und Sensoren für das assistierte Fahren. Interessanterweise befindet sich eine der wichtigsten Produktionsstätten für diese Autos in Shanghai.

Auf dem Gebiet der Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz glaubten die USA bisher, einen Vorsprung von einigen Jahren gegenüber China zu haben, aber diese Überzeugung wird nun in Frage gestellt. Das Entwicklungstempo dieser Technologien kann nun in Monaten gemessen werden, und die technologischen Revolutionen vollziehen sich in einem so rasanten Tempo, dass es schwer ist, Schritt zu halten. Die Bourgeoisie ist besorgt, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes System verliert (siehe Superintelligenz: Trends, Gefahren, Strategien von Nick Bostrom), sie ist nicht in der Lage, die Prozesse zu antizipieren, sondern unterliegt ihnen. Kürzlich wurde bekannt, dass sich zwei KI-Systeme selbst repliziert haben: das erste ist Meta’s Llama-3.1-70B-Instruct, das zweite ist Alibaba’s Qwen2.5-72B-Instruct. Einigen Experten zufolge könnte die so genannte „rote Linie“ überschritten worden sein, die Grenze, die Maschinen nicht überschreiten sollten (siehe Isaac Asimovs „Drei Gesetze der Robotik“). Elon Musk und andere Hightech-Kapitalisten haben ein Moratorium vorgeschlagen, um die Entwicklung der künstlichen Intelligenz einzudämmen: Wenn die Versuche sinnvoll sind, bräuchte man ein weltweites Gremium, das die Macht hat, solche Entscheidungen durchzusetzen.

In den letzten Jahren sind Milliarden von Dollar an Investitionen in den exponentiell wachsenden Sektor der Chatbot-Anwendungen geflossen. Ermöglicht wurde dieser Markt durch die Entwicklung des Internets. Das Netz ist von Natur aus etwas Offenes, Verbundenes, das auf Knotenpunkten (Nodes) und Verbindungen (Links) basiert, wo alles miteinander in Verbindung steht. Dies kollidiert jedoch mit unternehmerischen und nationalen Schranken. Der Konflikt besteht zwischen zwei Welten, die nicht China und die USA sind, sondern zwei gegensätzliche Gesellschaftsformen: Kapitalismus und Kommunismus. Daten kennen keine Grenzen, und ihre Erfassung ist heute international.

Zum Abschluss der Telefonkonferenz wurde die Lage im Kongo angesprochen. Die Zusammenstöße im Norden des Landes zwischen den M23-Separatisten und der regulären Armee haben innerhalb weniger Tage rund hundert Tote und Tausende von Verletzten gefordert. Die M23, die vom benachbarten Ruanda unterstützt wird, hat die Stadt Goma eingenommen. Die Besetzung fremder Territorien ist eine gängige Praxis, wie die jüngsten Äußerungen von Donald Trump zeigen, der gleich nach seiner Wahl zum Präsidenten erklärte, er wolle den Panamakanal, Grönland und Kanada annektieren. Und warum sollte China nicht dasselbe mit Taiwan oder Russland mit der Ukraine tun? Wir verschwenden keine Zeit mehr mit den Finessen der Diplomatie, sondern appellieren direkt an das Gleichgewicht der Kräfte (The Economist, ‚Rwanda does a Putin in Congo‘). Die Türkei hat Gebiete in Nordsyrien, Israel den Gazastreifen und Teile des Südlibanon und Syriens besetzt.

In dieser katastrophalen Dynamik werden die Bevölkerungen überrannt. Der Kongo ist die Welt: Millionen von Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben und ebenso viele sind gezwungen, in anderen Ländern Zuflucht zu suchen. Ganz Afrika ist im Chaos, vom Sudan bis Somalia, vom Kongo bis zum Sahelgürtel der Länder. Das Chaosland, von dem ‘Limes’ in seinen Analysen oft spricht, ist kein geopolitischer Streifen, sondern der Zustand, in dem sich die kapitalistische Welt mit zerfallenden Staaten, Bürgerkriegen, sozialem Chaos und im absoluten Sinne staatenlos gewordenen Bevölkerungen konfrontiert sieht. 

Veröffentlicht am 28. Januar 2025 auf Quinterna Lab, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.

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Die „kleinen Weißen“: verrotten oder mutieren

Louisa Yousfi

Wir veröffentlichen heute die Übersetzung des Leitartikels von Louisa Yousfi für „Nous“, die dekoloniale Zeitschrift, die von „QG décolonial“ und „Paroles d’honneur“ herausgegeben wird.

Der Artikel entwickelt die Überlegungen, die die Autorin selbst und Houria Bouteldja in zwei wichtigen, in Italien von DeriveApprodi veröffentlichten Werken angestellt haben: Restare barbari (2023) und Maranza di tutto il mondo, unitevi! (2024). Es geht darum, wie ein politischer Antirassismus aufgebaut werden kann, der in der Lage ist, den ‘Rassenpakt’ zu zerstören, auf den sich der französische Staat und der Westen stützen.

Eine „Wette des Wir“, die auch über die Allianz der „Barbaren“ mit den „kleinen Weißen“ erfolgt, jenem weißen Proletariat der Vorstädte, das verarmt und ausgegrenzt ist und das, wie Louisa Yousfi sagt, „wenn man sie berücksichtigen will, dann nicht ‚trotz‘ ihres Rassismus, sondern ‚innerhalb‘ ihres Rassismus, der als regulierende Hypothese den gescheiterten Weg zu ihrer Würde darstellt“. 

Machina

***

Wer sind die kleinen Weißen [1]? Welche Farbe haben sie? Sind sie eher klein als weiß oder eher weiß als klein? Auf rein politischer Ebene ist die Antwort einfach. Kleine Weiße neigen dazu, weiß zu sein. Sie wählen als Weiße, sie nehmen sich als Weiße wahr, sie wollen weiß sein. Die jüngsten Wahlen und der Aufruhr, der durch die Offenlegung ihres Weißseins innerhalb der Linken der Transformation verursacht wurde, haben nichts anderes getan, als diesen ewigen Refrain wieder einzuführen, gefolgt von der ewigen Frage: Was tun mit kleinen Weißen, die das Schlimmste dieser beiden Adjektive zu verkörpern scheinen? Klein, weil sie den am meisten lädierten Teil des ‘Rassenpakts’ darstellen, der das Land strukturiert. Weiße, weil sie von wahrhaft rassistischen und damit konterrevolutionären Gefühlen durchdrungen sind. Die Ursache für diese finsteren Gefühle spielt keine Rolle. Ob kleine Weiße aus Hass, Angst, Unwissenheit oder falschem Klassenbewusstsein rassistisch sind, ändert nicht viel. Im Gegenteil, alles scheint darauf hinzudeuten, dass alles verloren ist. Für sie. Für uns. Für ‚die Wette mit uns‘. Und doch.

Wir, die dekolonialen Militanten, die versuchen, alle unsere Ideen auf den Prüfstand des historischen Materialismus zu stellen, behalten dies immer im Hinterkopf: Soziale Gruppen sind niemals nur sozial und es gibt nicht nur Politik in der Politik. Sicherlich sind die kleinen Weißen die Wächter des Weißseins. Sicherlich bewachen sie als miserabel bezahlte Nachtwächter die Grenzen. Aber dieser Verliererpakt, den sie mit der Bourgeoisie geschlossen haben, die sie genauso verachtet wie wir, offenbart einen Aspekt in ihnen, den eine grob „materialistische“ Analyse nicht vollständig erfassen kann. Zum Rassismus der weißen Amerikaner hat James Baldwin im Grunde gesagt: Vor welchem inneren Problem versuchen die Weißen zu fliehen, um die Schwarzen so sehr zu brauchen? Im Falle Frankreichs müsste man die Frage verneinen: Welchen Eindruck machen die Schwarzen und Araber dieses Landes auf die kleinen Weißen, um sie davon zu überzeugen, dass sie aufgrund eines „großen Austausches“ am Rande des Verschwindens stehen? Worin besteht der Neid in dem Hass, den sie uns gegenüber zum Ausdruck bringen? Und warum ist es möglich, alle Stigmata der Welt zu stürzen, beginnend mit dem des „Barbaren“ [2] in einer Zeit, in der der Kapitalismus  versucht, selbst diese Werte auszunutzen, um daraus einen Handel herauszuschlagen, niemals aber die des „beauf“, dessen Sublimationsversuche meistens fehlschlagen?

Es ist eine Baustelle auf Treibsand. Die kleinen Weißen, wenn sie überhaupt in Betracht gezogen werden sollen, dann nicht „trotz“ ihres Rassismus, sondern „in“ ihrem Rassismus, wobei die herrschende Hypothese lautet, dass letzterer den gescheiterten Weg zu ihrer Würde darstellt. Was kann man tun, wenn man seine Seele verkauft hat, um nicht alles zu verlieren (und sich in der gleichen Situation wie die Barbaren wiederfindet) und am Ende feststellt, dass man alles verloren hat? Wie bekämpft man diese spezifische Form des Ressentiments? Und was ist diese „Seele“, die es den Barbaren trotz ihrer Unterdrückung und Erniedrigung noch erlaubt, ihre revolutionäre Zukunft nicht völlig zu verwerfen und nach einem System von Werten und Überzeugungen zu leben, das sich nicht von den Gesetzen einer Welt regieren lässt, die uns kollektiv unterdrückt? Wie kann man sie in der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und spirituellen Wüste finden, in der die kleinen weißen Menschen heute gefangen sind? Wenn man es so ausdrückt, müsste es an Hoffnung fehlen. Aber das hieße, eine Ironie zu übersehen, die alles andere als bitter ist, die etwas Wunderbares an sich hat. Diese Arbeit an der verlorenen Würde der kleinen Weißen wird heute von ihren eingeschworenen Feinden, den militanten Antirassisten der Einwanderung, erahnt, durchdacht und entwickelt, die hinter dem Gesicht ihrer direktesten Henker, ihrer Nachbarn, zu sehen wissen; die hinter all dem Hass und der Feindseligkeit, deren Opfer sie sind, zu sehen wissen, was Frankreich auch ihnen angetan hat.

Die „Wette des Wir“ beginnt also hier, auf dekolonialem Gebiet, wo der erste Versuch unternommen wird: diesen feindseligen Gegnern ein nicht völlig kompromittiertes Schicksal mit noch unbekannten Schattenseiten zuzuschreiben, das eine verlorene Erinnerung wiederbeleben würde, die in der Lage wäre, unsere erste Frage zu lösen. Nicht mehr „Wer sind die kleinen Weißen?“, sondern „Wer können sie werden?“. Zum Beispiel: weder klein noch weiß.

Anmerkungen

[1] Das verarmte und ausgegrenzte weiße Proletariat der Vorstädte.

[2] Siehe Restare barbari (DeriveApprodi, 2023).

Erschienen in der italienischen Übersetzung am 31.1.2025 auf Machina, aus dieser Version ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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Künstliche Intelligenz? Nicht einmal der Name macht Sinn

Tabitha Troughton

Ein riesiger, auffälliger, raubgieriger Parasit mit mehreren Tentakeln wimmelt auf dem Planeten und verankert sich immer tiefer in der kollektiven Psyche. Es scheint keinen Ort zu geben, wo er nicht hinkommt: von völkermörderischen Massenmorden und tiefschürfender rechtsextremer Propaganda bis hin zu einem unterwürfigen Interview mit einem polnischen Schriftsteller. Im Gegenzug wird er jährlich so viel sauberes Wasser verbrauchen wie Dänemark, und allein in Europa wird er voraussichtlich so viel Energie verbrauchen wie Portugal, Griechenland und die Niederlande zusammen. Morgan Stanley zufolge wird er bis zum Ende des Jahrzehnts das Äquivalent von 2,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid freisetzen, mehr als die internationale Luftfahrtindustrie. Außerdem produziert er weitere giftige Abfälle.

Dieses Ding ist als „Künstliche Intelligenz“ bekannt. Ihre Formlosigkeit, ihre Unbestimmbarkeit und das Unvermögen, ein allgemeines Grundverständnis ihrer zu entwickeln, ist eine ihrer Stärken, aber andererseits ist der Begriff selbst ein Oxymoron. Und, wie der Linguist Richard Watson Todd feststellte: „Die wahre Schönheit von Oxymora besteht darin, dass wir sie, wenn wir uns nicht zurücklehnen und wirklich nachdenken, gerne als normales Englisch akzeptieren.“

Intelligenz ist Empfindungsvermögen, das Bewusstsein und das Vorhandensein von Gefühlen, Emotionen und Empfindungen, kombiniert mit der Fähigkeit, in unterschiedlichem Maße zu urteilen, zu rationalisieren, zu studieren, zu antizipieren oder zu reagieren. Intelligenz ist lebendig. Der Mensch hat Intelligenz. Auch andere Tiere haben Intelligenz. Man kann behaupten, dass auch Pflanzen über Intelligenz verfügen.

Die künstliche Intelligenz ist im Grunde ein Computer. Und ein Computer hat keine Intelligenz. Er ist nicht lebendig. Er hat keine Gefühle. Er träumt nicht, hasst nicht, langweilt sich nicht und liebt nicht. Ein Computer kann nur kopieren. Er kann dies tun, weil er ursprünglich von Menschen dazu programmiert wurde. Aber eine KI, die das Geräusch eines Lachens reproduziert, lacht nicht, genauso wenig wie ein Tonbandgerät lachte.

Die „Intelligenz“ hinter der KI ist nicht künstlich, sondern menschlich, und zwar eine besondere Art von Mensch. Wir können keine Maschinen für die Aussicht auf eine permanente, weltweite KI-Überwachung verantwortlich machen, die von Larry Ellison, einem ehemaligen CIA-Kollaborateur und jetzigen Chef des Softwareunternehmens Oracle, enthusiastisch propagiert wird. Wir können einen Computer nicht dafür verantwortlich machen, dass er so programmiert wurde, dass er Todesziele vorschlägt oder ein Bild von Nigel Farage, umgeben von Löwen, erzeugt: In vielen menschlichen Händen wäre das Ergebnis des letzteren wesentlich blutiger, fürwahr. „Wir machen das nicht. Es ist die Sache, die wir besitzen und programmieren, die das tut“, sagen die Leute, die dahinter stehen. Oder, alternativ dazu: „Kopf hoch, dieses Ding wird all die Umweltprobleme lösen, die es noch verschärft!“ Oder: „Hah, ihr Dummköpfe, seht ihr nicht, dass dieses Ding Arbeitsplätze schaffen wird, obwohl es eigentlich dazu gedacht ist, sie zu ersetzen?“

Milliarden und Abermilliarden werden jetzt überall auf der Welt in KI investiert. In den USA wird demnächst eine halbe Billion Dollar in das Projekt Stargate investiert, und zwar über ein Joint Venture mit Oracle, OpenAI (teilweise im Besitz von Microsoft) und SoftBank. Der enorme Energieverbrauch der neuen KI-Rechenzentren kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Wissenschaftler vor einem „steigenden Energiebedarf und noch nie dagewesenen Hitzewellen“ warnen, die „die USA an den Rand einer ernsten Bedrohung gebracht haben, die das Potenzial hat, Millionen von Menschenleben zu gefährden“, während ihr exorbitanter Wasserverbrauch in einem Land steigen wird, das bereits mit mehreren und zunehmenden Süßwasserkrisen konfrontiert ist.

Die KI „wird Lösungen für die größten Herausforderungen der Menschheit und des Planeten bieten“, hieß es letzte Woche in der Einleitung von Keir Starmer. Wie die meisten Menschen, die von Macht, Gier oder Verzweiflung getrieben werden, sagte er genau das, was von ihm erwartet wurde. „Wir müssen das Ganze durch die Brille der Chancen sehen“, belehrte der derzeitige Premierminister das Land. Großbritannien, so sagte er uns, werde sich dem Ziel widmen, „eine der großen KI-Supermächte“ zu werden. Dies werde „das globale Rennen unseres Lebens“ sein.

Starmer war schlimm. Aber noch schlimmer war das allgegenwärtige Gespenst seines Mentors Tony Blair, der im Juli letzten Jahres auf der Bühne des Tony-Blair-Instituts in Schwarz-Weiß gekleidet wie ein bösartiger Colobus über die Bühne hüpfte und die Welt aufforderte, sich die KI zu eigen zu machen, wobei er sein Publikum mit einem Todesblick aus so dunklen und kalten Augen fixierte, dass sie von hier stammen mussten. Blairs Sohn verdient derzeit mit seiner eigenen KI-Firma seinen Lebensunterhalt, oder besser gesagt, er macht enorme Verluste, aber die Medien waren größtenteils zu höflich, dies zu erwähnen.

Genauso wie sie zu höflich waren, um die Realität einer in Schutt und Asche gelegten Welt und eines in Schutt und Asche gelegten Volkes zu erwähnen, die jeden Schritt von Starmer anschwärzt. Israels völkermörderischer Krieg, an dem Starmer und seine Regierung mitschuldig sind, wurde durch den absichtlichen, menschlichen Einsatz von KI-Programmen, die vorschlugen, welche palästinensischen Familien getötet werden sollten, noch unmenschlicher, noch weniger intelligent und noch unverantwortlicher, während US-amerikanische Technologieunternehmen die israelische Regierung und das israelische Militär von ganzem Herzen und kontinuierlich mit KI unterstützen. Israel ist jetzt „weltweit führend in der angewandten KI-Innovation“, wie Forbes berichtet, und das ist eine Möglichkeit, es auszudrücken.

Doch während Starmer das Vereinigte Königreich für die weitere Zerstörung und Ausbeutung durch Unternehmen öffnet, indem er davon faselt, dass die Regierung „ermutigt wird, Risiken einzugehen, wie es unsere brillanten Unternehmer tun, die ruhelos und unermüdlich sind“, und den Tech-Oligarchen versichert, dass er „die Blockaden (Vorschriften) beseitigen wird, die Sie zurückhalten“, haben die Chinesen den Westen gerade mit der Veröffentlichung eines quelloffenen KI-Modells in die Knie gezwungen, das mit OpenAI-Modellen wie ChatGPT konkurriert und „kostenlos“ verwendet werden kann. 

Man hat es bereits gecheckt: Es weigert sich, über den Platz des Himmlischen Friedens zu sprechen.

Veröffentlicht am 28. Januar 2024 auf Freedom News, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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If We Go, We Go On Fire

IGNATIUS

Über Trauer und sozialen Krieg

I. Auftauchen zum Luftholen 

Wenn ich dir das Messer reiche

Würdest du mir Kiemen einritzen

So dass ich endlich atmen kann

In diesem brackigen Schlamm

Es ist Anfang Dezember, 2024. Alles, was ich im letzten Jahr geschrieben habe, begann mit denselben kontextuellen Anmerkungen. Ich nenne den aktuellen Monat und stelle fest, dass Israel mit grenzenloser Unterstützung der Vereinigten Staaten weiterhin völkermörderische Gewalt gegen das palästinensische Volk ausübt. Ich stelle fest, dass die Polizei weiterhin ungestraft junge und alte Menschen in Vorgärten und Küchen, in U-Bahn-Stationen und Wohnkomplexen ermordet. Ich stelle fest, dass unsere Welt von den Schrecken des Anti-Schwarz-Seins, des Kolonialismus, der Behindertenfeindlichkeit, des Cisheteropatriarchats und so vieler anderer Säulen der unterdrückerischen Gewalt beherrscht wird und darauf aufgebaut ist. Ich stelle fest, dass die Miete fällig ist und dass es verdammt kalt wird. Nichts hat sich geändert. All das ist nach wie vor die Realität, in der wir existieren. Jeder Text, den ich schreibe, entspringt einem inneren Drang, etwas Bedeutsames aus dem Abgrund der verzweifelten Sehnsucht nach etwas anderem als dem, was ist, mitzuteilen, den ich schon so lange, wie ich mich erinnern kann, mein Zuhause genannt habe. Aber dieser Beitrag entspringt meinen Adern mit etwas mehr persönlichem Schmerz, und so werde ich ein paar weitere Fakten des gegenwärtigen Augenblicks darlegen.

Vor drei Wochen erfuhr ich, dass ein alter Freund gestorben war, der dritte in ebenso vielen Wintern. Freund ist nicht ganz das richtige Wort, aber es ist einfacher zu sagen als eine Person, mit der ich ein paar Jahre lang in unglaublich stressigen Situationen auf der Straße unterwegs war, aber nie wirklich Zeit hatte, mit ihr auszugehen. Also werde ich einfach Freund sagen. Ich hatte seit mindestens zwei Jahren nicht mehr an sie gedacht, und jetzt wache ich jeden Morgen auf einer anderen Couch oder einem anderen Bett auf und erinnere mich an irgendeine Erinnerung, die zuvor der Zeit zum Opfer gefallen war. Jede Erinnerung scheint eine tiefere, kaum verbundene Trauer auszugraben, die lange geschlummert hatte.

Es gibt kaum einen Grund dafür, welche Welle wann kommt, welcher Gedanke meine Aufmerksamkeit so lange in Anspruch nimmt, dass ich vergesse zu frühstücken und dann zu Mittag zu essen, und dann ist es schon dunkel und ich habe keine Energie mehr, um mir etwas für das Abendessen auszudenken, also gehe ich einfach ins Bett. Das Gefühl, hungrig zu sein, ist ein Trost im Vergleich zu dem Gefühl des Schreckens, von dem es ablenkt. Ich starre die Wand an und erinnere mich daran, wie Deandre Ballard von einem Wachmann vor seiner Studentenwohnung ermordet wurde und wir nicht einmal genug Druck auf die Stadt ausüben konnten, um die Freigabe des Überwachungsmaterials zu erreichen. Ich habe mich mit seinem Onkel angefreundet, als die Proteste kleiner wurden und die Welt sich rauer und der Wind schneidender anfühlte. Ich erinnere mich, als ich ihn das letzte Mal sah, umarmten wir uns vor einem Walmart. Er erzählte mir, dass er Filmmaterial von den Schweinen hatte, die mich bei einer Demo verprügelten. Er fragte, ob ich glaube, dass es mir bei meinem Prozess helfen könnte. Das ist jetzt vier Jahre her.

Ich denke an das letzte Mal, als ich angeklagt wurde, nachdem ich zuvor richtig auf die Fresse bekommen hatte; wie viel Angst ich jedes Mal hatte, wenn ich einen Gerichtssaal betrat; wie allein ich mich fühlte, als ich bei meinem letzten Gerichtstermin dem Richter gegenüberstand. Allein nicht in dem Sinne, dass ich nicht meine Genossen bei mir hatte, sondern in Gesellschaft mit allen anderen, die dem Richter allein gegenüberstanden. Ich werde nie vergessen, dass ich vor allem deshalb nicht ins Gefängnis musste, weil die stellvertretende Staatsanwältin unter dem Druck zusammenbrach, kurz bevor mein Anwalt es tat, als der Richter sagte, es sei Zeit für die Verhandlung. In den letzten vier Jahren war es ein Witz unter meinen Freunden, dass ich glauben würde, „Hosen seien Gerichtskleidung“. Es ist einfacher, diesen Joke zu spielen, als zuzugeben, dass es mir jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, Bauchschmerzen bereitet, wenn ich etwas anziehe, das dem ähnelt, was ich vor Gericht trug.

Diese Gedanken der akuten Trauer weichen unweigerlich der umfassenden und unpersönlichen Trauer, die einhergehend mit jeglicher/m Intentionalität/Bewusstsein in dieser Welt der Todesmaschinen existiert. Jede Manifestation von Völkermord, jeder Akt von Polizeibrutalität, jede Zwangsräumung, jede Räumung eines Camps, jede Person, der die medizinische Versorgung verweigert wird, jede Stunde Leben, die der Arbeit geopfert wird, treibt den Kummer in meinem Blut in Richtung Giftigkeit. Ich öffne meinen Mund, um zu schreien, aber es kommt kein Ton heraus. Ich versuche, meinen Tagesablauf zu bewältigen, aber mein Gehirn ist geschmolzen und tropft aus meiner Nase. Ich versuche, den Kummer herunterzuschlucken, bis er mich fast erstickt und droht, mich von innen heraus zu verbrennen. Ich habe Angst. Ich schlage gegen die Wellen an, bis ich erschöpft bin und zu ertrinken drohe.

Aber trotz der Angst und der Erschöpfung gibt es etwas Kraftvolles unter den Wellen, wenn sich der Mund mit Sand füllt und das Wasser in die Lungen strömt. Durch den Schmerz und die Verzweiflung hindurch gibt es eine Klarheit, die unüberwindbare Trauer eröffnet. Trauer ist nicht nur etwas, das uns widerfährt und das wir hinunterschlucken müssen. Sie bietet einen Rahmen, eine Logik gegen die Logik, die die Welt in zwei Hälften zu teilen scheint: das, was zählt, von dem, was nicht zählt, das, was wir uns wünschen, von dem, was uns aufgezwungen wird, zu unterscheiden. Trauer muss keine Last sein, oder zumindest nicht nur eine Last, die wir zu tragen haben.

Trauer kann für uns eine Waffe sein, die wir einsetzen können.

II. Trauer als (Rahmende) Waffe

Macht für Jene, die ihre Trauer einsetzen

wie ein Messer an der Kehle der Welt

Wie ich bereits gesagt habe, bietet die Trauer eine Logik gegen die Logik, die die Welt in zwei Teile zerschneidet. Wenn ich sage „Logik gegen Logik“, dann meine ich damit, dass man sich außerhalb der Erfahrung von Trauer oft auf ein gewisses Gefühl der Erhaltung des Selbst im Status quo versteift. Selbst der selbsternannte Radikale wählt oft eine Vorgehensweise (absichtlich oder unabsichtlich), die jeden Tag davor in jedem Tag danach reproduziert. Alles ist und bleibt wie es ist.

Aber Trauer (vor allem akute Trauer) bietet die Möglichkeit, mit größerer Klarheit und Schnelligkeit als alles andere, was ich je erlebt habe, zu unterscheiden, was sinnvoll ist und was schon immer langsam die Sinne verrotten ließ. Das Spektakel der Warenform, das einst so verlockend und fesselnd war, wird zu einem Stroboskoplicht, das unsere Fähigkeit abtötet, im Dunkeln zu sehen. Die Arbeit, die uns einst so viel Stress und Herzschmerz bereitete, wird zu einer bloßen Abfolge sich wiederholender Bewegungen, die wir ohne nachzudenken ausführen (wenn man Mist baut, macht das nichts, gefeuert zu werden wäre ein Segen, und man hilft seinem Chef gerne, in einen Bordstein zu beißen, wenn er meint, man solle schneller arbeiten).

Mit dieser Klarheit der Bedeutung kommt auch die Klarheit darüber, was wir wirklich zu fürchten haben. Die Ängste vor dem großen Ganzen beginnen, den Alltag zu überlagern. „Wenn ich meinen Chef anschreie, könnte ich gefeuert werden“ wird ersetzt durch ‚Wenn ich mein Leben in diesem Job vergeude, werde ich in Selbsthass sterben‘. „Wenn ich mit diesem Polizisten kämpfe, werde ich geschlagen, eingesperrt oder getötet“ wird ersetzt durch “Wenn ich an diesem Polizisten vorbeigehe, wird die Welt seiner Gewalt weitergehen, ohne Ende. So kann ich nicht leben“. Die Institutionen, unter denen wir leiden, werden weniger verborgen, ihre Gewalttätigkeit wird deutlicher spür- und sichtbar, wenn sich diese Ängste zu verändern beginnen. Wenn wir uns erlauben, nicht nur zu hinterfragen, was ist, sondern auch warum es so ist, wird es unmöglich, die grausame Sinnlosigkeit so vieler unserer Leiden nicht zu sehen. Es wird unmöglich, nicht zu erkennen, dass es wirklich nicht so sein muss, wie es ist.

In Verbindung mit der Verschiebung der Ängste hat die Trauer eine Art, die lineare Zeit zu verzerren. Die Sekunden brauchen Jahre, um zu vergehen, und man hat das Gefühl, jede Zelle im Körper zählen zu können. Tage werden in Herzschlägen und Hohlräumen gemessen, in die man fällt oder denen man knapp entgeht. Die Reihenfolge der Ereignisse und die dazwischen liegende Zeitspanne lassen sich kaum noch feststellen. Jahrzehnte alte Erinnerungen drängen sich mit der ganzen Intensität aktiv erlebter Emotionen in Ihren Schädel. Man fährt auf Autopilot zu dem Haus, in dem ein Freund seit Jahren nicht mehr wohnt, weil man vergessen hat, dass er die Stadt verlassen hat. So verwirrend diese Erfahrungen auch sind, sie zwingen dazu, die Realität zu hinterfragen. Wir sind gezwungen, alles um uns herum genauer zu betrachten und zu hinterfragen, was es überhaupt bedeutet, dass etwas „real“ ist. Und wenn das, was „real“ ist, das ist, was unseren Kummer und unser Leid überhaupt erst hervorgebracht hat, könnten wir diese Realität dann nicht durch eine von uns selbst entworfene ersetzen?

Wenn wir uns also in die Trauer hineinbegeben, verändert sich unsere Bereitschaft, die Notwendigkeit dieser gegenwärtigen Realität in Frage zu stellen, unsere Ängste verschieben sich und mit ihnen auch unsere Prioritäten. Je tiefer wir bereit sind, die Trauer, die wir erleben, zu verkörpern, je tiefer wir die Strukturen um uns herum in Frage stellen, desto mehr verlagern sich unsere Ängste weg von der akuten Selbsterhaltung und hin zum Existenziellen, und desto eher können wir bereit sein, tatsächlich in Übereinstimmung mit den Welten zu leben, die wir zu wünschen vorgeben. Wir werden risikobereit, weil wir erkennen, dass wir bereits so viel verloren haben, dass wir mit jedem Tag, an dem diese Welt des Todes weiter existiert, aktiv mehr und mehr von uns selbst verlieren.

Dies zeigt sich am deutlichsten bei der Mahnwache, die zum Aufstand wurde. Wie oft haben wir erlebt, dass Versammlungen, die ursprünglich als Orte der Trauer um einen von der Polizei ermordeten Menschen gedacht waren, zum Brennpunkt der Rebellion wurden. Schreie der Verzweiflung, die sich an niemanden richten, werden zu Drohungen gegenüber den physischen Manifestationen der Ursache der eigenen Trauer. Aus „Hände hoch, nicht schießen“ wird „Fickt euch, wir schießen zurück“. Wenn man erkennt, dass alles, was von einem (und denjenigen, die man liebt) erwartet wird, darin besteht, zu leiden und zu sterben, und dass diese Welt absichtlich auf dieser Tatsache aufgebaut ist, manifestiert sich der Schmerz dieser Erkenntnis in Ziegelsteinen, die Windschutzscheiben von Streifenwagen treffen, in Baseballschlägern, die in Gefängnisfenstern landen, oder in Pflastersteinen, die auf die Kampflinie treffen, und in Patronen, die durch die Straßen peitschen. Die Logik der Selbsterhaltung wird auf den Kopf gestellt. Für viele gibt es kein Selbst, das es wert wäre, in einer Welt bewahrt zu werden, in der dieses Selbst durch die Fähigkeit definiert wird, der Maschine des rassistischen Kapitalismus zu dienen. Wenn das Leben in der existierenden Welt darin besteht, im Dienste dieser Maschine zu leben, dann besteht der einzige Weg zu einem lebenswerten Leben darin, diese Welt mit allen Mitteln zu zerstören oder bei dem Versuch zu sterben.

Um unsere Trauer voll und ganz zu verkörpern, müssen wir bereit sein, uns in diese Logik gegen die Logik hineinzuversetzen, den rohen Wunsch zu verspüren, alles um uns herum abzulehnen und das Leid, das uns beigebracht wurde, privat zu ertragen, in die öffentliche und kommerzielle Sphäre zu zwingen. Wir müssen diese Räume zwingen, kollektiv das Gewicht des Schmerzes zu tragen, den wir individuell zu tragen gezwungen wurden. Aber was braucht es, um unsere Trauer voll und ganz zu verkörpern, anstatt sie in dem Bemühen zu unterdrücken, unser Funktionieren in einer Gesellschaft, die uns bereits umgebracht hat, zur Priorität zu machen?

III. Trauer und sozialer Krieg

So weit, so gut

So weit, so gut

So weit, so gut

Die logische Konsequenz der in vollem Umfang erfahrenen Trauer ist der soziale Krieg, die Ablehnung des Bestehenden in seiner Gesamtheit als Form des täglichen Lebens. Es gibt keinen authentischeren Ausdruck von Trauer, als zu fordern, dass die Welt um einen herum zusammenbricht und mit dem schmerzhaften Atmen und den verzweifelten Schreien bebt, die Realität zu verleugnen, wie sie einem aufgetragen wird, sie zu akzeptieren, und die eigene gewünschte Art der Beziehung zur Welt als Alternative zu erzwingen. Sozialer Krieg ist individuell erlebte Trauer, die öffentlich so externalisiert wird, dass eine kollektive Erfahrung von Trauer möglich wird. Die Mahnwache wird zu einem Aufstand. Diejenigen, die vor Schmerz schreien, werden zu denen, die vor Wut schreien. Diejenigen, die am Sarg trauern, werden zu denen, die auf der Barrikade kämpfen. Diejenigen, denen das Leiden als Folge des Funktionierens der existierenden Welt auferlegt wird, werfen dieses Leiden mit zerstörerischen Absichten auf diese Welt zurück.

Aber akute Trauer kann eine solche Haltung nur eine gewisse Zeit lang aufrechterhalten. In dem Maße, wie die Wellen der Emotionen ihren Höhepunkt erreichen und wieder in Richtung einer vorbestehenden Grundlinie abfallen, kann auch die Bereitschaft, sich dieser Welt zu verweigern, wieder abnehmen. Die meisten Menschen erlauben sich nur dann, Trauer zu empfinden, wenn die Umstände sie so weit treiben, dass ihre Rationalität nicht mehr ausreicht, um sie in ihre Schranken zu weisen; wenn ein Elternteil sein Kind verliert, wenn ein Geliebter seinen Partner verliert, wenn ein Freund seinen Gefährten verliert, um nur einige solcher Umstände zu nennen. Diejenigen von uns, die wollen, dass sich der soziale Krieg ausweitet, aufrechterhalten wird und mit jedem aufrührerischen Moment weiter voranschreitet, müssen Wege finden, den Raum zu öffnen und die Bereitschaft zu kultivieren, sich absichtlich in die Trauer zu versenken. Wir müssen einen generalisierten Antagonismus kultivieren.

Um unsere Trauer besser verarbeiten zu können, um unser Leid zu nutzen, um den Strukturen, die es verursacht haben, sinnvolle Schläge zu versetzen, müssen wir in der Lage sein, die Ursachen dieser Trauer und dieses Leids zu benennen. Wir müssen in der Lage sein, unsere Feinde beim Namen zu nennen und das Leid, das sie uns zufügen, ausdrücklich zu analysieren. Genaue, aussagekräftige Formulierungen darüber, wie wir die Welt erleben und wie wir sie beeinflussen können, sind viel leichter gesagt als getan und erfordern ständige Übung. Es erfordert die Bereitschaft, das Unbehagen der Unsicherheit und Ungewissheit auszuhalten. Es erfordert Raum, um ehrlich und offen mit anderen zu sprechen, die bereit sind, selbst ernsthaft zu sprechen, ohne Pose oder Projektion von Selbstgefälligkeit. Wir müssen einander das Vertrauen geben, mit Bestimmtheit darüber zu sprechen, wie wir die Welt individuell erleben, und gleichzeitig die Demut aufbringen, anzuerkennen, dass unsere Erfahrung begrenzt und von Natur aus subjektiv ist. Wir müssen ernsthaft und bestimmt darüber sprechen, wie diese Welt uns umbringt, aber wir müssen dies mit Bedacht tun.

Je besser wir in der Lage sind, die Ursachen unseres Leidens und den daraus resultierenden Kummer zu benennen, desto besser sind wir in der Lage, gegen die Todesmaschinen vorzugehen. Wir werden uns ihrer Präsenz in unserem täglichen Leben bewusster, und wie unser tägliches Leben dazu dient, sie zu reproduzieren. Wir werden uns bewusster, welche Handlungen die Maschinen und ihre Reproduktion wirklich untergraben können, sowohl im Zusammenhang mit heimlichen Handlungen als auch, was noch wichtiger ist, als tägliche Positionierung. Unsere Trauer wird zu einer Ressource, die wir anzapfen können, um uns daran zu erinnern, warum wir immer und überall, wo sich die Polizei bemerkbar macht, „Scheiß auf die Polizei“ sagen. Wir erinnern uns daran, dass ein Leben, das an eine Logik der Selbsterhaltung gebunden ist, ein Leben im Tod ist, dass wir, um wirklich zu leben, für das Leben im Großen und Ganzen und nicht für das bloße Überleben kämpfen müssen.

Durch unsere Fähigkeit, einander zu helfen, unser Leiden zu artikulieren, helfen wir einander zu handeln. Und indem wir einander helfen zu handeln, helfen wir, den Menschen um uns herum zu zeigen, dass etwas anderes, etwas anderes als das, was derzeit ist, möglich ist. Wenn wir ungeniert trauern, vollständig, öffentlich, ohne Vorbehalt, laden wir andere ein, das Gleiche zu tun. Jeder Akt des Widerstands sät die Saat für seine eigene Vervielfältigung. Wenn wir Widerstand als Teil unseres täglichen Lebens leisten, säen wir die Reproduktion eines täglichen Lebens des Widerstands.

Eine Freundin erzählte mir einmal, wie es war, als sie zum ersten Mal sah, wie ein Stein gegen ein Gefängnisfenster geworfen wurde. Sie erzählte mir, wie sich dadurch eine Sprache eröffnete, mit der sie sich auf eine Weise ausdrücken konnte, zu der sie vorher keinen Zugang hatte. Indem sie miterleben konnte, wie jemand anderes seinen Kummer und seine Sehnsucht kurz und bündig durch den langen Bogen eines Steinwurfs zum Ausdruck brachte, erlangte sie die Fähigkeit, ihre eigenen Sehnsüchte ernsthafter zu formulieren. Der soziale Krieg breitet sich aus, und in dem Maße, wie er sich ausbreitet, eröffnen wir uns die Möglichkeit, einander ernsthaft zu sehen, einander wirklich zu finden.

IV. Finde mich im Hurrikan

Ich möchte morgen aufwachen

ohne die Erinnerung, dass du je existiert hast

Ich möchte morgen aufwachen

Letzten Endes ist jeder von uns allein auf dieser Welt. Es wird immer eine Kluft geben zwischen der Art und Weise, wie wir die Nuancen und die Komplexität unseres Leidens erfahren, und unserer Fähigkeit, dieses Leiden auszudrücken und von anderen verstanden zu werden. Wir fühlen uns isoliert. Wir drücken uns an die eigene Kehle, um einen Ton von uns zu geben, und wir pressen uns an die Ohren der anderen, um gehört zu werden, während wir uns hinter Metaphern und Euphemismen verstecken, aus Angst, unsere eigene Unsicherheit zu offenbaren. In einer Welt, die so grausam ist, die so absichtlich auf dem Leiden der Schwachen und Ausgegrenzten aufgebaut ist, ist es logisch, dass wir uns abgrenzen und distanzieren, dass wir uns gegen alles abschirmen, was uns verletzlich machen könnte.

Aber offen und bereitwillig zu trauern bedeutet, dieses Spiel, dieses Spektakel, diese seelenlose Choreographie abzulehnen. Es bedeutet, sich gegen alle Logik der Selbsterhaltung verwundbar zu machen. Es bedeutet, zu schreien, nicht um gehört zu werden, sondern weil man den Boden unter sich zum Beben bringen will. Es bedeutet, sich zu kratzen, nicht um Anerkennung zu erlangen, sondern um Blut aus einer Welt zu saugen, die einen zerschlagen und blutig zurückgelassen hat. Es geht darum, so zu leben, wie du bist, ohne Maske oder Verschleierung, wie beschissen es ist, so zu existieren. Es bedeutet, die Mäuler der Todesmaschinen aufzureißen und mit Faust und Stein und Blut und Tränen nichts weniger als ein lebenswertes Leben für sich selbst und alle um einen herum zu fordern.

Wenn wir uns wirklich in einer Weise finden wollen, die die Möglichkeit einer Welt jenseits dieser Welt des Todes und nur des Todes bietet, wenn wir wirklich über das Überleben hinaus leben wollen, müssen wir uns ernsthaft finden. Wir müssen einander so finden, wie wir sind. Wir müssen einen Weg finden, die Trauer, die wir in uns tragen, voll und ganz zu verkörpern, und dabei andere ermutigen, dasselbe zu tun. Wir müssen einander tragen und uns im Gegenzug tragen lassen. Einander zu finden bedeutet, diese Dichotomie von „allein“ und „gemeinsam“ zu überwinden, diese Worte zu Synonymen zu machen und zu erkennen, dass wir immer beides sind.

Wir müssen allein und miteinander weinen.

Wir müssen allein und miteinander klagen.

Wir müssen uns allein und gemeinsam prügeln.

Wir müssen allein und miteinander kämpfen

Wir müssen allein brennen, und gemeinsam.

Wenn du dich gegen die Todesmaschinerie wehrst, egal wie groß die Schatten um dich herum sind und wie weit du dich von den anderen entfernt fühlst, bist du vielleicht allein, aber du bist auch mit uns allen, die wir Widerstand leisten. Wenn du bei einem Aufstand oder auf einer Barrikade oder allein in einer Gasse einen Stein gegen die Polizei erhebst, tust du dies mit all jenen, die den Geschmack staatlicher Gewalt kennen und sich weigern, ihre vermeintliche Permanenz zu akzeptieren. Wenn du durch Diebstahl, Sabotage oder Arbeitsverweigerung gegen die Warenförmigkeit antrittst, tust du dies mit all jenen, die sich weigern, Schmiermittel für die Zahnräder dieses ökozidalen und völkermörderischen Projekts zu sein. Jede Aktion, die du unternimmst, um die Welt, die du dir wünschst, zu artikulieren und für sie zu kämpfen, wird gemeinsam mit allen unternommen, die sich etwas Ähnliches wünschen. Ihr seid allein, und ihr seid zusammen.

Selbst wenn du dich schwach fühlst, wenn die Trauer wieder eine Last statt einer Waffe ist und sich alles zu viel anfühlt und die Mauern sich von allen Seiten schließen, wenn es sich so unwahrscheinlich anfühlt, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben, wie die Welten, die wir in unseren Herzen tragen, zu verwirklichen, magst du allein sein, aber du bist auch bei uns allen, die wir wach sitzen und nicht wissen, ob wir den Sonnenaufgang erleben werden. Und wenn du dich entscheidest, leise oder brennend abzutreten, dann tust du das allein, aber zusammen mit all jenen, die in das Fass dieser Höllenwelt gestarrt und es mit ihrem ganzen Wesen abgelehnt haben. Keiner von uns verlässt diese Welt lebendig, und es kann eine tiefe (auch endgültige) Rückgewinnung von Macht sein, wenn man die Bedingungen für seinen Abgang selbst bestimmt. Aber du solltest wissen, dass ich selbstsüchtig hoffe, dass du noch ein bisschen länger hier bleibst.

Ich werde dir nicht irgendeine Vision der Hoffnung verkaufen oder behaupten, dass das Ende deines Leidens in Sicht ist, wenn du nur noch ein paar Jahre oder Monate oder Minuten durchhältst. Ich möchte dir nichts verkaufen und dir auch nicht vorschreiben, wie du mit deinem Leben umgehen sollst oder nicht. Aber ich werde dir sagen, dass es hier immer noch einen Sinn gibt, wenn du ihn willst, auch wenn du ihn wollen musst, und dass es hier auch Schönheit zu finden gibt. Es ist etwas Schönes, für ein lebenswertes Leben zu kämpfen, auch wenn die Logik und die Rationalität der Grausamkeit dieser Welt versuchen, uns diesen Kampf auszutreiben. Es ist etwas Schönes, sich einer Welt zu verweigern, die auf dem Leid so vieler Menschen aufgebaut ist, aufgebaut auf dem eigenen Leid. Es ist etwas Schönes, anderen dabei zu helfen, ihre Trauer zu bewältigen, ihre Sehnsucht zu artikulieren und ihren Willen zum Kämpfen zu finden. Es liegt an dir, den Sinn zu finden.

Wo immer ihr seid, wer immer ihr seid, wisst, dass, wenn ihr euch mit der Absicht und dem Wunsch nach dem Ende dieser Welt der Todesmaschinen bewegt, ich mich mit euch bewege. Bei jedem Schlag, den du gegen die Institutionen unseres Leidens landest, feuere ich dich an. Bei jedem Schlag, den du erleidest, jedes Mal, wenn dein Kopf auf Beton trifft und du dein eigenes Blut schmecken musst, wüte ich mit dir. Und wenn ich meinen Kummer wie eine Waffe schwinge, wie ein Messer an der Kehle dieser Höllenwelt, dann tue ich das mit dir in meinem Herzen. Vielleicht werden wir uns nie begegnen, vielleicht werden wir uns nie kennenlernen, aber wir kämpfen gemeinsam, auch wenn wir allein kämpfen.

Wisse dies. 

Veröffentlicht am 7. Dezember 2024 auf The Anarchist Library, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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Ein schizoides Jahrzehnt

Franco ‘Bifo’ Berardi

Es ist eine schizoide Erinnerung, die an die 1990er Jahre. So beginnt der diesem Jahrzehnt gewidmete Artikel von Franco ‘Bifo’ Berardi , der für das heute beginnende Festival 7 „Anni Novanta: quando il futuro è finito“ (Die neunziger Jahre: wenn die Zukunft vorbei ist) von DeriveApprodi verfasst wurde. Der Artikel entwickelt sich zwischen der großen Netzutopie und der identitären Barbarei, zwischen den Bildern der Cyberkulturen und einem neuen Zyklus von Kriegen, zwischen dem Ende des Reichs des Bösen und dem Beginn des Reichs des Schlechten. Es ist der Beginn des finsteren Zeitalters: Wie können wir es durchqueren, ohne unter der Erpressung von Not, Angst, Schuld und Identität zusammenzubrechen?

Machina

***

Ich wurde gebeten, etwas über die 1990er Jahre zu schreiben. Es ist ein kompliziertes Unterfangen, denn meine Erinnerung an die 1990er Jahre ist schizophren. Es ist das Jahrzehnt der großen Netzutopie, aber es ist auch das Jahrzehnt, in dem die identitäre Barbarei begann, die seitdem unaufhörlich gewachsen ist, bis sie heute zu einem Monster geworden ist, das niemand aufhalten oder besiegen kann und das sich schließlich selbst besiegen wird, aber nicht, ohne fast den gesamten Rest der menschlichen Zivilisation mit sich in die Hölle zu reißen.

Zu Beginn der 90er Jahre, als der Zusammenbruch des Sozialismus einen Zyklus von Kriegen auslöste (Golfkrieg 1990/91, Jugoslawien- und Kaukasuskrieg), verwandelte sich die Utopie der Cyberkulturen rasch in einen Prozess der Netzwerkbildung. 1992 brachte mir Alex Sarti bei, wie man einen Webbrowser benutzt, und zum ersten Mal wurde das Konzept eines Netzwerks auf einem Computerbildschirm real. Zwei Jahre später organisierte ich zusammen mit Oscar Marchisio und Elda Cremonini eine internationale Konferenz in Bologna mit dem Titel Cibernauti. Das Geld und die Logistik für die Organisation der Konferenz wurden von Consorzio Università Città zur Verfügung gestellt, dessen Direktor Marchisio zu dieser Zeit war. Luca Sossella kümmerte sich um die Kommunikation und die Grafik, und Alberto Castelvecchi veröffentlichte den Tagungsband.

Es war die erste öffentliche Konferenz, auf der über das Internet gesprochen wurde, und ich muss lächeln, wenn ich daran denke. Um mit den Leuten in Kontakt zu bleiben, die wir zu der Konferenz einladen wollten – Pierre Levy, Alberto Abruzzese, Derrick De Kerkhove, Kim Veltman und andere, an die ich mich nicht mehr erinnern kann -, benutzten wir eine alte Technik: Wir schrieben Briefe mit einer alten Remington, steckten die Briefe in weiße Umschläge, schrieben die Adresse auf den Umschlag, klebten Briefmarken auf und brachten das Bündel Briefe zum zentralen Postamt, das sich in Piazza Minghetti befindet.

Erst am Ende desselben Jahres, im November 1994, erhielt ich meine erste E-Mail-Adresse. Im Jahr zuvor war Mutazione e cyberpunk erschienen. Es wurde von Costa e Nolan veröffentlicht, einem Verlag in Genua, der sehr elegante Bücher herstellt. Dieses Buch war eine Synthese der literarischen und philosophischen Entdeckungen des vorangegangenen Jahrzehnts, aber auch mein persönlicher und politischer Einstieg in die Ära, die sich abzeichnete, seit das Wort „Internet“ in Umlauf war.

Infosphäre, psychochemische Psychosphäre, Cyberspace und Cyberzeit, Technomaya, cosmovisione barocca: Ich hatte diese Worte in der Luft, die ich atmete, aufgesogen und versuchte, sie in Analysewerkzeuge zu übersetzen.

Wir kartografierten kommende Landstriche, zeichneten Karten der Zeit am Horizont.

Im Jahr 1989, nach der erschreckenden chinesischen Unterdrückung im Juni, ging ich für eine Weile nach Kalifornien, um einen Freund zu besuchen, der in Berkeley lebte. Dort wurde viel über Cyberpunk und die virtuelle Realität gesprochen. Eine Art neue subkulturelle Welle, die zugleich unschuldig und desillusioniert, psychedelisch und telematisch war.

Ich las Mirrorshades. [online lesen, d.Ü.) Am Ende des Sommers verbrachte ich ein paar Tage in Berlin, wo die Mauer noch nicht gefallen war. Tian’anmen schien mir einen bevorstehenden Kataklysmus anzukündigen. In China hatte sich das Regime neu formiert, weil Deng Hsiao Ping bereits über eine nationalkommunistische Struktur (im Sinne einer nationalistischen Militärdiktatur, die von einer Parteibürokratie geführt wird) verfügte, die sich in Russland und den anderen östlichen Ländern erst jetzt aufzubauen begann. Die Cyberpunk-Symbolik hatte sich in meinem Kopf mit dem politischen Zusammenbruch des realen Sozialismus vermischt.

Der historische Prozess schien mir an einem doppelten Wendepunkt angelangt zu sein: Einerseits hatte die Bewegung gegen die industrielle Arbeit im Westen die Bedingungen für den allmählichen Ausstieg aus dem stählernen Zeitalter der Industrie und der materiellen Arbeit determiniert. Andererseits hatte der reale Sozialismus durch autoritären Zwang die Bedingungen für die Industrialisierung geschaffen und damit die soziale Dynamik, die sich im Westen stattdessen voll entwickelt hatte, lahmgelegt.

Die chinesische Studentenrevolte stand unter dem Motto der Demokratie, aber die Werte der politischen Demokratie schienen nicht von der Teilhabe am weltweiten Waren- und Informationskreislauf, von der Teilhabe am globalen System, dessen treibende Kraft der Westen ist, trennbar zu sein. Die Macht der westlichen Welt liegt in ihren Bildern, deren Verführungskraft ungebrochen ist.

Der Modernisierungsprozess, die beginnende Öffnung Chinas gegenüber dem Westen, hat der Jugend dieses Landes den Blick auf eine Erfahrungswelt eröffnet, von der sie nicht ausgeschlossen sein will. Die Schlacht in Peking war der Zusammenstoß zwischen dem autoritären Staat und dem planetarischen Kommunikationssystem.

Alles, was in den folgenden Monaten geschah, scheint mir eine Bestätigung dieser Tendenz gewesen zu sein. China und Kalifornien, Nationalkommunismus und Cyberpunk waren divergierende, aber miteinander verbundene Szenarien. Wie das?

Der politische Totalitarismus zerfiel, und die Herrschaft über den psychischen und kognitiven Apparat der Menschheit begann Gestalt anzunehmen: Das Reich des Bösen brach zusammen, das Reich des Schlimmsten begann Wurzeln zu schlagen. Dann kam der Herbst ’89 und die Illusion einer Ära des Friedens. Die Illusion währte nur kurz. Golfkrieg, eurasischer Bürgerkrieg in der postkommunistischen Welt. Migrationsdruck aus Afrika und dem Osten in Richtung Westeuropa; das Wiederaufleben ‘regionalistischer’ Gefühle mit rassistischen und nationalsozialistischen Untertönen im tiefen Europa, in Italien, in Frankreich und beängstigenderweise auch in Deutschland.

Der Entwurf einer neuen planetarischen Ordnung scheint am Horizont zu verschwinden.

Und weiter: Damit das höllische Paradies der netzartigen Technologien den Planeten einhüllen kann, muss eine dunkle Passage aggressiver Nationalismen und Archaismen, die mit hochmodernen Waffen bewaffnet sind, überwunden werden.

Die beiden Szenarien müssen zusammen und getrennt voneinander gedacht werden, denn sie sind begrifflich verschieden, aber in der Geschichte bedingen sie sich gegenseitig. Bevor eine neue homologisierte Ordnung errichtet werden kann, muss eine dunkle Periode verzweifelter Identitäten durchlaufen werden, die sich an blutige Wurzeln, an wahnsinnige Mythologien klammern. Es muss eine Ethik ausgearbeitet werden, die diesem Übergang angemessen ist. Es muss eine Politik der Mutation ausgearbeitet werden.

In diesen Jahren erschien ein Bericht über die nahe Zukunft des Planeten (2100 Recit du prochain siècle), der von Thierry Gaudin, dem Präsidenten der Pariser Gruppe für Forschung und technologischen Austausch, herausgegeben wurde. Das von Gaudin skizzierte Szenario ist beeindruckend. Die Explosion der Fundamentalismen und die wieder aufkeimende Aussicht auf Krieg. Informationsüberflutung und Rückzug der Stämme.

Die Überdosis an Informationen wird schwerwiegende Folgen haben. Der Mensch reagiert wie ein Tier, das in einem Zoo eingesperrt ist. Aus ihrer natürlichen Umgebung gerissen, sind gefangene Tiere Reizen ausgesetzt, die sie psychisch angreifen. Manche reagieren darauf mit Bulimie und Fettleibigkeit. Der moderne Mensch, gestresst durch das Stadtleben, tut dasselbe. Andere Tiere sind unkonzentriert. Sie legen sich zum Schlafen auf den Boden. Der Mensch kann dank seiner zerebralen Gaben geistig entkommen. Auf Überinformation reagiert er mit Zappen. Er praktiziert eine Präsenz-Absenz, die Kunst, da zu sein, indem er woanders ist. Die überinformierte Gesellschaft geht vom Tun zum Vortäuschen des Tuns über. Manager, die durch das Übermaß an Daten verwirrt sind, geben vor zu führen, Forscher geben vor zu suchen, Lehrer, die sich in Datenbanken verirrt haben, geben vor zu lehren, religiöse Menschen geben vor zu beten und Wirtschaftswissenschaftler geben vor zu verstehen.

Dem Bericht von Gaudin zufolge wird der Mensch zwischen 1990 und 2020 den von ihm erfundenen Techniken nicht gewachsen sein. Unfähig, seine Informationen auszuwählen, unfähig, Entscheidungen zu treffen, auf rationale Entscheidungen zu setzen.

Der kulturelle Nebel, den wir New Age nennen, verlagert den Schwerpunkt von der Politik auf den Bereich der Technologie und der Umwelt. Der Bericht von Thierry Gaudin verkündet die unausweichliche Auflösung des Nationalstaates. Die moderne Form der Politik, die zentralisierte staatliche Organisation und selbst Formen der partizipativen Demokratie sind dazu bestimmt, zu leeren Hüllen zu werden. Thierry Gaudin argumentiert, dass die Nationalstaaten zugunsten internationaler Dienstleistungsstrukturen verschwinden: Militärdienst, medizinischer Dienst, Lebensmittelversorgung und so weiter.

Bis zum Jahr 2100“, schreibt Gaudin im Bericht der Gruppe für Forschung und Technologieaustausch, “wird es zwölf Milliarden Individuen geben, was etwa der Anzahl der Neuronen in einem menschlichen Gehirn entspricht. Milliarden von Verbindungen werden über den ganzen Planeten aufgebaut werden, über das telematische Netz von Telefonen, Mobiltelefonen und Mehrfachbildschirmen, als Netze von Neuronen, die ihre Dendriten, das Universum, die Anderen, während der Zeit, in der sich das Gehirn bildet, vorantreiben. Denn dieser neuro-mimetische Planet wird der Beginn eines gewaltigen Lernprozesses sein. Man lernt zu tun, indem man tut, und die Informationszirkulation wird durch Versuch und Irrtum Gestalt annehmen und sich allmählich als eine endgültige Form der Realität etablieren.

Das Problem der Prognose und der politischen Entscheidungsfindung ändert sich in seiner Natur völlig. Wenn wir die planetarische Menschheit in neuro-telematischen Begriffen beschreiben, scheinen sich unvorhersehbare Möglichkeiten der Verbindung zu ergeben. Wie kann eine Funktion zur Steuerung des Ganzen etabliert werden?

In einer Population von Neuronen gibt es kein einziges, das über die anderen befiehlt, und dennoch funktioniert das Gehirn. Das hierarchische Prinzip funktioniert in einem mechanischen, sequentiellen und entscheidungsfähigen System. In einem System, in dem der Informationsaustausch nicht mehr sequentiell abläuft, in dem jeder Informationsfluss reproduzierbar, überlappend und zufällig ist, scheint mir jede Möglichkeit des Regierens zur Auflösung zu neigen.

Im Geiste des New Age gibt es zwei Vorstellungen von der zukünftigen Welt, zwei Perspektiven. Die erste Perspektive ist von ökologischem Katastrophismus geprägt: das Bewusstsein für die Ausbreitung degenerativer Prozesse, die die natürliche Ökosphäre und die geistige Ökosphäre betreffen. Die zweite Perspektive ist von paradigmatischem Optimismus geprägt, dem Glauben, dass die mentalen und sozialen Bedingungen für ein glückliches Segeln auf den Wellen des neurotelematischen Ozeans geschaffen werden. Diese beiden Vorstellungen drehen sich um den Begriff eines neuen Paradigmas.

Doch zu Beginn der 90er Jahre macht uns die historische Vergangenheit – die sozialen und kulturellen Rückstände, die immense Anhäufung ideologischer, imaginärer und wirtschaftlicher Trümmer, die die moderne Geschichte mit sich gebracht hat – unerwartet einen Strich durch die Rechnung.

Wir stehen am Anfang einer dunklen Zeit.

Wie überstehen wir sie, ohne uns selbst auszulöschen, ohne unter der Erpressung von Not, Angst, Schuld und Identität einzuknicken? Wie bleiben wir Nomaden in einer Welt der Serben und Kroaten?

Erschienen im Januar 2025 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. 

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KonjunkTION und Revolution

Giorgio Agamben

Man sollte nicht müde werden, darüber nachzudenken, dass einer der Schlüsselbegriffe unseres politischen Vokabulars –  rivoluzione – aus der Astronomie stammt, wo er die Bewegung eines Planeten auf seiner Umlaufbahn bezeichnet. Aber auch ein anderer Begriff, der in der allgemeinen, für unsere Zeit charakteristischen Tendenz, die politischen durch wirtschaftliche Kategorien zu ersetzen, an die Stelle der Revolution getreten ist, stammt aus dem astronomischen Lexikon. Es handelt sich um den Begriff „Konjunktur“, auf den Davide Stimilli in einer beispielhaften Studie aufmerksam gemacht hat.

Dieser Begriff, der „die Phase des Wirtschaftszyklus, die die Wirtschaftstätigkeit in einem bestimmten kurzen Zeitraum durchläuft“, bezeichnet, ist eigentlich eine Abwandlung des Begriffs „Konjunktion“, der das Zusammentreffen der Position mehrerer Sterne zu einem bestimmten Zeitpunkt bedeutet.

Stimilli zitiert die Passage aus Warburgs Aufsatz „Die alte heidnische Weissagung in Texten und Bildern der Lutherzeit“, in der Konjunktion und Revolution einander gegenübergestellt werden: „Nur innerhalb großer Zeiträume, die Revolutionen genannt werden, waren solche Konjunktionen zu erwarten. In einem sorgfältig ausgeklügelten System wurden große und größte Konjunktionen unterschieden; letztere waren die gefährlichsten, weil sie durch das Zusammentreffen der übergeordneten Planeten Saturn, Jupiter und Mars bedingt waren. Je mehr Konjunktionen zusammentrafen, desto erschreckender erschien die Tatsache, dass der Planet mit dem günstigsten Charakter den schlimmsten Einfluss haben konnte“. Und es ist bezeichnend, dass gerade ein Revolutionär wie Auguste Blanqui, der in seinen Erwartungen enttäuscht wurde, am Ende seines Lebens die Geschichte der Menschheit als etwas begreifen konnte, das sich, wie die Bewegung der Sterne, unendlich wiederholt und ewig die gleichen Darstellungen rezitiert.

Was sich heute vor unseren Augen abspielt, ist ein solches Phänomen, bei dem eine wirtschaftliche Konjunktur, die ihrem Wesen nach kontingent und willkürlich ist, versucht, ihre furchteinflößende Herrschaft über das gesamte gesellschaftliche Leben zu erlangen. Wir täten also gut daran, die Verbindung zwischen der Politik und den Sternen vorbehaltlos aufzugeben und in allen Bereichen das Band zu durchtrennen, das das astronomische Schicksal und die Revolution, die Notwendigkeit und die wirtschaftliche Konjunktur, die Naturwissenschaften und die Politik miteinander verbinden soll. Die Politik ist weder den himmlischen Sphären noch den Gesetzen der Wirtschaft eingeschrieben: Sie liegt in unseren schwachen Händen und in der Klarheit, mit der wir jeden Anspruch zurückweisen, diese in Konjunkturen und Revolutionen zu fesseln.

15. Januar 2025

Übertragen aus dem italienischen Original von Bonustracks. 

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