Leben und Tod von Raffaele Fiore – Als die Arbeiterklasse in die Via Fani zog

Das letzte Mal, dass ich Raffaele Fiore live sprechen hörte, war 2023 in der Ex Snia Viscosa in Rom, wo die neue Ausgabe von Un contadino nella metropoli (Ein Bauer in der Großstadt), die Autobiografie von Prospero Gallinari, vorgestellt wurde. Der junge ehemalige Arbeiter der Breda-Schmiede in Sesto San Giovanni, der später einer der Anführer der Turiner Kolonne wurde und am 16. März 1978, im Alter von nur 24 Jahren, als Alitalia-Steward verkleidet, am Überfall auf den Konvoi teilnahm, der Aldo Moro transportierte, und mit seinen kräftigen Händen und seinen höflichen Manieren „Kommen Sie mit uns, Herr Präsident”, den höchsten Vertreter der Democrazia Cristiana aus dem Fiat 130 des Staates holte, erzählte – wie schon andere Male zuvor – von dem Moment, als er zum ersten Mal die Fabrik betrat. Die Stille wurde plötzlich durch den Klang einer Sirene unterbrochen, die die Luft zerriss und den teuflischen Lärm imposanter Maschinen auslöste: “riesige Drehmaschinen und Fräsen, NC-gesteuerte Maschinen, Hämmer, die lautstark auf den glühenden Stahl schlugen und den Boden zum Beben brachten, Öfen, die Stahlguss ausspuckten, eine militärisch organisierte Produktion“ und ringsum „Arbeiter, die seit über dreißig Jahren an derselben Maschine arbeiteten und pathologisch in ihre Arbeit und ihre Entfremdung verliebt waren, Arbeiter, die Weinkrüge leerten, um den Dämpfen der Güsse zu widerstehen, ähnlich wie Soldaten an der Front, die sich bewusst waren, dass sie Kanonenfutter waren, und ihren Verstand trübten, um ins Martyrium zu gehen, Arbeiter mit schlechtem Gehör, die die Hämmer im Kopf hatten wie die Ultras den Ball“ (1).

„An diesem Tag“, erzählte er, als wäre er noch immer vom Lärm der Fabrik umgeben, „wurde mir klar, dass ich mein Leben niemals dort verbringen würde.“

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Mexiko und Wolken

Cesare Battisti

Las leyes son para que las cumplan

los pobres.

Las leyes son hechas por los ricos

para poner un poco de orden a la explotación.

Los pobres son los únicos cumplidores de leyes de la historia.

Cuando los pobres hagan las leyes

ya no habrá ricos.

Die Gesetze sind dazu da, dass sie

die Armen befolgen.

Die Gesetze werden von den Reichen gemacht,

um ein wenig Ordnung in die Ausbeutung zu bringen.

Die Armen sind die einzigen Gesetzestreuen in der Geschichte.

Wenn die Armen die Gesetze machen,

wird es keine Reichen mehr geben.

Roque Dalton

Eine weitere (sinngemäße) Übersetzung eines Textes von Cesare Battisti, ein kleiner Auszug aus einer Biografie, an der er gerade arbeitet, so gut es eben geht hinter diesen Mauern, in die sie ihn gezwängt haben für das Rest seines Lebens. Etliche weitere Übersetzungen von Texten von Cesare finden sich auf Bonustracks und im Archiv der Sunzi Bingfa. Hoffen wir, dass ihn ein Zufall, eine Laune der Geschichte oder was auch immer rettet, ihm noch ein paar Jahre in Freiheit mit seinen geliebten Menschen schenkt. Es ist überall die gleiche Frage an uns alle, die gleiche Frage, die sich schon seit Jahrzehnten an uns stellt – wer wir sind, was uns als Menschen und Rebellen ausmacht –  manifestiert sich unweigerlich in unserem Verhältnis zu den Menschen, die aus den verschiedenen Epochen der Revolten und revolutionären Aufbrüche in die Hände unserer Gegner gefallen sind. Dieser Text wurde am 5. August 2025 auf Carmilla Online veröffentlicht.

Bonustracks

An die Mutter meiner Töchter, ein Auszug aus einer Biografie

Auch heute Morgen regnet es auf das Gefängnis von Massa. Ein kalter, klebriger Nieselregen, der seit zwei Monaten darauf aus ist, das ohnehin schon eintönige Leben eines Gefangenen noch grauer zu machen, wenn das überhaupt möglich ist. Ich suche jenseits der Gitterstäbe nach einem Lichtblick, einem Hauch von grauer Hoffnung, der mir hilft, wieder Gefühl zu finden, die richtigen Worte, um den hartnäckig weißen Bildschirm meines PCs mit Erinnerungen zu füllen. Nachdem ich bis hierher die turbulentesten Jahreszeiten meines Lebens Revue passieren lassen und auf jeder Seite um Rat und ein wenig Verständnis gebeten hatte, hatte ich mir vorgemacht, dass es einfacher sein würde, den Teil über die lange Zeit des Exils als Flüchtling anzugehen, in der ich mir eine menschliche Dimension, eine Nische als erwachsener und verantwortungsbewusster Mensch geschaffen hatte.

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Zurück zu den Büchern, zurück zu den Ideen

Anarchist Libraries Network

Der Geist trinkt immer weniger. Ungeduld. Autobahnen voller Menschen, die irgendwohin fahren, irgendwohin, irgendwohin, nirgendwohin. Der Benzinflüchtling. Städte verwandeln sich in Motels, Menschen ziehen nomadisch von Ort zu Ort, folgen den Mondgezeiten, leben heute Nacht in dem Zimmer, in dem Sie heute Mittag geschlafen haben und ich letzte Nacht.

Ray Bradbury – Fahrenheit 451  

Zurück zu den Wurzeln, zurück zur materiellen Solidität. Zu echten Diskussionen, physischen Räumen der Auseinandersetzung vor der Connection. Angesichts einer Realität, die zwischen unseren Fingern zerbröselt, mit der Erinnerung daran, was anarchistisches Denken einmal war – und nun angesichts des doppelten Diskurses der Medien und der süßen Zwänge neuer Kommunikationskanäle verblasst — bleibt uns nur die Wahl, die widersprüchliche Beziehung zwischen dem, was diese Welt uns auferlegt — Digitalisierung und Entmaterialisierung von Beziehungen — und dem, was wir in unseren Herzen tragen und nicht aufgeben wollen — Ablehnung des Consensus und Liebe zu einzigartigen, sinnlichen Begegnungen zwischen Individuen, die gegen diese bestehende Ordnung kämpfen — zu überdenken.

Warum noch in eine anarchistische Bibliothek gehen? Warum Stunden und Tage seines Lebens opfern, um eine Tür für zufällige Begegnungen offen zu halten, anstatt sich in die ewige, mühelose Verfügbarkeit einer Website zurückzuziehen? Weil es da noch etwas anderes gibt.

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Zur Identität

Giorgio Agamben

Kojève hat einmal in Form einer Mahnung eine Kritik an der Identität geäußert, über die man nachdenken sollte: „Sei das, was du niemals werden kannst.“ Der Fehler derer, die nach einer Identität suchen, besteht darin, dass sie das werden wollen, was sie bereits sind. Das, was wir einfach sind, ist keine Identität, sondern eine immerwährende Erfahrung, die uns ständig zwischen den Fingern zerrinnt und die wir deshalb niemals werden können. Und doch schreibt uns die Gesellschaft, in der wir leben, eine Identität zu, die wir mehr oder weniger überzeugt übernehmen. Diese Identität ist – das wissen wir eigentlich ganz genau – zwangsläufig unecht, und wer wirklich das werden will, was er ist, läuft Gefahr – wie es Nietzsche passiert ist und wie es, wenn auch weniger offensichtlich, fast allen passiert –, dem Wahnsinn zu verfallen. Weise, d. h. ohne Identität, ist derjenige, der immer ist, ohne jemals zu werden: Aber genau das betrachten die sogenannten zivilisierten Gesellschaften heute als fremd und drängen es an den Rand, wenn sie nicht sogar versuchen, es schlicht und einfach zu beseitigen.

Erschienen am 24. Juli 2025 im italienischen Original, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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Aber warum sind nach dem G8-Gipfel in Genua, Carlo Giuliani, Diaz und Bolzaneto DIE LINKEN ZU RECHTEN geworden (und umgekehrt)?

Leonardo Caffo

Genua 2001: Traum, Albtraum oder Wendepunkt? Seit diesem G8-Gipfel, inmitten von Rauch, Blut und Idealen, Carlo Giuliani, Diaz und Bolzaneto, ist etwas zerbrochen. Die Linke ist zur Rechten geworden und andersherum. Aber was bleibt heute von diesem Aufschrei? Und wer hat wirklich das Erbe der Anti-Globalisierungsbewegung angetreten? Vielleicht niemand: Deshalb braucht es Anarchie (was wohlgemerkt nicht Chaos bedeutet).

24 Jahre sind seit dem Juli 2001 vergangen, als Genua zum Schauplatz eines epochalen Zusammenstoßes wurde, nicht nur zwischen Demonstranten und Ordnungshütern, sondern zwischen Weltanschauungen, Hoffnungen auf Veränderung und einem globalen System, das sich unter dem Banner des Neoliberalismus konsolidierte. Der G8-Gipfel in Genua war nicht nur ein historisches Ereignis, sondern auch eine Bruchstelle, ein Moment, in dem die Moderne, verstanden als Glaube an den linearen Fortschritt und an Institutionen, die dem Gemeinwohl dienen, ihre unwiderruflichen Brüche aufzeigte.

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Ereignis und Struktur bei Marx – Anmerkungen zu ‘Bürgerkrieg in Frankreich’ [2021]

Franco ‘Bifo’ Berardi 

Marx hat nicht viel über Revolution gesprochen. Der Begriff der Revolution wird in seinen Werken nicht besonders ausgearbeitet. Ich wage zu behaupten, dass die Revolution für ihn nicht einmal ein Begriff ist: Sie ist ein Ereignis, das sich kaum strukturell fassen lässt.

Marx spricht von Revolution im Kommunistischen Manifest von 1848 und in Der Bürgerkrieg in Frankreich. Obwohl das Manifest bekannter ist, sind die anderen Schriften wegen des reifen Urteils über die Entwicklung der politischen Stärke der Arbeiterklasse von Bedeutung.

Obwohl seine früheren Werke weithin bekannt waren und sein Name von den Aufständischen der Kommune respektiert wurde, hatte Marx keinen direkten Einfluss auf die Ereignisse von 1871. Die Verschwörungstheorien von Blanqui und die anarchistischen Utopien von Proudhon waren in der politischen Bildung der Kommunarden weitaus stärker vertreten. Aber das ist für Marx von geringer Bedeutung: Er weiß, dass der Klassenkampf eher ein spontanes Werden als ein bewusst gesteuerter Prozess ist, und er weiß, dass die mögliche Emanzipation der menschlichen Epoche von den Fesseln der Lohnarbeit nicht nur von der strukturellen Dynamik des sozialen Konflikts abhängt, sondern auch vom unvorhersehbaren Aufkommen der Ereignisse.

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Im Schatten von Krieg und Unterdrückung: Eine Botschaft aus dem Ghartschak-Gefängnis (Iran)

Golrokh Iraee, Reihaneh Ansari und Verisheh Moradi 


Wir glauben nicht, dass unser heutiges Leiden größer ist als das, was dem iranischen Volk auferlegt wurde. Am Montag, den 23. Juni, während über dreitausend Menschen hinter verschlossenen Türen in verschiedenen Abteilungen des Evin-Gefängnisses eingesperrt waren, schlugen israelische Raketen auf dem Gefängnisgelände und seine Gebäude ein. Abgesehen von den Opfern gibt es noch immer keine Nachrichten über einige Häftlinge, die in Einzelhaft gehalten werden. Am Dienstagmorgen wurden Frauen aus dem Evin-Gefängnis unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in die Gefängnisse Ghartschak und Varamin verlegt, und etwa dreitausend Männer aus dem Evin-Gefängnis wurden ebenfalls verlegt und in das Fashafuyeh-Gefängnis gebracht. Obwohl wir uns unter schlechteren Bedingungen befinden als vor unserer Verlegung, erklären wir gemeinsam mit unseren Genossen und Brüdern im  Fashafuyeh-Gefängnis, die zur gleichen Zeit wie wir angegriffen und unter Druck gesetzt wurden, dass die derzeitige Situation unseren Kampf nicht verhindern wird. Denn wir wissen, dass dieser Weg nie frei von Entbehrungen gewesen ist.

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Der Krieg der Vergangenheit und der Krieg der Zukunft

Inmitten der schrecklichen Dauerschleife der moralischen Empörung, zu der die Restlinke angesichts der Entwicklungen im Nahen Osten nur noch in der Lage ist, eine Moral, die entwaffnet, weil sich aus ihr keinerlei Gegenmacht konstituiert oder konstituieren kann, weil ihr jegliche Befähigung zur analytischen Durchdringung abhanden gekommen ist und die sich im Nebel simplifizierender “Freund-Feind”-Schemata hoffnungslos verirrt hat, einige erfrischend materialistischen Ausführungen der italienischen Genossen von QuinternaLab. Auch die Ausführungen zum “Wargame” und dem “Krieg der Zukunft“, der “ein Krieg der Maschinen, der Signale und der Daten” sein wird, ist eine Analyse auf der “Höhe der Zeit”. 2024 war die Bundeswehr mit einem großem Stand auf der Gamescom präsent, im Dezember 2024 führte das Zentrum Seetaktik Marine in Bremerhaven ein “Wargaming” durch, um militärische Operationen in der Ostsee zu simulieren, um nur 2 Beispiele zu nennen. Es muss sich angesichts der allgegenwärtigen Tendenz zum Krieg auf das Dringendste die Befähigung komplexe gesellschaftliche, politische, ökonomische und militärische Zusammenhänge zu durchdringen, wieder angeeignet werden. 

Bonustracks

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Der jüngste US-geführte Angriff auf den Iran war das Hauptthema der Telefonkonferenz am Dienstagabend.

Die Bombardierung durch US-Militärs mit B-2-Flugzeugen hatte zum Ziel, iranische Urananreicherungsanlagen unschädlich zu machen. Nach Beendigung der Militäroperationen verhängten die USA einen Waffenstillstand zwischen dem Iran und Israel. Die Befürchtung, dass Israel, das sich seit fast zwei Jahren im Krieg befindet und dessen Bevölkerung für längere Auseinandersetzungen relativ zu klein ist, sich in einer neuen Front verzetteln könnte, veranlasste die Amerikaner zum Eingreifen.

Wenn die politische Wirtschaft im Chaos versinkt, reproduziert und verstärkt der Krieg diese Situation. Es gibt mehrere „Erklärungsebenen“ für das, was in der Welt geschieht, angefangen bei der wirtschaftlichen, nämlich dass die Mechanismen der Kapitalakkumulation ins Stocken geraten sind. Der Konflikt zwischen Israel und dem Iran weist Ähnlichkeiten mit dem zwischen der Ukraine und Russland auf: In beiden Fällen wird eine direkte Beteiligung der USA an dem Konflikt (Ukraine und Israel) angestrebt.

Auf die US-Intervention, vor der der Feind wahrscheinlich gewarnt wurde, folgte der iranische Angriff auf die amerikanischen Stützpunkte in Katar (der ebenfalls über diplomatische Kanäle angekündigt wurde). Alle verkünden den Sieg: Die Israelis behaupten, das iranische Atomprogramm vernichtet und den Ayatollahs eine Lektion erteilt zu haben; die Amerikaner behaupten, die iranischen Nuklearkapazitäten pulverisiert und den Frieden wiederhergestellt zu haben; die Iraner freuen sich, dass es ihnen gelungen ist, mehrmals israelisches Gebiet zu treffen. Offensichtlich hat niemand eine langfristige Strategie, jeder muss sich mit widersprüchlichen internen und externen Interessen auseinandersetzen. Im Hintergrund verpufft die amerikanische Abschreckung, d.h. die Fähigkeit, den Feind zu terrorisieren, in Rauch.

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Hobbes in Seoul

Gigi Roggero

Es ist kein Zufall, dass Südkorea der Schauplatz von Squid Game ist, einer Fernsehserie, die keiner Einführung bedarf. Als Vorposten des Westens, der technologischen Beschleunigung und des Turbokapitalismus steht das Land in Sachen Verschuldung und Selbstmord ganz oben. Und gerade die Verschuldeten sind die Protagonisten, die wie in einem unverhüllten Naturzustand kindische Spiele spielen müssen, um zu überleben und ihren Gläubigern zu entkommen. Gigi Roggero bietet uns weniger eine Rezension als vielmehr eine Reflexion darüber, warum Squid Game über uns, mit uns und durch uns spricht.

Machina

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Wer weiß, ob sich der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol am späten Abend des 3. Dezember bei der Verhängung des Kriegsrechts von Squid Game, einer der beliebtesten Fernsehserien der Welt, beeinflussen ließ. Für Netflix ist dies ein weiterer Publicity-Gag, der beweist, dass in der heutigen Gesellschaft nicht klar ist, ob die Fiktion die Realität imitiert oder umgekehrt. Nicht, dass Squid Game Werbung gebraucht hätte, und sicherlich ist der groteske Yoon Suk-yeol ein blasses Double für die weitaus ernsthafteren Charaktere von Squid Game.

Denn ob Kriegsrecht oder nicht, es ist kein Zufall, dass Südkorea Schauplatz der Fernsehserie ist. Als Vorposten des Westens, der technologischen Beschleunigung und des Turbokapitalismus belegt das Land die allerersten Plätze in der Rangliste der Verschuldung und der Selbstmorde. Eine wenig beneidenswerte Bilanz, könnte man sagen. Und doch sind Verschuldung und Selbstmorde im Beschleunigungskapitalismus keine Begleiterscheinungen, sondern wesentliche Elemente. Hyperverschuldung und Hyperdepression: Im Spiel des Kapitals bleibt keine Zeit, auf die Besiegten, die Verlierer zu warten. “Abfall“, wie sie im Squid Game genannt werden. Deshalb haben wir es hier mit einer schrecklichen und deshalb äußerst realistischen Fernsehserie zu tun. Es geht nicht um Dystopien oder Utopien, um Pessimismus oder Optimismus. Squid Game ist Phantarealismus, in bester Tradition von Dick bis Ballard über Cyberpunk.

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Gegen die Symmetrie in Konflikten

Ian Alan Paul

Zum Sturz der Macht gehören heute zwei sich ergänzende Formen. Die erste vervielfacht die Chancen zu kämpfen, indem sie immer mehr Menschen in einen Kampf einlädt, der an immer mehr Orten ausgetragen wird. Die zweite vervielfacht die Möglichkeiten zu desertieren, indem sie immer mehr Menschen, die mit der Macht liiert sind, dazu einlädt, diese abzustreifen. Bei beiden Formen geht es letztlich darum, symmetrische Konflikte mit der Macht zu vermeiden, eine Symmetrie, die in unserer Welt gleichbedeutend mit einer vernichtenden Niederlage ist.

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